Mit Hauern und Hörnern

Groß. Aggressiv. Gefährlich. Als Mensch einem Ork zu begegnen, ist eine unangenehme Erfahrung: Ist es einer dieser Ganger? Wird dieser stumpfe Schläger mich angreifen? Man weiß, das Orks weniger gebildet sind, weniger Geld haben. Jetzt wohnen sie hier. Wird das Probleme bereiten, in meinem Viertel? Oh sicher, wir sind nicht gegen Orks. Die können gern hier wohnen. Irgendjemand muss ja auch den Müll wegschaffen, richtig? Nur bitte eben unauffällig. Hier leben anständige Leute.

von Adaon

Trog: Schimpfwort, Beschreibung, Beleidigung. Ausgrenzung. Ein Ork oder Troll zu sein, heißt, sichtbar anders zu sein als ein Mensch (in einer Welt, die für Menschen gemacht ist) und dabei auf diese auch noch bedrohlich zu wirken – größer, massiger, und mit Jahrzehnten der Berichterstattung über kriminelle Orkschläger und gefährliche Troll-Gangs im sozialen Bewusstsein.

Auf die Goblinisierung, die spontane Verwandlung von Menschen in Orks oder Trolle im Jahr 2021, reagierte die Menschheit insgesamt sehr negativ. Elfen sehen gut aus; Zwerge sind klein. Aber etwas Großes mit Hauern und Hörnern ist eine andere Sache – und wenn es dann noch so aussieht wie die Bösewichte vieler Filme und Spiele, macht das die Sache nicht besser. Die verwandelten Menschen wurden zusammengetrieben, „untersucht“, eingesperrt. Sie waren „anders“, und man wollte sie außer Sicht haben. In Seattle wurden hunderte Orks und Trolle in Lagerhäuser gesperrt; in Japan wurden sie für Jahrzehnte auf eine kleine Insel verbannt. In so gut wie allen Teilen der Welt hatten sie wenig bis gar keinen Zugang zu guten Wohngegenden, Arbeit oder Bildung.

2039 kam es zur „Nacht des Zorns“, in welcher nahezu weltweit gleichzeitig Ausbrüche von Gewalt gegen Orks und Trolle eskalierten, und es zu tausenden von Todesfällen kam. So schlimm wurde es seitdem nicht wieder ... zumindest bisher. Doch es schwelt noch immer unter der Oberfläche, und es kocht regelmäßig über.

Im Jahr 2079 liegt die Nacht des Zorns vierzig Jahre zurück, und viele wollen die Ereignisse vergessen. Vieles hat sich tatsächlich zum Besseren gewandelt; eine Trollrepublik in Deutschland, Ork-Stämme in Afrika und Nordamerika, anerkannte Ork-Gemeinden in vielen Ländern, Orks und Trolle in höheren Positionen in Politik und Konzernen, und ein aktiv meta-freundlicher Megakonzern wären 2039 undenkbar gewesen.

Doch Rassismus ist ein langfristiges und tiefsitzendes Problem, auch bei uns in Deutschland. Wie sehr wir dies wahrnehmen, hängt stark davon ab, ob wir zu den Betroffenen gehören oder eben in unserer Gesellschaft als „normal“ angesehen werden. Die meisten genießen das unbewusste Privileg, im Alltag keinen Vorurteilen und Benachteiligungen ausgesetzt zu sein. Wer bei uns weiß und männlich ist, wird zum Beispiel bei der Wohnungssuche viel seltener abgelehnt oder sieht sich von Fremden nicht ständig mit Klischees und Erwartungshaltungen konfrontiert.

Für einen Ork im Jahr 2079 ist das anders. Und diese Seite des Ork-seins, des Sichtbar-anders-seins, in einer Gesellschaft, in der Rassismus eine gelebte Wahrheit ist, wird in „Mit Hauern und Hörnern“ sehr deutlich gemacht. In der Spielrunde am Tisch sucht man sich seine Rasse aus, wägt Vor- und Nachteile ab, verwendet Eigenschaften wie Nachtsicht, besseres Einschüchtern oder größere Stärke, wenn es praktisch erscheint, und interagiert ansonsten mit seinem Charakter in der Spielwelt wie wohl von den meisten Spielern gewohnt: als gleicher unter gleichen. Mit den Beispielen aus diesem Buch kann ein Spielleiter diese Gewohnheit hin und wieder aufbrechen, kann soziale Interaktion mit Vorurteilen, ob offen oder verborgen, variieren und die deutlichen körperlichen Unterschiede zu anderen (Meta)-Menschen und die Unterschiede in der Wahrnehmung der Umgebung in seiner Runde einbauen. Dadurch gewinnt die Spiel-Welt eine weitere Tiefe, die sie sowohl abgründiger als auch glaubwürdiger macht.

Kommen wir zum Inhalt dieses Buches. Aufgebaut als Zugriff auf eine Datensammlung im Jackpoint, wird der Leser in „Wer wir sind“ zunächst mit dem Bericht eines Orks, der kurz nach dem Erwachen aufwuchs, und den Kommentaren dazu auf Jackpoint auf das Leben als Ork eingestimmt. „Das Leben als Trog in ...“ beschreibt die Trollrepublik im Schwarzwald, die Stammesgebiete der NAN, Chicago, Dubai, Atlanta, Seattle, Neo-Tokio, Nagasaki, Nigeria, Bakongo, Amazonien, die Skandinavischen Union, Jakutien, Frankreich, Denver, Mumbai, die Mauer um Boston und eine Karibikinsel, die einem Ork gehört. Dabei sind all diese Berichte von deutlich verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ansätzen verfasst, sodass der Stil auch sehr unterschiedlich wirkt, und die enthaltenen Informationen von sachlich und ausführlich bis zu einem kurzen emotionalen Absatz reichen. Das wirkt angenehm ehrlich und direkt.

Im nächsten Kapitel „Arbeiten als Trog bei ...“ geht es erstmal natürlich um die Megakonzerne. MCT, Renraku und Shiawase werden zuerst behandelt. Die Jahrzehnte der Unterdrückung von Orks und Trollen in Japan zeigen hier noch deutliche Spuren, und Veränderungen geschehen nur langsam. EVO, der meta-freundlichste Konzern hat dagegen derzeit einen Ork als Präsidenten, genauso wie bei Horizon – wobei die Verhältnisse in einem Medienkonzern, bei dem alles auf den Schein ankommt, natürlich anders sind. Aztechnoloy setzt Metas als Ressourcen ein, wie alles andere auch. Ares beschäftigt viele Orks und Trolle, und macht damit auch Werbung – allerdings sind diese zum weitaus größten Teil in niedrigen und schlecht bezahlten Positionen. Bei Saeder-Krupp wird jeder nach seiner Leistung beurteilt – Rassismus ist zwar manchmal vorhanden, aber schlecht fürs Geschäft. Und für einen Großen Drachen ist ohnehin im Zweifelsfall jeder Metatyp eine Zwischenmahlzeit. Wuxing setzt Orks und Trolle nach den Kriterien der Gemoantie ein. Und NeoNET wird, nachdem sie die Schuld an dem Debakel in Boston erhalten haben, bald zerbrechen. Auch kleinere Konzerne werden genannt, wie Spinrad Industries, Maersk, Lone Star, DocWagon und einige mehr – wie werden diese Metatypen dort behandelt, welche Stellen können sie erreichen, und wie kann sich das auf die Schattenarbeit für oder gegen sie auswirken?

In „Trog-Helden“ geht es um bekannte Gesichter der Sechsten Welt, die Hauer und Hörner haben. Ob durch Glück oder harte Arbeit, diese Orks und Trolle (und ein Oger, der auf dem Thron von Spanien sitzt) leisten in Politik, Wirtschaft, Öffentlichkeit, Umweltschutz und Wissenschaft vieles, das Orks, Trollen, und Metamenschen auf der ganzen Welt nutzt. In diesem Kapitel findet sich auch ein kurzes Wörterbuch von Or?zet, der Orksprache. Im nächsten Kapitel, „Trog-Runner“ finden sich Persönlichkeiten, die eher im Schatten wirken. Interessant daran ist, dass viele bekannte Namen von JackPoint hier nicht nur mit Hintergrundgeschichte und Motivationen, sondern vollständigen Werten nach der 5. Edition aufgeführt sind. Auch andere Orks und Trolle aus den Schatten werden genannt, und nahtlos geht das Kapitel mit der nächsten Überschrift „Die Erschaffung eines Trog-Runners“ zu neun vorgefertigten Charakteren über, die als Beispiele oder direkt vom Spielleiter (etwa auf einer Convention für neue Spieler) verwendet werden können.

„Trog-Feinde“ fasst im nächsten Kapitel Organisationen, einzelne Gruppen darin oder mächtige Individuen zusammen, die von ihrem Hass auf Metas allgemein (und Orks und Trolle im Besonderen) so motiviert sind, dass sie eine tödliche Gefahr darstellen. Damit bietet dieses Kapitel auch eine Vielzahl von Aufhängern für Runs. Das nächste Kapitel „Wir stampfen vereint“ stellt im Gegensatz dazu Gruppen und Organisationen vor, die Orks und Trolle darin unterstützen, Ausbildung, Arbeit und eine Gemeinschaft zu finden.

Das letzte Kapitel „Alles für Trogs“ bietet etwas Spezialausrüstung, neue Vor- und Nachteile, sowie Lebensmodule für die Charaktererschaffung nach „Schattenläufer“ an.

Bevor sich jemand dieses Buch kauft, sollte er Folgendes wissen: „Mit Hauern und Hörnern“ ist grün, es ist also ein Quellenband. Der Text auf der Rückseite verspricht den ultimativen Leitfaden für Ork- und Trollcharaktere, also für die Spielweise dieser Rassen, und dieses Versprechen wird gehalten. Worum er hier nicht geht, ist Ausrüstung oder Sonderregeln für Orks und Trolle; dafür müsste das Buch rot sein. (Die acht Seiten im Kapitel „Alles für Trogs“ zählen nicht wirklich.) Sowohl Spieler, die sich mehr Tiefe bei der Darstellung dieser Metatypen wünschen, als auch Spielleiter, die die Andersartigkeit der Welt für diese Metatypen durch die Wahrnehmung der Menschen um sie herum, durch die (geringen) Chancen auf Beruf und Anerkennung durch die (menschliche) Gemeinschaft oder auch nur beim Aufwachsen und beim Finden eines stabilen Sofas unterstreichen wollen, werden hier fündig werden.

Fazit: Ob es am Spieltisch um die glaubwürdige Darstellung einer Gesellschaft, die sich oft an Rassengrenzen teilt, gehen soll, oder um die Verbesserung von Lebensbedingungen eines großen Teils oder einer örtlichen Gruppe von Metamenschen, oder einfach darum, der Darstellung des eigenen Ork-Charakters mehr Tiefe zu verleihen: „Mit Hauern und Hörnern“ liefert als Quellenband alles, was man dazu braucht. Über die höheren Lebensstilkosten und den -2 Würfel-Malus für nicht angepasste Ausrüstung des Grundregelwerkes hinaus, liefert dieser Quellenband jede Menge Informationen, Anregungen und Geschichten, um sich daran zu erinnern, dass Orks und Trolle in einer von Menschen dominierten Welt einfach anders sind und anders gesehen werden. Die Frage des Rassismus in der Spielwelt kann als massiver Plotaufhänger verwendet werden. Und erinnert damit diejenigen von uns, die im Alltag nicht vom Diskriminierung betroffen sind, das es auch in der Realität Menschen gibt, die aktiv oder passiv gegen andere Menschen vorgehen, nur weil ihnen diese irgendwie „anders“ erscheinen.

Mit Hauern und Hörnern
Quellenband
Jason M. Hardy, Adam Large, Scott Schletz, Russel Zimmerman u.a.
Pegasus Spiele 2018
ISBN: 978-3-95789-169-3
191 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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