von Oli Clemens
In „Eine wahre Vampir-Geschichte“ lauschen wir in einer Retrospektive den Erinnerungen Carmela Wronskis. Heute lebt sie zurückgezogen in England und widmet ihr Leben der Fürsorge streunender Tiere. Die Leute nennen sie die verrückte alte Katzenlady. Doch in der Geschichte, die sie erzählt, führt sie uns zurück in ihre Kindheit auf ein Schloss in der Steiermark ins Jahr 1894.
Damals war Carmela eine jugendliche Baroness und lebte mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder Gabriel auf dem österreichischen Familienbesitz. Ihre Mutter verstarb früh, seitdem kümmert sich die liebenswerte Zofe Mademoiselle Vonnaert um die beiden Halbwaisen. Als der Baron von einer Reise in Begleitung eines mysteriösen, aber äußerst charmanten Fremden heimkehrt, verändert sich das Leben im Schloss. Außer Carmela fühlen sich alle diesem Grafen Vardalek auf eine fast unnatürliche Weise hingezogen. Sogar Gabriel, der sonst eher verschüchtert den Kontakt zu Fremden meidet, versucht rund um die Uhr dem Grafen nah zu sein. Carmela hegt Misstrauen, schläft unruhig und wird von Albträumen geplagt. Bald stellt sich heraus, dass Graf Vardalek mehr von der Familie will, als nur deren Gastfreundschaft. Doch die Tragödie lässt sich aber nicht mehr stoppen.
Stenbocks Erzählung spielt mit den klassischen Vampir-Motiven. Vardalek ist (keine Überraschung hier) als Untoter auf das Blut der Lebenden angewiesen und mit der Fähigkeit ausgestattet, andere Menschen zu verzaubern. Carmela scheint vor ihm geschützt, weil sie ein silbernes Kruzifix als Erinnerung an ihre Mutter um ihren Hals trägt. Den Handlungsort verlegt der Autor in ein abgeschiedenes Schloss in den Bergen – das kennt man alles aus dem Genre.
Was aber eine ungeahnte Dynamik in die Erzählung bringt, ist der Grad an Erotik. Außer Carmela verfallen alle nacheinander den leidenschaftlichen Küssen des Vampirs: die Haushälterin, der Vater und der jugendliche Sohn. Für die Literatur des ausklingenden 19. Jahrhundert war dies ein literarischer Tabubruch.
Das Hörspiel schafft deswegen Platz für das Sinnliche und Leidenschaftliche, wenn beispielsweise gemeinsam musiziert wird oder der Graf und Gabriel nachts in einen Blutrausch der Küsse verfallen. Die Sprecherinnen und Sprecher machen die komplette Palette der Emotionen erlebbar. Dazu gehört auch Freude, Trübsal und Panik. Die Stimmen sind eingängig und greifbar. So bilden sich wirkliche Charaktere heraus. Ob die französische Zofe wirklich gekünstelten französischen Dialekt gebraucht hätte, darüber lässt sich streiten.
Fazit: Schon der Name der Protagonistin ist eine Reminiszenz an die erste bedeutende Vampirgeschichte „Carmilla“. Stenbock erfindet genretechnisch also nichts Neues und bedient sich bekannter Motive. Die Handlung der Vampirgeschichte ist dünn, aber mit einer deutlichen Prise Erotik verfeinert. Das Hörspiel lässt seine Sprecher ihre Rollen intensiv ausleben. Das sorgt für eine dichte und stimmungsvolle „Gruselkabinett“-Folge 170, in der die Musik eine besondere Rolle einnimmt.
Gruselkabinett 170: Eine wahre Vampirgeschichte
Hörspiel nach einer Erzählung von Eric Stenbock
Marc Gruppe
Titania Medien 2021
ISBN: 978-3-7857-8318-4
1 CD, ca. 59 Minuten, deutsch
Preis: EUR 8,95
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