Wearing the Cape – Das Rollenspiel

„Wearing the Cape“ ist eine Jugendroman-Reihe um Superhelden in einer Welt, die nachhaltig durch das Auftauchen von Superkräften verändert wurde. Der Autor Marion G. Harmon hat ein Rollenspiel auf „Fate“-Basis dafür entworfen. Kann ein Romanautor, der das letzte Mal in seiner Jugend ein Rollenspiel gespielt hat, ein solches entwerfen? Ja, das kann er.

von Amel

Er hat es natürlich nicht allein getan. Im Vorwort erklärt Harmon, dass er sich nicht als Spieledesigner sieht und ohne Hilfe vermutlich gescheitert wäre. Mich persönlich würde interessieren, wie viel des Designs von ihm ist und wie viel ihm vorgegeben wurde. Am Ende spielt das keine Rolle, Hauptsache, das Spiel taugt etwas.

Für mich gab es zwei Gründe, um ein Rezi-Exemplar des Spiels zu bitten. Ich war neugierig darauf, wie „Fate“ das Superhelden-Genre umsetzt, und ob die in verschiedenen Roman-Rezensionen so gelobte Welt das erfüllt, was sie verspricht.

Das Buch beginnt mit der Weltbeschreibung. Am Anfang war das „Ereignis“. Die Welt hatte einen 3,2 Sekunden andauernden Blackout. Die Menschen haben eine Gedächtnislücke für diesen Zeitraum. Sie waren praktisch weg. Außerdem war der Strom für diese Zeit ebenfalls weg. Die Auswirkungen waren katastrophal. Flugzeuge fielen vom Himmel, Autos wurden zu mehrere Tonnen schweren Geschossen. Feuer brachen aus, Menschen stürzten, verwundeten sich und starben. In diesem Chaos entdeckten einige Menschen, dass sie plötzlich Kräfte besaßen, die zuvor unvorstellbar gewesen wären. Sie flogen, hoben Panzer mit einer Hand, bewegten sich mit ungeahnter Geschwindigkeit. Diese Menschen taten viel Gutes in der Zeit der Not, retteten Mitmenschen und löschten Brände. Natürlich gab es auch Menschen, die ihre neuen Kräfte für egoistische Zwecke einsetzten. Sie waren die ersten Superschurken.

Diese Welt der erwachten Superhelden wird konsequent, nachvollziehbar und spannend weiterentwickelt. Harmon trifft hier immer wieder ins Schwarze und eröffnet neue Blickwinkel auf altgekannte Geschichten. Die Nationen reagieren unterschiedlich auf die neue Situation. Alle Staaten, die Superhelden internieren oder kontrollieren wollen, bekommen ernsthafte Probleme, als diese sich wehren. Kriege brechen aus. Die USA fügt die „Erwachten“ in die Gesellschaft ein. Es werden Teams gebildet, die als Eingreiftruppen eingesetzt werden. Die Freiheiten der Erwachten werden wenig beschränkt.

In zwei interessant zu lesenden In-Game-Texten (man merkt besonders bei solchen Gelegenheiten, dass Harmon Romanautor ist) und gut aufbereiteten Erklärungen wird die Welt beschrieben. Spannend fand ich zum Beispiel einen Abschnitt, der auf Außerrealitätswelten eingeht und ein klein wenig Quantentheorie mit neuen Ideen kombiniert, um zu erklären, wie Superhelden nach Oz oder andere fiktive Welten reisen können. Mode, Marketing, Gruppierungen, Religion und Professionalität … alle diese Punkte werden knapp behandelt und zeichnen in ihrer Gesamtheit eine Welt, die sich realistisch anfühlt. Neben der Weltbeschreibung widmet sich ein eigenes Kapitel den Sentinels, einer Superheldengruppe, die in Chicago lebt.

Da wir uns in einem „Fate“-Buch befinden, macht die Weltbeschreibung nur einen kleinen Teil der Seitenzahl aus. Schnell geht es los mit Regelerklärungen und Kampagnengestaltung. „Wearing the Cape“ ist ein komplettes Rollenspiel. Die „Fate Core“-Regeln werden nicht benötigt.

Die Regeln sind gut und übersichtlich erklärt. Harmon weist im Vorwort darauf hin, dass man viele der Regeln erst am Spieltisch und nach ein paar Sitzungen Übung verstehen wird. Vorher muss man viel ausprobieren und immer wieder nachlesen und korrigieren. So ist „Fate“. Ich möchte nicht auf die Grundlagen des Spiels eingehen. Es gibt genug Rezensionen des Grundregelwerks, um sich an anderen Stellen ein Bild davon zu machen. Es muss aber klar sein, dass es ein recht abstraktes System ist. Der Lernprozess funktioniert so: Erst muss man sein „normales“ Spiel vergessen und sich in die recht abstrakte Darstellung von „Fate“ einarbeiten. Plötzlich springt man nicht mehr einfach durch ein Feuer, sondern muss den Aspekt „Feuer im Durchgang“ überwinden. Anstatt Lebenspunkte zu verlieren, bekommt man Aspekte, die Verletzungen beschreiben. Erst wenn man diese Abstraktion verinnerlicht hat, kann man sich davon lösen, um sich wieder auf die beschreibenden Inhalte zu konzentrieren. Das Regelwerk verspricht, dass man nie wieder ohne Aspekte (die Grundlage der „Fate“-Denkweise) spielen möchte, wenn man sie erst einmal verinnerlicht hat. Auch wenn ich selbst an diesem Punkt noch nicht angekommen bin, kann ich mir das gut vorstellen. Ich möchte jeden, der an so etwas Spaß haben könnte, ermutigen, es auszuprobieren und nicht beim ersten Scheitern aufzugeben. „Fate“ bietet durch die Aspekte und Abstraktionen eine Fülle an Möglichkeiten, die andere Rollenspiele nicht bieten können.

Die Regelumsetzung des Superheldenthemas ist gut gelungen. Die Regeln sind dabei durchaus komplex. Ich bilde mir ein, klassische Ansätze zu erkennen, die daher rühren könnten, dass Harmon moderne Rollenspielentwicklungen verpasst hat. Neben den üblichen Fertigkeiten gibt es Attribute wie Stärke und Willenkraft. Zusätzlich gibt es Ressourcen wie Reputation und Vermögen, die ebenfalls genau wie Fertigkeiten gehandhabt werden. Man mag die Einführung von Attributen als Rückschritt sehen, genau genommen passt sie aber sehr gut. Wie will man sonst einen superstarken Helden darstellen? Durch die Einteilung der Erwachten in Typen oder Klassen hat man sogar so etwas Ähnliches wie Charakterklassen. Ich vermute, dass die Typen direkt aus den Romanen stammen, aber egal, woher sie kommen, sie geben den Spielern eine übersichtliche Auswahlliste für ihre eigenen Helden. Die Kräfte werden abhängig von der Stärke in A-Klasse bis D-Klasse unterteilt. Auch das ist gut für den Spieltisch.

Ungefähr ein Drittel des Buches wendet sich direkt an den Spielleiter. Erklärungen, wie die Regeln am besten am Spieltisch umgesetzt werden, sind nur ein kleiner Teil davon. Es geht auch um Szenen-, Abenteuer- und Kampagnengestaltung, wie man beschreibt und was es sonst noch zu beachten gibt. Ein langer Anhang mit Formularen, Listen, Tabellen und Zusammenfassungen bilden den Abschluss des Buchs.

Der Band ist ein stabiles Hardcover in DIN-A4 – typisch gute Uhrwerk-Qualität. Die Bebilderung ist im gleichen Stil wie die Romancover. Es sind alles Bilder, die einem Comic entsprungen sein könnten. Wem das Cover des Bandes gefällt, dem gefällt auch der Rest. Nur die etwas zu häufige Wiederverwendung einzelner Figuren stört. Das Bild von Rush, dem Speedster-Typ, wird so häufig verwendet, dass es schon nervt. Die Entscheidung, das Buch größtenteils einspaltig zu gestalten, verstehe ich auch nicht. Es macht die kleinen Textzeilen zu lang, um sie entspannt zu lesen. Abgesehen davon ist das Layout aber gelungen. Es ist hübsch und übersichtlich und durch eine Farbcodierung findet man jedes Kapitel, ohne lange suchen zu müssen.

Fazit: „Wearing the Cape – Das Rollenspiel“ bietet „Fate“-Superhelden in einer realistisch anmutenden, hochinteressanten Welt mit einem verhältnismäßig komplexen, funktionstüchtigen Regelwerk. Das Buch ist hübsch und gut zu lesen. Außerdem gibt es nur sehr wenig Rollenspielmaterial mit Superheldenthema auf Deutsch. Das sind genug Gründe, um es sich einmal anzuschauen.

Wearing the Cape – Das Rollenspiel
Grundregelwerk
Marion G. Harmon
Uhrwerk Verlag 2018
ISBN: 978-3-95867-138-6
270 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 39,95

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