Gestohlene Seelen

In der Welt von „Shadowrun“ glauben die Konzerne, alle Macht zu haben. Sie können alles tun, alles vertuschen und mit allem davonkommen. Nun, für gewöhnlich haben sie recht. Doch nicht jeder Geist, den man ruft, lässt sich wieder verbannen. Und ohne Meister, der in großer Not helfen kann, gibt es für manchen Zauberlehrling ein böses Erwachen … oder gar keines mehr.

von Adaon

Achtung: Die vorliegende Rezension behandelt ein Quellenbuch. Um darüber zu schreiben, sind Spoiler notwendig – wer die Ereignisse aus „Gestohlene Seelen“ und damit den aktuellen Metaplot des „Shadowrun“-Universums noch als Spieler erleben möchte, sollte nicht weiterlesen. (Aber er sollte ein Exemplar des Buches seinem Spielleiter schenken. Es ist umfangreich – immerhin 237 DIN-A4-Seiten –, gebunden, günstig – nur 19,95 EUR – und voller Material. Ehrlich, er wird sich freuen.)

Nun aber zur Rezension: Eine böse Sache breitet sich aus, und niemand ist sicher. Eine Krankheit, die Körper stiehlt und eine eigene Agenda verfolgt. Angedeutet im ersten Abenteuer für „Shadowrun 5“, „Tödliche Fragmente“, und als düstere Bedrohung behandelt in „Sturmfront“, wirft nun „Gestohlene Seelen“ nicht einfach einen Blick hinter den Vorhang – es reißt ihn herunter und leuchtet die Hässlichkeit mit Scheinwerfern aus. Die Bedrohung wird nicht einfach spielmechanisch beschrieben, sondern im Kontext einer Schattendatei des Jackpoints werden die Informationen zusammengetragen. Die Größe der Bedrohung, die Ohnmacht ihr gegenüber, der Verlust wichtiger Charaktere in den Schatten sowie die immer deutlichere Realisierung, dass es jeden erwischen kann und man niemandem trauen kann, wirkt nahezu übermächtig. Dies sorgt für ein Gefühl der Hilflosigkeit, welches sich schleichend auf den Leser überträgt: Wie bekämpft man einen Feind der „aus dem Inneren“ kommt?

Ohne zu viel zu verraten: Etwas ist schiefgelaufen in den Laboren der Konzerne, und nun kann es nicht mehr kontrolliert werden. Eine Krankheit, bei der sich die Persönlichkeit der Opfer verändert. Man hat dieser neuen Krankheit den Namen „Kognitives Fragmentierungssyndrom“ gegeben, kurz KFS. Man kann es nicht bekämpfen, kaum aufhalten und man verliert seine Seele. Doch der Körper ist nicht tot – er gehört nun jemand anderem.

Nach der düsteren, großartigen Einleitung über Funktionsweise, Ausbreitung und vermutete Herkunft dieser neuen Krankheit geht der Quellenband zu den öffentlichen Reaktionen dieser sich pandemisch ausweitenden Krise über. Noch ist keine weltweite Panik ausgebrochen, da Regierungen und Konzerne zum größten Teil versuchen, die Informationen zu kontrollieren und selbst zu verstehen, was KFS ist und wie es beherrscht oder bekämpft werden kann. Eine Menge Potenzial für Runs auf beiden Seiten dieser Entwicklung sind denkbar oder werden angedeutet.

Da KFS auch wichtige Persönlichkeiten ganz weit oben in Hierarchien befallen kann, beschäftigt sich ein großer Teil von „Gestohlene Seelen“ mit der Möglichkeit für Runner, sich hier nützlich zu machen: Extraktionen. Sei es, dass ein veränderter Manager möglichst „unauffällig“ von seinem Posten geholt werden soll, sei es, dass eine Konzern-Forschungseinrichtung „freiwillige“ Probanden für Experimente braucht, ob nun befallen oder nicht, sei es, dass jemand die Chance sieht, unliebsame Rivalen aus dem Weg zu räumen, oder dass man vermutet, ein medizinischer Experte von außerhalb könnte im eigenen Konzern mehr erreichen. Hinzu kommt: Die Zusammenarbeit selbst innerhalb eines Konzerns schwindet mit dem Vertrauen, und das Vertrauen schwindet mit dem Wissen über KFS. Es kann also auch Runs gegen einen Konzern innerhalb desselben Konzerns geben. Über 50 Seiten bieten Spielern Ideen und Ausrüstung, um ihre Zielperson zu bekommen, von Psychologie und Abläufen, über neue Zauber, Adeptenkräfte und Drogen wirkt es, als wäre an alles gedacht.

Ein ganzer Abschnitt beschäftigt sich mit New York und dem dort herrschenden Konzernrat MDC. „The Rotten Apple“ wird breit vorgestellt, von der aktuellen Politik, den Machtspielern und ihren Interessen, den Stadtteilen, der Sicherheit bis zu zahlreichen für Schattenoperationen interessanten Orten wird viel geboten.

In der deutschen Ausgabe kommt als netter Bonus der „Pandemieplan ADL“ hinzu. Runner in den deutschen Schatten erhalten mit zahlreichen Hintergrundinformationen zu aktuellen Machtspielen und -verschiebungen, Interessenskonflikten und den sich abzeichnenden Positionen der jeweiligen Machthaber genug Infos, um zu wissen wohin sie sich für Arbeit wenden müssen beziehungsweise wem man besser nicht auf die Füße (oder Klauen) treten sollte. Natürlich weiß wie immer nur der Spielleiter für seine Welt, was davon tatsächlich harte Fakten oder weiche Fiktion sind. Für alle Fälle ist ein Abschnitt nur für Spielleiter enthalten, die genaueres wissen wollen (oder müssen) und im offiziellen „Shadowrun“-Hintergrunduniversum bleiben wollen.

Fazit: So muss ein Quellenbuch aussehen. Massenhaft Informationen, aus verschiedenen Blickwinkeln zusammengetragen. Übersichtliche Darstellungen der Welt, der Reaktionen verschiedener Machtspieler und viele Möglichkeiten, die Ereignisse für Abenteuer zu nutzen, im Hintergrund passieren zu lassen oder auch eine komplette Kampagne zu erstellen. Der Metaplot der Welt von „Shadowrun“ wird ein großes Stück vorangebracht. Weiterhin kann man sich bei einem Hardcover und in dieser Qualität bei diesem Preis nicht beschweren. Nicht jeder Spieler wird ein Exemplar brauchen, aber Spielleiter, die den derzeitigen Metaplot verfolgen und/oder ihre Spieler herausfordern wollen, können bedenkenlos zugreifen.


Gestohlene Seelen
Quellenband
David Ellenberger, Jason M. Hardy, Lars Blumenstein, Tobias Hamelmann u.a.
Pegasus Spiele 2014
ISBN: 978-3941976962
237 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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