Private Eye (4. Auflage)

„Mr. Holmes? Haben Sie die Neuigkeit schon gehört?“ – Pünktlich zur Essener Spielemesse und zum 20-jährigen Jubiläum erscheint die 4. Auflage des Regelwerkes zu dem Detektivrollenspiel „Private Eye“. Ein Grund, sich die Neuauflage und das System einmal näher anzuschauen.

von Morgath

„Private Eye“ ist der englische Ausdruck für Privatdetektiv. Und damit ist über den Inhalt des Systems schon viel gesagt. Die Spieler schlüpfen in die Rollen von Detektiven und müssen meist knifflige Verbrechen auflösen. Zeitlich ist das System im späten 19. Jahrhundert angesiedelt, welches auch als das viktorianische Zeitalter bekannt ist (nach der damaligen englischen Königin Victoria) – der Zeit also, in der die Sherlock-Holmes-Romane spielen. Tatort ist London und Großbritannien, wobei einzelne Abenteuer die Spieler auch auf den Kontinent führen können.

Die Regeln

Die Regeln von „Private Eye“ umfassen nicht einmal 30 Seiten, was schon viel über deren Stellenwert aussagt. Tatsächlich werden sie kaum benötigt, da es spieltechnisch nie auf die Werte der Detektive ankommt, sondern stets auf den Scharfsinn der Spieler. Nur wenn diese die richtigen Fragen stellen, die richtigen Orte oder Personen aufsuchen und die richtigen Schlüsse ziehen, kann der Fall gelöst werden. Die vorhandenen Regeln sind daher nur ein einfaches Gerüst, um den Spielern eine Orientierung zu ermöglichen und die vergangenen Erfolge anhand der Steigerungen nachvollziehen zu können.

Regeltechnisch gibt es sechs Grundeigenschaften und zahlreiche Fertigkeiten, die natürlich stark detektivbezogen sind. Gewürfelt wird mit einem Prozentwürfel, also W100, wodurch die Erfolgschancen gut einzuschätzen sind.

Die Charaktererschaffung ist einfach und beansprucht nur wenig Zeit. Im Wesentlichen werden durch verschiedene Würfe die Punkte ermittelt, die der Spieler auf seine Eigenschaften verteilen kann. Dann wählt der Spieler eine der neun zur Verfügung stehenden Professionen aus. Zur Auswahl stehen beispielsweise der Polizist, der Privatdetektiv oder der Gerichtsmediziner.

Im Vergleich zu den früheren Auflagen sind die Grundzüge der Regeln beibehalten, aber sinnvoll überarbeitet und, soweit erforderlich, ergänzt worden. So ist beispielsweise die umstrittene Eigenschaft „Schönheit“ ersatzlos weggefallen, eine Regel für kritische Erfolge und Misserfolge eingeführt oder der Bekanntheitsgrad eines Detektivs mit dem Wert „Reputation“ festgehalten worden. Neu sind auch die detaillierten Steigerungsmöglichkeiten nach einem absolvierten Abenteuer. Persönlich habe ich die Einführung von Vor- und Nachteilen vermisst, aber dies ist wohl für die 5. Auflage vorbehalten worden.

Ansonsten gibt es wenig zu bemängeln. Durch die Überarbeitung haben die Regeln den letzten Schliff erhalten. Sie sind (immer noch) einfach gehalten und für die den Spielzweck absolut ausreichend.

Der Hintergrund

Der Hintergrund umfasst über 100 Seiten. Hier werden Land und Leute der viktorianischen Ära ausführlich dargestellt. Dabei werden nicht nur Zahlen und Fakten geboten, sondern auch zahlreiche Spieltipps, wie verschiedene Orte oder Persönlichkeiten in das Spiel eingebunden werden können.

Im Vergleich zu der Vorauflage wurden viele Texte überarbeitet und stark erweitert. Neu sind beispielsweise die Ausführungen zur damaligen Mode oder zu Frauen als Spielerfiguren. Insgesamt ein Fundus an Informationen, der mannigfaltige Möglichkeiten bietet, um das viktorianische Zeitalter lebendig und farbenfroh zu präsentieren.

Der Kriminalteil

In dem anschließenden, im Vergleich zu seinem Vorgänger stark erweitert Kapitel über Kriminalität, das nunmehr stolze 60 Seiten einnimmt, erfährt der geneigte Leser alles, was er wissen muss, um erfolgreich im 19. Jahrhundert auf Verbrecherjagd gehen zu können. Dabei werden vor allem die damaligen technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten beleuchtet, die ein viktorianischer Detektiv einsetzen konnte, um den Verbrecher dingfest zu machen. Besonders spannend liest sich die Abhandlung berühmter Kriminalfälle, auch wenn der von den Autoren genannte Hauptverdächtige in den Jack-the-Ripper-Morden mich eher amüsierte.

Das Kapitel bietet einen umfassenden Einblick in die kriminaltechnischen Möglichkeiten der damaligen Zeit, wobei der besondere Reiz darin besteht, dass viele heutzutage selbstverständliche Techniken (etwa die Daktyloskopie – Lehre von den Fingerabdrücken) den Spielerdetektiven verschlossen sind, sodass es im Spiel sich im Wesentlichen auf Intuition, Scharfsinn und Kombinationsgabe der Spieler ankommt.

Abenteuer

Abschließend gibt es noch das 50-seitige Abenteuer „Familienglück“ von Martin Linder, in dem die Detektive die verzwicken menschlichen Beziehungen innerhalb einer Familie aufklären müssen. Evander Dotts, der Inhaber des Pubs „King’s Head“ hat einige gravierende Entscheidungen getroffen, die weit reichende Auswirkungen auf seine Familienmitglieder haben. Da diese den wenigsten gefallen (genauer: allen!), sind Intrigen, Heimtücke und Verrat an der Tagesordnung. Die Detektive geraten durch Zufall in das Abenteuer und müssen einen kühlen Kopf behalten, um alles zu durchschauen...

Das Abenteuer ist gut gegliedert und schön aufgemacht. Zu jedem NSC gibt es ein Porträt, ansprechende Karten für die Handlungsorte und auch die Handouts wurden liebevoll erstellt. Die zahlreichen Spieltipps erleichtern zudem die Anwendbarkeit für Einsteiger. Somit liegt ein schönes Abenteuer vor, das vor allem durch seine gut ausgearbeiteten NSCs sowie die durchtriebenen Motive selbiger zu überzeugen weiß, für meinen Geschmack aber deutlich zu wenig Tote aufweist... (meine Spielgruppe rührt gewöhnlich keinen Finger vor der fünften Leiche...)

Aufmachung

Das Regelwerk erscheint in einem stabilen Hardcover mit 256 Seiten, der entfernt an einen alten Folianten erinnert. Geziert wird das Buch von einem stimmigen Coverbild von Manfred Escher (auch bekannt durch seine zahlreichen Coverbilder für „Cthulhu“), das gut zu dem Inhalt passt und bereits den ersten Charme versprüht. Nach dem Öffnen erwartet den Leser ein schwarz-weiß gestaltetes Buch mit angenehm griffigem Papier. Schon beim ersten Durchblättern wird man sich des übersichtlichen Layouts und der spielerfreundlichen Gestaltung bewusst. Die einzelnen Kapitel werden auf jeder Seite durch schön gestaltete Kopfzeilen hervorgehoben, sodass man immer weiß, wo man sich gerade befindet.

Der Rand wird ebenfalls durch diverse Zeichnungen beziehungsweise Skizzen geziert, was zwar einen schönen Hintergrund darstellt, teilweise aber die Lesbarkeit etwas erschwert, da manche dunklen Bildteile zu weit in den Text hineinragen. Ansonsten gibt es aber nichts zu bemängeln. Die einzelnen Seiten sind schön aufgebaut und mit zahlreichen stimmungsvollen Bilder und Fotos bestückt. Insgesamt erinnert die Aufmachung stark an diverse „Cthulhu“-Bücher, was aber als uneingeschränktes Kompliment zu verstehen ist, da „Chulhu“ bekanntlich schon zahlreiche Preise hierfür erlangen konnte. Als Beigabe gibt es außerdem noch einen großformatigen, auf alt gemachten Stadtplan von London aus dem Jahre 1895, der ebenfalls zu gefallen weiß.

Abschließende Bewertung

Das Regelwerk beinhaltet alles, was benötigt wird, um seine Spieler in die Spuren von Sherlock Holmes treten zu lassen: kurze, aber umfassende Regeln, eine ausführliche Darstellung des Hintergrunds samt Kriminalteil sowie ein Abenteuer, um gleich loslegen zu können. Dafür ist auch der handelübliche Preis von 37,90 Euro mehr als angemessen.

Wer sich das Regelwerk zulegen möchte, sollte sich vorher allerdings das nachfolgende Zitat von Oscar Wilder (ebenfalls ein Zeitgenosse Sherlock Holmes) durch den Kopf gehen lassen:

„Nicht jedes Verbrechen ist trivial, aber jede Trivialität ist ein Verbrechen!“

In „Private Eye“ haben es die Spieler so gut wir nie mit trivialen, sondern fast stets mit raffinierten Verbrechen zu tun. Was ich damit sagen möchte ist Folgendes: „Private Eye“ ist ein sehr spezielles System, bei dem sich jedes Abenteuer um die Aufklärung eines Verbrechens dreht, meist um einen Mord. Auch wenn die Abenteuer stets sehr stimmungsvoll und atmosphärisch sind, so leiden sie doch oft an Actionarmut und erfordern meist viel Gehirnschmalz. Dies mag für den ein oder anderen auf Dauer zu einseitig beziehungsweise nach einem harten Arbeitstag zu anstrengend sein. Wen das aber nicht stört oder vielleicht sogar gerade reizt, der findet ein rund um gelungenes Rollenspielsystem vor. Für den Unentschlossenen hingegen habe ich eine weitere Weisheit von Oscar Wilde parat:

„Ich bereue nichts, was ich getan habe, nur, was ich nicht getan habe...“

Fazit: Das alte System hat nichts an seinem Charme verloren und erscheint in einem überzeugenden neuen Gewand. Wer sich für Detektivrollenspiele interessiert, sich schon immer für Sherlock Holmes begeistern konnte oder einfach nur ein schönes Zweitrollenspiel sucht, der sollte sich das Regelwerk von „Private Eye“ unbedingt näher anschauen.

„Watson! Nehmen Sie Ihren Hut, wir haben zu tun...“


Private Eye
Grundregelwerk
Thilo Bayer, Jan-Christoph Steines, Peter Schlauch, Ulrike Pelchen, Sylvia Schlüter
Redaktion Phantastik 2008
ISBN: 978-3-00-025694-3
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 37,90

bei amazon.de bestellen