von Daniel Pabst
Die Comic-Figur „Vision“ wurde bereits 1968, also vor mehr als 50 Jahren, ins Leben gerufen. Obwohl er bereits in über 1000 Comic-Heften seine Auftritte hatte, agierte der Androide, welcher unter anderem fliegen und einen Laserstrahl aus seiner Stirn schießen kann, meist nur als Teil einer Heldengruppe. 2016 dann sollte sich diese Nebenrolle im Rahmen eines Relaunches von Marvel Comics ändern. Mit dem Konzept „Vision à la Breaking Bad“ gelang dem Team um Tom King ein echter Überraschungshit. Mittlerweile ist der Autor Tom King ein bekannter New York Times „Best Selling Author“ und mehrfacher Eisner-Award-Träger. Auch für die „Vision“-Serie wurde er mit dem Eisner-Award ausgezeichnet. Doch damit nicht genug: Die Comic-Reihe (aus 12 Einzelheften) sollte 2021 als Grundlage der Disney-Serie „WandaVision“ dienen.
Der Superheld und Androide Vision hat sich eine Frau, eine Tochter sowie einen Sohn konstruiert, um nicht länger allein zu sein. Im späten September, so heißt es zu Beginn der Geschichte, „als die Farben den Herbst ankündigten“, zog die Familie Vision in ihr Haus ein. Gemeinsam leben sie ein geregeltes Leben in einer amerikanischen Vorstadt, mit all ihren Vor- und Nachteilen gegenüber dem hektischen und lauten Stadtleben. Ihre Inneneinrichtung hat einige Objekte, die zwar etwas aus dem Rahmen fallen (wie ein Feuerzeug von Captain America aus dem Jahre 1943, eine schwebende Vase, einen Everbloom-Ableger oder einen saitenlosen Steinway), ansonsten jedoch spielen sich auch dort die ganz normalen Szenen einer Ehe und eines Familienlebens ab. Der Sohn und die Tochter von Vision müssen morgens in die Schule und kehren nachmittags mit einer Menge Hausaufgabe zurück. Da könnte man meinen, dass es sich um gar kein Superhelden-Abenteuer handelt und die alltägliche Geschichte für einen Comic-Band von 272 Seiten Langeweile hervorrufen wird.
Weit gefehlt! Was so harmlos beginnt, entwickelt sich zu einer hochdramatischen und auch tragischen Geschichte. Das liegt vor allem an einem allwissenden Erzähler, der sich nicht scheut, mit den Leserinnen und Lesern sehr eindrücklich und zu jeder Zeit sein Wissen zu teilen. Dadurch werden Ereignisse angekündigt, die man so nicht erwartet hätte. Ein Beispiel: Nach einem Besuch eines roboterfeindlichen Paares aus der Nachbarschaft offenbart der Erzähler prompt, dass im Laufe der Handlung ein Mitglied der Familie Vision deren Haus anzünden wird und das Paar den Tod finden wird. Als wir das erfahren, sind wir erst auf Seite fünf der Geschichte! Bei 12 Kapiteln traut man sich da manchmal gar nicht, die Seite umzuschlagen.
Beim Lesen, wie es der Familie Vision in der US-Kleinstadt so geht und mit welchen Schwierigkeiten und Anfeindungen sie sich gegenüber den Menschen konfrontiert sehen, können die Lesenden nicht anders, als die Grenzen zwischen uns Menschen und Maschinen zu hinterfragen. Kann eine androide Familie funktionieren? Haben Maschinen Gefühle? Können Maschinen lieben? Ist die Glückseligkeit mehr als nur eine flüchtige Illusion? Solche und ähnliche Fragen nach der Menschlichkeit und dem Umgang mit Maschinen sind spätestens seit den Büchern des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick (allen voran: „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ aus dem Jahre 1968, welches als Grundlage des Films „The Blade Runner“ diente) omnipräsent. Mit der aktuellen Popularität und Allgegenwärtigkeit von Künstlicher Intelligenz durch Chatbots wie ChatGPT von OpenAI hat dieses Werk auch im Jahre 2024 den Zahn der Zeit getroffen.
Aber nicht nur futuristische Elemente dominieren diesen Comic. Die Visions ziehen im Rahmen des Comics immer wieder Parallelen zu klassischen Werken von William Shakespeare. Vor Allem die Vergleiche zu Shylock, dem Geldverleiher und Antagonisten aus „Der Kaufmann von Venedig“ regen zum Nachdenken an. Die Visions geraten zunehmend in den Fokus ihrer Nachbarn. Es scheint gerade so, als lägen zwischen ihnen und den Menschen unüberwindbare Gräben. Lassen sich die Vorurteile eines Tages auflösen? Wie auch bei vielen seiner anderen Comic-Werke (beispielsweise zu Batman oder Supergirl), setzt Tom King den Fokus auf die Gefühle. Ohne großen Schlachten gegen Superschurken oder zwischen rivalisierenden Superwesen, beleuchtet dieser Comic die Innenwelten und die Schmerzen der Beteiligten – allen voran der der Familie Vision. Das berührt und macht nachdenklich, da sich Parallelen zu realen Geschehnissen ziehen lassen.
Passenderweise stehen die Zeichnungen von Michael Walsh und Gabriel Hernández Walta sowie die Kolorierungen von Jordie Bellaire nicht im Vordergrund. Besonders die Farben sind nicht zu aufdringlich gewählt worden und lassen eine gewisse „Herbstblues“-Stimmung entstehen. Dunkelheit und Schatten dominieren die Panels. Geradezu hat man den Eindruck, dass jederzeit das Unheil seinen Einzug in das Familienidyll finden wird. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Im Bonusteil am Ende des Werkes liest man in „Hinter den Kulissen“, dass die Aufgabe der Zeichner es gewesen war, die subtilen Emotionen der Erzählung aufs Papier zu bringen („Anstatt spektakuläre Bilder zu benutzen, hielt ich es für besser, die Figuren vor dem Leser agieren zu lassen und alle erzählerischen Mittel zu nutzen, die mir zur Verfügung standen, um die Subtilität und Poesie von Toms Texten einzufangen“). Die Koloristin Jordie Bellaire, welcher es mit ihren Farben vortrefflich gelungen ist, die Stimmung wiederzugeben, beschreibt ihre Funktion für diesen Comic daher treffend: „Koloristen sind die unbekannten, tollen Background-Sänger, die jeden Song fantastisch machen“.
Neben diesen Hintergrundinformationen erfährt man im Bonusteil weiter, wie die Serie sich vom Konzept „Vision gründet eine Familie“ entwickelte und was Zeichner Waltas Lieblingsmoment ist. Darauf folgt eine Timeline mit einer Übersicht von wichtigen Comic-Auftritten von Vision im Laufe der vergangenen Jahrzehnte. Weiterhin findet man Coverskizzen und provisorische Kolorierungen, aus denen dann einige der finalen Comic-Cover entstanden sind. Abgerundet wird das Werk mit weiteren Comic-Empfehlungen zu Vision sowie kurzen Informationen zum Autor und den beiden Zeichnern.
Fazit: „The Vision“ von Tom King aus dem Jahr 2016 ist auch Jahre nach seinem ersten Erscheinen ein eindrucksvolles Werk, das weiterhin aktuelle gesellschaftliche Themenfelder bespielt und hinterfragt. Der Comic beleuchtet unter anderem das moderne Familienbild, die Herausforderungen des Lebens in Vorstädten und den Kontrast zwischen Technophobie und einem stetigen, unaufhaltsamen (digitalen) Wandel. Bei diesem Comic ist der Titel Programm. Ein „Marvel Must-Have“!
Marvel Must-Have – Vision
Comic
Tom King, Gabriel Hernandez Walta, Michael Walsh, Jordie Bellaire
Panini Comics 2024
ISBN: 978-3-7416-3879-4
272 S., Hardcover, deutsch
Preis: 29,00 EUR
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