Maschinengeist

„Steampunk“-Geschichten, in denen die Vergangenheit mit hochtechnologischen Elementen jüngerer, gar zukünftiger Zeit neugeschrieben wird, müssen nicht zwangsläufig im viktorianischen London spielen. Für ihren Debüt-Roman „Maschinengeist“, den der Verlag Feder&Schwert in seiner „Steampunk“-Sparte publiziert, hat Autorin Chris Schlicht einen fiktiven Industrie-Moloch zwischen Wiesbaden und Frankfurt am Main zum Schauplatz einer Kriminalhandlung gemacht.

von Simon Ofenloch

An der Schwelle zum 19. Jahrhundert ist aus den deutschen Städten Frankfurt am Main und Wiesbaden ein riesiger Industriekomplex entstanden. Einmal im Jahr reist der Kaiser an, um seinem Geldgeber, dem hochherrschaftlichen Unternehmer Baron von Wallenfels, mit einem Besuch die Ehre zu erweisen. Der Polizei kommt bei diesem Ereignis die besondere Aufgabe zu, die verarmte Unterschicht der Entlassenen, Obdachlosen und Kriminellen in ihren Elendsquartieren aus dem Blickfeld des Monarchen zu halten.  

Zu den emsigen Gesetzeshütern gehörte einst auch Peter Langendorf. Doch der Disput mit einem Vorgesetzten hat ihn vom angestellten Kriminalpolizisten zum privaten Ermittler werden lassen. Als Honorardetektiv kann sich Peter allerdings mehr schlecht als recht über Wasser halten.

Da kommen zwei plötzliche lukrative Aufträge nicht ungelegen: Baron von Wallenfels höchstpersönlich beauftragt ihn, herauszufinden, wer hinter den Anschlägen auf ein revolutionäres Luftschiff des adeligen Industriellen steckt. Und für den angesehenen Künstler Valentin de Cassard soll Peter dessen in den Elendsvierteln am Rheinufer verschollene Halbschwester finden.

Bei seinen Untersuchungen stößt Peter auf den „roten Fuchs“, einen skrupellosen Zuhälter, der seine Mädchen den Reichen für perverse Orgien aus Sex und Gewalt zur Verfügung stellt. Was dabei den unter Drogen gesetzten Huren angetan wird, ist kaum vorstellbar. Peter ist entsetzt von seinen Funden, vom kriminellen Sumpf aus Drogen- und grausamem Menschenhandel, einem abscheulichen System aus Korruption und Gier.

Als dann auch noch sein Bruder Paul auftaucht, der aufgrund einer Intrige der Reichen des Reiches seinen Beruf als Architekt verloren hat, und ihm von üblen Machenschaften auf den Baustellen und dem Auftauchen entsetzlich mutierter Ratten von unheimlicher Größe berichtet, wird alles nur noch schlimmer. Nicht nur in der Kanalisation, sondern auch in den Salons der besseren Gesellschaft stoßen die ungleichen Brüder auf skrupellose Machenschaften, die letztlich alle zu einem Hauptverantwortlichen führen, einem übermächtigen Gegner.

Der Grundaufbau der Geschichte erinnert an frühe Werke des „Film noir“ und deren literarische Vorlagen in Detektivgeschichten der „Hardboiled“-Schule, wie Raymond Chandlers „Tote schlafen fest“ oder „Der Malteser Falke“ von Dashiell Hammett. Doch der Debütroman „Maschinengeist“ von Autorin Christine Schlicht birgt auch genug Eigenes, vor allem Originelles, Gewagtes. Zuerst einen wahrlich einmaligen Ansatz im Umgang mit der populären „Steampunk“-Materie. Zu Schlichts hessischer Variante wird man schwerlich Vergleichbares finden. Die beruflichen Erfahrungen der Autorin im Dienste der Stadt Wiesbaden werden beim Schreiben hilfreich gewesen sein, gleichfalls beim Verfassen einiger Dialogpassagen in hessischem Dialekt. Mit diesem Kniff integriert Chris Schlicht nicht nur zusätzliches Lokalkolorit. Ihr und schließlich auch dem Leser dient die Mundart zur Unterscheidung zwischen Angehörigen der Ober- oder Unterschicht.  

Mit den Brüdern Peter und Paul beweist die Autorin eins ums andere Mal Originalität. „Maschinengeist“ bietet in weiten Teilen zwei Identifikationsfiguren, zwei unterschiedliche Helden, die man als Leser bei ihren parallelen Ermittlungen begleiten kann. Dabei ist Paul in einigen Punkten das genaue Gegenteil von seinem Bruder. Zudem ist er homosexuell, wie auch Valentin de Cassard.

Der Roman ist über eine spannende, wendungsreiche Kriminalhandlung hinaus ein engagiertes Werk mit einer Botschaft, welches das bedrückende Bild einer kaputten Gesellschaft im Industriezeitalter zeichnet, die sich der technischen Entwicklung gänzlich untergeordnet hat und daran ökologisch und moralisch zerbrochen ist. Härte in den Darstellungen scheut die Autorin nicht. Einige Szenarien geraten wahrlich zum Höllentrip durch die Abgründe eines rohen, seelenlosen, menschenverachtenden Kapitalismus. Doch nach allem bleibt ein Hoffnungsschimmer.

Fazit: „Maschinengeist“, die originelle deutsche Variante einer dampfbetriebenen, rußgeschwärzten Alternativhistorie, besticht durch atmosphärische Dichte, Tiefgang und Dramatik. Ein bemerkenswertes Erstlingswerk.


Maschinengeist
Urban-Fantasy-Roman
Chris Schlicht
Feder&Schwert 2012
ISBN: 978-3-86762-120-5
432 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 13,99

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