Pandemic: Patient null

Als die betagte Schwester Apolo nach einer mehrwöchigen Pilgerfahrt in ihr Kloster in Lima zurückkehrt, ist sie bleich, kraftlos und schwitzt am ganzen Körper. Keine 12 Stunden später ist die Nonne tot. Alles deutet auf ein tödliches Virus hin. Deswegen klingeln in Lyon in der europäischen Zentrale der Global Health Agency (GHA) die Alarmglocken. Ein Team macht sich auf den Weg nach Südamerika, um eine mögliche Epidemie einzugrenzen.

von Oli Clemens

Bodhi Patel ist Amerikaner und frisch aus Atlanta nach Lyon gereist, um seinen Job als neuer leitender Epidemiologe in der Zentrale der GHA anzutreten. Für ihn bedeutet das einen Schritt auf der Karriere-Leiter. Außerdem will er die Zeit in Europa nutzen, um sich über seine weiteren beruflichen Ziele klarzuwerden. Doch nur wenige Minuten, nachdem er an seinem neuen Job angekommen ist, ist er schon als Teil eines Einsatzteams nach Peru unterwegs. Sein Auftrag ist einfach: ein Killer-Virus stoppen und damit die Bevölkerung der Erde vor einer neuen Pandemie schützen.

„Pandemic: Patien null“ spielt in einer fiktiven Zukunft kurz nachdem das Corona-Virus weltweit besiegt wurde. Doch die damit verbundenen Schwierigkeiten und die tödlichen Auswirkungen der weltweiten Gesundheitskrise sind noch lebhaft in Erinnerung. Somit ist klar, dass „Pandemic: Patient null“ in seinem Herzen ein Science-Fiction-Roman ist, der sich aber auf eigentümliche Art gar nicht danach anfühlt, denn wir Leser waren alle Teil der Pandemie. Vielleicht ist das auch das stilprägende Moment des Romans, dass Realität und Fiktion in einer realistische Momentaufnahme miteinander verschmelzen.

Von seinen vier anderen Teammitgliedern kennt Bodhi eigentlich nur die Namen und ihre Funktion, als er in Lima aus dem Flieger steigt. Die Britin Helen ist ebenfalls Epidemiologin, seine Vorgängerin auf seinem Posten und seine direkte Chefin. Ekemma stammt ursprünglich aus Nigeria und arbeitet bei der Global Health Agency als Quarantäne-Expertin. Vervollständigt wird das Team durch den Sanitäter Justin und die amerikanische Soldatin Pilar. Alle sind im Kampf gegen Krankheiten erfahren und für den Einsatz vor Ort ausgebildet. Zusammen haben sie bereits einige Einsätze gemeistert und vertrauen sich und ihrer Spezialisierung blind. Nur Bodhi ist der Neue, der sich erst einmal beweisen muss.

Unterstützung bekommt das Team beim Außeneinsatz in Südamerika durch die Kolleginnen im Hauptquartier in Frankreich. Dort laufen bei Sam und Lou alle logistischen und kommunikativen Fäden zusammen. Und außerdem wartet dort die Virologin Aiko auf jede Probe, um der genetischen Zusammensetzung des Virus auf die Spur zu kommen. Kommunikation und Kooperation ist für den Erfolg der Mission unverzichtbar – auch an getrennten Orten.

In Lima bestätigt ein erstes Gespräch mit der Oberin der verstorbenen Nonne und eine Serie von klinischen Untersuchungen, was alle befürchtet haben. Bei der Todesursache handelt sich um ein bisher unentdecktes Virus. Und die Tatsache, dass die Nonne auf einer Pilgerfahrt durch das ganze Land unterwegs war, macht es nicht einfacher, die Spur der Kontamination zu verfolgen. Von überall her hagelt es Meldungen, dass Menschen an den gleichen Symptomen erkranken – und sterben. Die Epidemie hat also bereits begonnen. Nun gilt es, eine Pandemie – und eine weltweite Panik – zu vermeiden.

Die Suche nach dem „Patient null“, also der Person, von welcher sich eine Krankheit ursprünglich zu anderen verbreitet hat, führt das Team tief in den Amazonas-Regenwald, wo die Grenzen Perus, Kolumbiens und Brasiliens aneinander stoßen. Je weiter das Team versucht vorzudringen, desto schwieriger gestaltet sich die Aufgabe vor Ort. Vorurteile, Korruption und der Einfluss eines Drogenbosses erschweren ihre Arbeit gegen die Zeit.

Mit „Pandemic: Patient null“ hat die australische Schriftstellerin Amanda Bridgeman den ersten Roman einer Reihe veröffentlicht, die sich thematisch an die „Pandemie“-Spiele von Matt Leacock anlehnt. Wer sich auch nur ansatzweise für moderne Brettspiele interessiert, der weiß, dass es in der Reihe immer darum geht, kooperativ den weltweiten Ausbruch eines Virus zu verhindern und ein medizinisches Heilmittel zu finden. Dabei verkörpern die Spieler unterschiedliche Spezialisten mit unterschiedlichen Sonderfähigkeiten und reisen rund um die Welt.

Letztendlich finden wir in der Handlung von „Pandemic: Patient null“ genau das Spielprinzip wieder. Bodhi, Helen und die anderen sind getrieben von der Notwendigkeit, das Virus zu stoppen und ein Gegenmittel zu finden. Dabei müssen alle ihre Stärken in das Team einbringen. Gemeinsam reisen sie von Europa aus nach Südamerika und dann über verschiedene Etappen immer tiefer in den Amazonas-Regenwald. Letztlich will aber „Pandemic: Patient null“ keine fiktive Umsetzung eines Brettspiels sein, sondern eine spannende Erzählung. Deswegen zieht Bridgeman über 376 Seiten alle Register eines Rennens gegen die Zeit, ohne aber die Brettspiel-Idee aus den Augen zu verlieren. Am ehesten würde ich deswegen „Pandemic: Patient null“ als medizinischen Thriller bezeichnen.

Leider entstand in mir keine richtige Hochspannung. Das liegt zu einen daran, dass es den Charakteren an Tiefe fehlt. Von Bodhi und Aiko wissen wir, dass sie noch zu Studienzeiten ein romantisches Paar gewesen sind, der gesellschaftliche Druck von außen die beiden aber auseinandergetrieben hat. Helen muss sich im Verlauf des Romans einem persönlichen Verlusttrauma stellen, Justin hat sein Bein verloren und Pilar muss schreckliche Erfahrungen als Soldatin gesammelt haben. Aber alles bleibt in der Regel immer auf einer sehr oberflächlichen Ebene von Andeutungen. Und auch das Mysterium um den Chef der GHA zu Beginn des Romans entpuppt sich später als unerhebliche Randnotiz. Vielleicht will sich Amanda Bridgeman diese Tiefe für weitere Romane aufsparen und dann immer ein Teammitglied in den Fokus stellen?

In „Pandemic: Patient null“ bleiben die Charaktere aber oberflächlich und klischeehaft. Da schaffen es auch die Dialoge nicht, den Charakteren Tiefe zu verleihen. Sie wirken oft wie Versatzstücke zwischen Figuren, die angereichert sind mit typischen Redewendungen aus dem Englischen. Oder um Helen auf Seite 372 zu zitieren „Das macht mich noch wahnsinnig!“

Ganz schwierig für mich wurde es auch immer, wenn medizinische Fach-Passagen eingestreut werden, die sich eher so lesen, als hätte die Autorin aus einen Bericht aus der Virologie-Forschung abgeschrieben. Dann treffen Influenza-Viren vom Typ A auf MHC-II-Proteine, es kommt zu Übereinstimmungen im Constant-Stamm, ich bekomme den Antigenshift erklärt, und Mutationen werden mit dem Sequenzer isoliert.

Der fiktive Erreger in unserem Roman, so attestiert Virologin Aiko, habe das Potenzial, noch viel ansteckender zu sein als Corona. Das legt sich wie ein schriller, dauerhafter Panik-Alarm über alle Entscheidungen des GHA-Teams. Erschwerend kommt dazu, dass in der Gegend, in der das Virus wohl entstanden ist, die Grenzen in alle Richtungen offen sind und auch internationaler Flugverkehr stattfindet. Eine schlechte Ausgangssituation, wenn man unter Zeitdruck eine Pandemie stoppen will.

Als jemand, der Corona zwangsläufig erlebt hat, erinnere ich mich noch gut an die ersten Fernsehberichte und die bedrohlichen Bilder und Zahlen, die im Februar 2020 ungefiltert auf mich einprasselten. „In Pandemic: Patient null“ kommen die Massenbeerdigungen, die nach oben schnellenden Statistiken und die geschlossenen Grenzen wieder in mir hoch. Da ist es fast ein Wunder, dass in dem zeitlichen Rahmen von etwa 2 Wochen, in dem die Handlung spielt, nur etwa 300 Menschen in sieben verschiedenen Ländern sterben. Ein Bruch mit der eigenen Prämisse? Ein Versuch, nicht zu dramatisch an die eigenen Erinnerungen anzuknüpfen? Wer weiß. Und insgesamt schließt der Roman auf eine zu liebenswerte Happy-End-Note – mit einem doch recht offenen Ende.

Eindeutiger Höhepunkt des Romans sind sicher die Abschnitte, wenn Bodhi und Helen in Kontakt mit dem allmächtigen Drogenbaron der Gegend treten müssen, um ihre Aufgabe zu erledigen. Dann zieht die Spannung an, Handlungen werden nicht vorhersehbar und man ist echt in Sorge, ob die Geschichte wirklich im Guten enden kann. Insofern endet der Roman für mich versöhnlich, auch wenn ich ein paar Schwierigkeiten hatte, das Ende der Erzählung zu erreichen.

Fazit: „Pandemic Patient null“ kombiniert zwei populäre Genres, nämlich Thriller-Romane und Brettspiele. Daraus entsteht eine spannende Prämisse. Dabei werden die genre-bestimmenden Aspekte von „Pandemie“ sinnvoll in das Wettrennen um die Zeit eingewoben. Das Team reist um die Welt beseelt von der Aufgabe, die den weltweiten Ausbruch zu stoppen. Erzähltechnisch hat mich das Ganze aber nicht von Hocker gerissen.

Pandemic: Patient Null
Science Fiction-Roman
Amanda Bridgeman
Cross Cult 2022
384 S., Paperback, deutsch
ISBN: ISBN: 978-3-96658-869-0
Preis: EUR 15,00

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