Schatten einer Stadt

„Wer eine Reise tut, der kann viel erleben!“ So sagt es das Sprichwort, und oft trifft das insbesondere auf „Cthulhu“-Kampagnen zu. Ob im „Orient-Express“, unterwegs zu den „Bergen des Wahnsinns“ oder auf der Jagd nach den „Masken des Nyarlathotep“: Oftmals führen cthuloide Kampagnen rund um den Erdball. „Schatten einer Stadt“ geht andere Wege.

von Jens Krohnen

Die Autoren hinter dem Kampagnenband „Schatten einer Stadt“ stellten sich vielmehr die Frage, wie sich eine „Cthulhu“-Kampagne anfühlen könnte, die in nur einer Stadt – und damit sozusagen vor der Haustür der Investigatoren – abspielt. Durch die enge Bindung der Investigatoren an ihre Umgebung ergeben sich schließlich ganz andere Möglichkeiten des Charakterspiels. Nicht nur gewinnt der Hintergrund der Charaktere deutlich an Bedeutung, sondern auch das Alltagsleben. Wer im Auftrag einer Organisation rund um die Welt reist, muss sich selten Sorgen darum machen, am nächsten Morgen pünktlich um acht im Büro zu sein.

So widmet sich dann auch ein eigenes Kapitel diesen besonderen Herausforderungen und gibt auf einigen Seiten Tipps und Hinweise für die Spielleitung, um den Alltag der Charaktere und die Hintergrundbeziehungen deutlicher ins Spiel zu integrieren. Als Schauplatz ihrer Kampagne wählten die Autoren Stuttgart, eine im Deutschland der 1920er Jahre sehr fortschrittliche Stadt, der dann auch ein umfangreicher Regionalia-Artikel gewidmet ist. Diesen einführenden Kapiteln schließen sich insgesamt vier Szenarien an, die den Kern der Kampagne „Schatten einer Stadt“ bilden.

Das Szenario „Ein leises Säuseln“ übernimmt dabei die Rolle der Exposition und führt die Investigatoren sehr gemächlich in die Handlung ein. Denn es kommt zu seltsamen Phänomenen in Stuttgart. Plötzlich sind Stimmen zu hören, Leute verlieren ihr Gedächtnis und ein befreundeter Physiker misst sehr seltsame elektromagnetische Strahlungen. Das Szenario führt sehr schön in die kommende Thematik ein, lässt sich problemlos in Alltagsszenen integrieren und ist so modular aufgebaut, dass man immer wieder kleine Szenen verwenden kann. Am Ende des Szenarios haben die Investigatoren zumindest das ungute Gefühl, das etwas nicht stimmt und verfügen über ein paar Anknüpfungspunkte, um ihre Recherchen zu vertiefen.

Diesen Anknüpfungspunkten folgen dann auch die beiden nächsten Szenarien, „Anthroposoph“ und „Das Tor zu den Sternen“. Diese sind im Prinzip sogar in der Reihenfolge austauschbar – wobei die präsentierte Reihenfolge zu bevorzugen ist – und führen die Investigatoren schließlich auf die Spur eines Kultes, welcher ein vor Jahrhunderten begonnenes Ritual weiterführen will. Auch diese beiden Szenarien zeichnen sich durch hohe Flexibilität aus und lassen sich auf unterschiedlichste Art lösen. Dazu führen die Szenarien eine Reihe interessanter Charaktere und vor allem glaubwürdig handelnde Kultisten ein, deren Motivation schlussendlich sogar die Investigatoren überzeugen könnte. Abgerundet wird „Schatten einer Stadt“ dann mit dem Szenario „Der Sturm über der Stadt“, dem großen Finale. Der Kult bereitet sein großes Ritual vor, und wieder gibt es angenehm viele Wege zum Ziel, um das Ende der Welt, wie wir sie kennen, doch noch zu verhindern. Insbesondere die verschiedenen Umwelt-Effekte des Rituals – wie das zeitweise Aufheben der Schwerkraft – wissen zu überzeugen und erzeugen eine gehetzte, absolut unwirkliche Atmosphäre.

Während ich es prinzipiell sehr lobenswert finde, dass die Szenarien modular und flexibel aufgebaut sind, so bleiben mir doch einige Aspekte der Kampagne fast zu vage. So findet sich bei einigen Nichtspielercharakteren der Hinweis, dass es sinnvoll sein könne, den NSC bereits früher einzuführen, um ihn mit den Investigatoren bekannt zu machen. Was prinzipiell ein guter Rat ist – nicht zuletzt um die Bindung der Gruppe an die NSC zu erhöhen –, erfordert vom Spielleiter natürlich dann doch noch eine stringentere Planung, als die Autoren ihm eigentlich an die Hand geben wollten. Die hohe Flexibilität geht also mit einiger Vorbereitung für die Spielleitung einher, damit die Kampagne stimmungsvoll und in sich schlüssig verläuft. Die Abenteuer selbst sind mehr als solide. Zwar ist man es als cthuloider Investigator ja gewohnt, gegen Mythos-Kulte vorzugehen, doch „Schatten einer Stadt“ schafft es sowohl mit unterschiedlichen Schauplätzen, interessanten NSC und insbesondere einem tollen Finale den fast schon als typisch zu bezeichnenden Grundplot farbenfroh zu kolorieren.

Ein besonderes Lob geht dieses Mal wieder an die gestaltenden Köpfe hinter dem Band. Nicht nur dass wieder massenweise Handouts in toller Optik vorbereitet wurden. Nein, auch an passendes Kartenmaterial wurde zur Genüge gedacht. Interessant ist auch ein Übersichtsbogen für die Spielleitung, welcher die verschiedenen Kampagnenkomponenten noch einmal darstellt und einen raschen Abgleich mit dem eigenen Fortschritt ermöglicht. Neben zeitgenössischen Fotografien finden sich auch wieder einige Illustrationen in dem Band wieder. Diese sind zwar schlicht, aber ansprechend und liegen damit qualitativ höher als in vielen anderen „Cthulhu“-Bänden der letzten Zeit. Technisch bin ich wirklich rundum zufrieden.

Fazit: „Schatten einer Stadt“ bietet einen typischen „Cthulhu“-Plot in ungewohnter Umgebung und garniert mit einigen tollen Ideen. Sehr flexible Abenteuer ermöglichen eine individuelle Kampagnenplanung, lassen aber auch Arbeit für die geneigte Spielleitung übrig. Insgesamt ein empfehlenswerter Band.

Schatten einer Stadt
Kampagnenband
Marcel Durer, Andreas Osterroth u. a.
Pegasus Press 2021
ISBN: 978-3-96928-033-1
164 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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