The 7th Continent

Du wachst an einem kargen Strand auf. Möwen kreischen höhnend. Dein Kopf ist wie in Watte, alle Erinnerung getrübt. Du weißt nur noch, dass du von einer Expedition auf dem 7. Kontinent zurückgekehrt warst – und dann verschwanden deine Kameraden und du fühltest dich wirklich seltsam. Lastet ein Fluch auf dir? Du gehst los, denn nur dort draußen findest du Antworten …

von Bernd Perplies

So – oder so ähnlich – beginnt das (empfohlene) erste Abenteuer des Kartenspiels „The 7th Continent“, das den Titel „Die gierige Göttin“ trägt. Die Prämisse, ein wildes, urtümliches Land erforschen zu müssen, das man zuvor schon einmal erforscht hatte, auch wenn man sich aufgrund eines Fluchs nicht mehr daran erinnert, mutet ein wenig verdreht an. Aber es sorgt natürlich auch für Spannung, denn es gehört zur Erzählung des Spiels dazu, dass man auf dem Kontinent immer wieder auf die Spuren der eigenen Vergangenheit stößt. Und sich dabei nach und nach an mehr erinnert.

„The 7th Continent“ wurde von der französischen Spieleschmiede Serious Pulp ersonnen – das sind Ludovic Roudy und Bruno Sautter. Im Oktober 2015 ließen sie ihre Idee auf Kickstarter finanzieren und sammelten bei stolzen 12103 Unterstützern runde 1,2 Millionen ein – alles vor dem Pledge Manager. Im Sommer 2017, ein gutes Dreivierteljahr verspätet, wurden die englischen und französischen Versionen dann ausgeliefert, wenig später ging die zweite große Kampagne um eine dicke Erweiterungsbox an den Start („What Goes Up, Must Come Down“, ausgeliefert im Sommer 2019). Mittlerweile ist sogar ein Spin-Off über Kickstarter finanziert worden („The 7th Citadel“), dessen Kampagne im Oktober 2020 lief. Late Pledges werden aktuell (Stand Februar 2021) noch entgegengenommen.

Aber zurück zum Ursprungsspiel. Das wurde Ende, bis dato nur auf Englisch und Französisch erhältlich, 2020 nun in Kooperation mit Pegasus Spiele auch auf Deutsch übersetzt, kann derzeit aber nur exklusiv im Online Shop von Serious Pulp erworben werden. Der sitzt zwar in Frankreich, aber da die ab 50 Euro kostenfrei versenden, und das Grundspiel 59 Euro kostet, braucht man sich darüber keine großen Gedanken zu machen. Neben der Grundbox kann man in dem Shop drei weitere Flüche für selbiges erwerben, außerdem einiges an Zubehör, wie eine Neopren-Spielmatte, eine „Rucksack-&-Tagebuch“-Mappe (sehr stilvoll) und Premium-Kartenhüllen (schön robust, aber recht pieksig an den Ecken), die einen allerdings nochmal 45 Euro kosten, wenn man alle 849 der Grundbox eintüten will. Manche sagen hier, es genügt, wenn man nur die viel angefassten Aktionskarten in Hüllen packt, das wären 97. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Mischen der Entdeckungskarten und das Einsortieren der Abenteuerkarten (beim „Speichern“ – dazu später mehr) deutlich besser von der Hand gehen, wenn alle Karten „eingehüllt“ sind. Dass die Karten dann nicht mehr in die Spielbox passen, ist dann allerdings ein neues Problem, dem man, wenn man will, mit einer zusätzlichen Aufbewahrungsbox (15 Euro) begegnen kann. Am Ende ist es schlicht eine Frage, wie viel Geld man in den Spielgenuss investieren will. Nötig ist nur die Basisbox, die für viele Stunden Spielspaß (und natürlich auch einigen Frust, typisch für kooperative Spiele) bietet.


    Der Spielaufbau des Szenarios "Die gierige Göttin".

Öffnet man die Box, findet man vor allem ganz, ganz viele Karten vor. Dazu eine 24-seitige Spielanleitung, eine doppelseitige Referenzkarte für den schnellen Überblick der zahlreichen Symbole, ein paar kleine Würfel und Pappmarker samt Plastikständer für die 5 Helden und ihre Lagerfeuer. (Der auf einem Foto abgebildete Aktionskartenhalter aus Pappe, ist nicht (!) dabei. Den habe ich von der Kickstarter-Edition ausgeliehen.) Die Regeln sind leider nicht ganz einsteigerfreundlich verfasst, aber unterm Strich doch einfach genug, dass man recht schnell ins Spiel findet. Selbiges ist im Grunde ein Abenteuerspielbuch, dessen umfangreicher Inhalt in Unmengen an Karten zerlegt wurde. Das Abenteuer „Die gierige Göttin“ etwa beginnt auf Karte 010, von dort zweigen Wege zu Karte 007 und 009 ab, außerdem kann man eine Klippe näher erforschen, was zu Karte 005 führt. Karte 007 etwa bietet dann Handlungsoptionen, die zu den Karten 011 und 018 führen. Und so geht es immer weiter, während man den 7. Kontinent langsam erforscht, bis man den jeweiligen Fluch gebrochen hat, den man zu Spielbeginn – zusammen mit den Charakteren, die man verkörpern will – gewählt hat.

Bevor man neue Orte betreten kann, muss man jeweils sogenannte Entdeckungskarten bewältigen, die Zufallsbegegnungen bieten. Mal stößt man dabei auf fieses Dornengestrüpp, mal wird man von einem Raubtier angegriffen, mal findet man einen Gegenstand, mal scheint einfach nur die Sonne. Viele dieser Karten wollen durch eine Aktion bewältigt werden. Eine Aktion besteht immer aus Kosten und einem Schwierigkeitsgrad, die beide erreicht werden müssen, um die Aktion erfolgreich zu bestehen. Beispielsweise könnte das Erklimmen einer Klippe 1+ Aktionspunkte und 2 Erfolge verlangen. Um die Probe zu bestehen, zieht man nun Karten vom Aktionsstapel (jede Karte entspricht einem Punkt), der zu Beginn 35 allgemeine Karten, 5 Fluchkarten und pro Charakter 5 charakterspezifische Karten umfasst (also beispielsweise in einer 2-Spieler-Partie 50 Karten). Bei einer Aktion, die fixe Kosten vorgibt, etwa 1 oder 3, darf man auch nur exakt so viele Karten ziehen. Bei 1+ oder 3+ darf man nach der Pflichtmenge (1 und 3) noch weiterziehen, um die Chance zu erhöhen, die nötigen Erfolge zu bekommen, die an der Seite der Aktionskarten in Form von Sternen aufgedruckt sind. Hat man die Probe geschafft, geht es positiv weiter, wenn nicht, kann man Gegenstände verlieren, vergiftet, müde, ängstlich oder krank werden – es gibt viele hässliche Folgen!


    Viele (!) Karten wollen erforscht werden ...

Aktionen sind das A und O des ganzen Spiels. Es gibt keine Runden und keine Phasen, sondern man reiht einfach Aktion an Aktion. Bei mehreren Spielern ist immer der dran, der gerade Lust hat oder etwas Sinnvolles tun kann. Auch mehrmals hintereinander. Das erlaubt erfreulich taktisches Spielen. Und was kann man alles anstellen auf dem 7. Kontinent: sich bewegen, schwimmen, suchen, Feuer machen, bauen, schleichen, kämpfen, sich ausruhen, graben, klettern, Musik spielen und beten – und das ist nur ein Teil der Möglichkeiten. Hier verlässt das Spiel die Gefilde der Abenteuerspielbücher und wird deutlich spannender und vielseitiger. Vor allem das Bauen ist wichtig, denn gute Ausrüstung bietet bei Proben Kostenreduktionen und automatische Erfolge. Beides kann Leben retten! Auch hier herrscht begeisternde Fülle vor. Von der Keule, über Schneeschuhe, bis hin zu Tarnkleidung und Speerfallen lässt sich praktisch alles bauen, was das Herz eines echten Robinson Crusoe erfreut. Clevere Naturen kombinieren Ausrüstungsgegenstände gar, um sie besser und haltbarer zu machen. Außerdem baut man sinnvollerweise Dinge dort, wo man die passenden Ressourcen findet. Eine Bogen etwa im Wald, denn dort gibt es möglicherweise Holz und Lianen (in Form kleiner Symbole am unteren Rand der Abenteuerkarten). Und das macht den Bau leichter.

An dieser Stelle noch einmal zurück zum Aktionskartenstapel. Dieser erfüllt zwei Zwecke. Zum einen ist er ein Zähler für die eigenen Lebenspunkte. Jede Aktion kostet sozusagen Kraft und wenn man am Ende seiner Kräfte angelangt ist – und noch ein wenig darüber hinaus – und man dann eine Fluchkarte aufdeckt, wird man dahingerafft. Umso wichtiger ist es, zu essen und zu schlafen, wann immer es das Spiel erlaubt, um Aktionskarten aus dem Ablagestapel zurück in den Aktionskartenstapel mischen zu dürfen. Zum anderen ist der Aktionskartenstapel aber auch die Quelle für Gegenstände und Fähigkeiten, denn nach jeder Probe darf man genau eine Karte der gezogenen behalten und seiner Hand hinzufügen. Dabei kann es sich, wie gesagt, um nützliche Objekte handeln, die allerdings noch gebaut werden müssen, oder um Fähigkeiten, die Proben erleichtern, Karten in den Aktionskartenstapel zurückmischen, Krankheiten heilen etc.


    Unsere Helden sind keine Schönheiten, dafür Veteranen des Wildnislebens.

Das ist es im Großen und Ganzen: erforsche die Wildnis, baue, entdecke, bewältige Begegnungen und versuche irgendwie, den eigenen Fluch zu brechen – was nicht so einfach ist. Das ist „The 7th Continent“. Das alles im wunderschönsten Abenteuer-Setting mit leicht übernatürlichem Einschlag.

Grundsätzlich ist das Spielkonzept einfach fantastisch! Egal ob in der Gruppe oder solo: Es macht einen Heidenspaß, diese Welt zu erforschen, die in jedem zweiten Baum, hinter jedem Busch und in jeder Höhle kleine Abenteuer versteckt. Die Macher haben sich hier ordentlich ausgetobt und bieten enorm viel Abwechslung. Das hat allerdings in zwei Punkten seinen Preis, den man zu zahlen bereit sein muss. Erstens dauert das Spiel sehr lange. Eine Partie kann sich locker über 8 Stunden hinziehen. Das ist nichts für den entspannten monatlichen Spieleabend. Es bietet sich tatsächlich eher für Solo-Player oder eine Gruppe an, die sich ein paar Tage in Folge treffen kann und will (der Familienkreis liegt hier nahe, auch wenn „The 7th Continent“ mit einer Alterseinstufung ab 14 Jahren kein typisches Familienspiel ist).


    Neustart nach einem Speicherstand. Vor dem Entdecken steht die Begegnung.  

Das Spiel sieht hierfür explizit eine Speicheroption vor, wobei man die aktuelle Ortskarte behält und gemeinsam mit der Ausrüstung und dem Aktionskartenstapel sichert. Alle übrigen Begegnungs- und Abenteuerkarten werden in die Box zurücksortiert. So werden auch verbrauchte Nahrungsmittel und Munition zurück in den Kreislauf gebracht, was an sich gut ist. Das heißt in der Regel gleichzeitig, das ein ganzer Abend der Entdeckung futsch ist, denn während man auf entdeckten Karten für kleine Kosten kreuz und quer reisen kann, muss man unentdeckte komplett neu erforschen, Begegnungskarten inklusive. Das ist echt mühsam! Daher sollte man sinnvollerweise immer erst dann speichern, wenn man eine Region des Kontinents verlässt. Es gibt hier ein paar gut erkennbare Punkte, etwa eine Seefahrt zur Nachbarinsel, eine hohe Felsenstufe in der Landschaft oder eine Hängebrücke über eine tiefe Schlucht. Von dort bewegt man sich in der Regel nicht rückwärts, das heißt man kann schmerzfrei alles andere abräumen. Ich sage absichtlich „in der Regel“, denn es kann durchaus passieren, dass man ganz am (vermeintlichen) Schluss eines Abenteuers plötzlich an einem Punkt steht (etwa vor einer Steinstatue) und dann feststellt, dass einem Gegenstände fehlen, die man irgendwo auf der Reise hätte finden müssen. Der Weg zurück ist echt die Pest (und meist der Tod)! In dem Fall bietet es sich an, lieber nochmal anzufangen – und es diesmal besser zu machen.


    Begegnungskarten erschweren die Forschungsreise.

Ein zweiter Haken, der vor allem den Wiederspielwert etwas schmälert, ist die feste Geografie der Insel. Karte 010 führt immer zu 005, 007 und 009. Das ist dem Spielmaterial geschuldet, aber es ergibt natürlich auch Sinn. Warum sollte der Wald, der gestern zu einem Berg führte, beim nächsten Spiel in eine Wüste münden? Da allerdings auch die Mini-Abenteuer, die sich auf den Karten verbergen, immer gleich bleiben, kann hier ein Gefühl von Wiederholung entstehen – eben wie wenn man ein Abenteuerspielbuch mehrmals liest. „The 7th Continent“ ist am besten, wenn man die Welt erstmals erforscht. Weitere Abenteuer brauchen zwangsläufig neue Karten, um spannend zu bleiben. Andererseits schafft man es wirklich selten, im ersten Anlauf alle Abzweigungen und Wege zu gehen, sodass hier eine gewisse Spannung auf beim erneuten Spielen gegeben ist. Außerdem muss man sagen, dass das Problem der Wiederspielbarkeit auf alle Erzählspiele zutrifft. Egal ob ich „Villen des Wahnsinns“ spiele, eine Kampagne in „Descent“ oder eines der „Adventure Games“ von Kosmos – die Story ist beim ersten Mal immer am spannendsten. Insofern ist das kein echter Kritikpunkt an „The 7th Continent“, es ist einfach ein Aspekt, der mit dem Spielkonzept zwangsläufig einhergeht, weil es eine Erzählkomponente hat.


    Ausrüstung lässt sich kombinieren. Das spart Platz und macht sie besser und haltbarer.

Über einen Kritikpunkt bin ich beim Lesen anderer Rezensionen noch gestolpert. So beklagten manche Rezensenten, dass das Spiel eigentlich gemein sei, denn es lasse ihnen nicht genug (Lebens)Zeit, um alle Winkel des Kontinents zu erforschen. Wer wirklich in jede Höhle steigt und hinter jeden Busch schaut, der wird tatsächlich höchstwahrscheinlich sterben, bevor er seinen Fluch gebrochen hat. Man muss also schon ein wenig aufs Ziel fokussiert hin spielen, wenn man ein Abenteuer erfolgreich beenden will. Wobei schwer zu erkennen ist, welche Höhle und welcher Busch jetzt plotrelevant ist und welche nicht. Hier sind die Hinweise des Szenarios meines Erachtens zu vage. Tatsächlich aber hatten die Macher auch mit solchen Spielern ein Einsehen, die lieber herumstromern. Für sie gibt es Karte 777, die das Spielerleben noch einmal deutlich verlängert. Und wer selbst dann mit seinem Aktionskartenhaushalt nicht klarkommt, der muss etwas falsch machen, etwa weil er zu wenig auf Nahrungssuche achtet oder zu wenig Ausrüstung mit ich führt. Beides ist wirklich wichtig!

Zwei kleine Kritikpunkte habe ich noch zum Abschluss. Zum einen sind die Spezialfähigkeiten der Charaktere, die auf die Charakterkarten aufgedruckt sind, eher nutzlos. Sie sind so speziell – und zum Teil auch kostspielig – dass sie kaum zum Tragen kommen und bestenfalls im absoluten Notfall vielleicht hilfreich sind. Es mag zum Setting passen, in dem es nicht Superhelden geht, aber etwas mehr Allgemeinnutzen wäre nett gewesen. Zum zweiten ist die Spielbox einfach zu klein. Ja, natürlich passen alle Karten „nackt“ dort hinein. Aber wenn man sie nun in Hüllen packt – etwas, das im Kartenspiel-Segment für Vielspieler wirklich oft gemacht wird –, dann reicht der Platz nicht mehr. Dann passen nur die Abenteuerkarten in die Box, der Rest bleibt draußen. Warum die Box nicht im Standard-Maß von 30x30 cm angefertigt wurde (dann hätte es wahrscheinlich gepasst), sondern bloß 23x23 cm hat, erschließt sich mir einfach nicht. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Wer alle Karten eintütet, der kauft auch die Zusatz-Flüche – und dann wird eh eine zweite Box fällig.


    Nach einigen Abenteuern auf dem 7. Kontinent sieht das Spielfeld so aus.

Fazit: „The 7th Continent“ macht riesigen Spaß (also, bis man ganz am vermeintlichen Schluss eines Abenteuers plötzlich feststellt, dass einem Gegenstände fehlen, die man irgendwo auf der Reise hätte finden müssen ;-) ). Ich habe lange nicht mehr ein Spiel auf dem Tisch gehabt, dass – egal ob solo oder in der Gruppe – so sehr die Abenteuerlust und den Forscherdrang geweckt hat. Was verbirgt sich in dieser Höhle? Was liegt jenseits von jener Klippe? Und wo kommt an eigentlich hin, wenn man dort in den Ozean watet und zu schwimmen anfängt? Ja, man muss Zeit mitbringen und ein gewisses Geschick im Umgang mit den Widrigkeiten der Wildnis beweisen, um bestehen zu können. Aber wer sich darauf einlässt, der erlebt ein tolles und Abenteuer an einem exotischen Ort. Bis jetzt meine Top-Empfehlung für 2021.

The 7th Continent
Kartenspiel für 1 bis 4 Spieler ab 14 Jahren
Ludovic Roudy, Bruno Sautter
Serious Pulp/Pegasus Spiele 2020
EAN: 3760212170263
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 59,00

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