Das Obsidianherz

München, in einem Hotel vor gut 150 Jahren. Corissande Jarrencourt ist auf Brautschau nach einem vermögenden Ehemann. Plötzlich hat sie eine Erscheinung und bricht zusammen. Nachdem ihr Zimmer gestürmt wird, erfährt sie alsbald auch von einem magischen Manuskript, welches in den falschen Händen das Ende der Welt heraufbeschwört. Diverse antagonistische Gruppen wollen dies für ihre Zwecke nutzen. Die Jagd beginnt.

von Lars Jeske

Historische Settings sind heutzutage per se keine Eyecatcher mehr, gab es doch schon zu viele eigenwillige Bücher, die vorgaben, vor einem historischen Hintergrund angesiedelt zu sein, jedoch nur die Oberfläche streiften und wenig dem Zeitgeist entsprachen. Somit war der Handlungszeitraum im Prinzip beliebig austauschbar. „Das Obsidianherz“ von Ju Honisch ist glücklicherweise anders. Genau so einer Epoche bedarf es, um den Einstieg gekonnt hinzubekommen. Vergesellschaftung, persönlicher Angriff und herbeieilende Kavallerie; denn wo eine Jungfrau in Not, da ist auch der Held nicht weit. Da dürfen es auch gleich mehrere Helden sein, die in diesem Abenteuer verewigt sind. Günstigenfalls in einer mitreißenden Geschichte, die die Spannung konstant hoch hält, um das Interesse nicht zu verlieren. Aber der Reihe nach.

München zu Zeiten von Ludwig II. Die einzige Änderung gegenüber der Realität ist die Existenz von Fey. Dieses sind Wesen mit magischen Eigenschaften unterschiedlichster Art und Ausprägung. Als Vertreter sollen dabei Lebensformen wie zum Beispiel Vampir oder Nixe genannt werden, die ebenso wie Menschen verschiedenste Gesinnungen und Ziele haben. Somit handelt es sich bei „Das Obsidianherz“ im Prinzip um einen historischen Roman mit einer nur marginalen Abweichung der gefühlten Wirklichkeit in Richtung Fantasy. Dadurch wird nicht alles einem alternativen Realitätsansatz abgeleitet, sondern man hat immer das Gefühl, dass es wirklich so hätte sein können und vielleicht auch noch immer so ist. Das historische Setting wird zudem nicht genutzt, um die Weltgeschichte neu zu schreiben oder umzudeuten, sondern eher aus praktischen Gründen, um einen glaubwürdigen und dadurch auch überaus gelungenen Anfang für die Geschichte zu präsentieren, den Leser plausibel auf das Kommende vorzubereiten und eine passende Stimmung aufzubauen. „Das Obsidianherz“ ist somit quasi historisch korrekt und zudem gut recherchiert. Vor allem was die höflichen, um nicht zu sagen höfischen Umgangsformen und die allgemeine Etikette der damaligen Zeit entspricht, ist man sofort im Bilde und kann sich gut in die Handlung hineinversetzen.

Der Leser steigt mitten in die Geschichte ein, die anfänglich aus zwei Handlungssträngen besteht. Zum einen ist die junge Corissande Jarrencourt auf der Suche nach einem Mann aus den passenden gesellschaftlichen Kreisen. Liebe oder auch nur Zuneigung sind relativ unwichtig, schließlich geht es um Ansehen, gesellschaftlichen Aufstieg und den guten Ruf. Zum anderen jagen ein paar Soldaten ein mysteriöses Geschöpf. Alsbald überschneiden sich die Wege und es gilt, gemeinsam das Ende der Welt zu verhindern. Denn die Soldaten jagen ein Wesen, welches nicht von dieser Welt zu stammen scheint und von dem Böses ausgeht. Ebenso gibt es ernstzunehmende Gerüchte, dass ein magisches Manuskript das Ende der Welt herbeiführen kann, wenn man es nur richtig benutzt. Dieses Manuskript soll auch in München sein, vermutlich sogar magisch versteckt in diesem Hotel. Da das Manuskript solch eine Zerstörungskraft besitzt, sind nicht nur Colonel Delacroix und dessen Helfer Lt. Asko van Orven und Lt. Udolf von Görenczy darauf erpicht, dieses Artefaktes habhaft zu werden.

Der Umfang der Geschichte (800 Seiten, kleine Schrift) erschlägt einen anfänglich womöglich, muss es aber nicht. Die Erzählung erfolgt in einem moderaten Tempo, welchem man gut folgen kann, ohne dass sich in Einzelheiten verzettelt wird und es langweilig wird. Es ist eine ausgewogene Erzählweise über die damalige Gesellschaft, die handelnden Personen und das Voranbringen der Handlung. Ein Gesellschaftsentwurf und Sittengemälde dieser Zeit für die Leser mit Einblicken in die damaligen Verhältnisse und Verhaltensetikette. Ab 2000 hat Ju Honisch diesen Roman auf englisch geschrieben, dann später selbst übersetzt und 2008 bei Feder&Schwert verlegen lassen. Dies erklärt ansatzweise die stringente Beibehaltung der alten deutschen Rechtschreibung (aber nicht die der damaligen Zeit). Da der Roman jedoch erst später veröffentlicht wurde, ist diese Schreibweise schon seit Drucklegung überholt und falsch. Nicht nur für Sprachästheten überaus gewöhnungsbedürftig. Dies ist der einzig objektive Kritikpunkt an diesem Werk. Positiv anzumerken ist hingegen die Verwendung von einigen schönen altmodischen Worten, die der damaligen Zeit entspringen und somit passend die Atmosphäre verdichten.

Selbst wenn ich jetzt die Hälfte der Handlungsträger beleidige, verhalten sich alle überaus menschlich. Obwohl es prinzipiell „Gute“ und „Böse“ gibt, sind sämtliche Charaktere nicht mit dieser Schwarz-Weiß-Definition abgedeckt. Allein schon durch die Länge des Romans bleibt genügend Platz, um auch in Reflexionen, Erinnerungen und erklärten Motivationen mehr und detaillierter auf die einzelnen Personen einzugehen. Dadurch entwirft Ju Honisch sehr facettenreiche Figuren, die alle ihre Charakterstärken und -schwächen haben. Viele Beweggründe werden dem Leser somit nachvollziehbar vermittelt, wodurch es schwer fällt, nicht mit irgendwie jedem zu sympathisieren. Dies ist ein weiterer ungewöhnlicher Aspekt dieses Buches, wodurch auch viele Ereignisse und Entscheidungen den Leser überraschen, da die Handlungen der Beteiligten nicht immer vorhersagbar sind (und wenn doch, deren Beweggründe unklar bleiben). Somit ist man immer wieder mit unerwarteten Handlungsentwicklungen konfrontiert, die die Geschichte durchweg spannend halten. – Am Ende wundert man sich, dass man nur 800 Seiten las, da so viel erzählt wurde.

Fazit: „Das Obsidianherz“ ist ein historischer Roman mit einer interessanten minimalen Realitätsverschiebung in Richtung Fantasy. 800 in kleiner Schriftgröße bedruckte Seiten beeindrucken und muten erst einmal viel an, der Autorin Ju Honisch gelingt es jedoch, die Spannung über den gesamten Roman aufrecht zu halten. Ein Tipp besonders für Liebhaber historischer Stoffe oder ausgefeilter Charakterstudien.

Wer weitere Abenteuer mit Delacroix, Corissande, Graf Apart, van Orven, van Görentzy und Cecile erleben möchte, kann sich als nächstes in „Salzträume“ Band 1 + 2 stürzen (je ca. 600 Seiten). Beide sind ebenfalls bei Feder&Schwert erschienen.


Das Obsidianherz
Urban-Fantasy-Roman
Ju Honisch
Feder&Schwert 2008
ISBN: 978-3-86762-028-4
809 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 16,95

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