Expeditionen

Die 1920er sind nicht nur der primäre Spielhintergrund für „Cthulhu“, sondern auch die Zeit, in der zahlreiche „weiße Flecken“ auf der Landkarte durch wagemutige Expeditionen ausgeräumt wurden. Die Faszination des Exotischen, der Lockruf von Ruhm und Reichtum, das Unberührte und das Ungezähmte: All dies sind Zutaten für gefährliche und außergewöhnliche Abenteuer abseits der altbekannten Bibliotheken, Straßenschluchten und Polizeistationen. Vermag es der hochwertige Band, diese Terra Incognita des Schreckens für die Spieler und Spielleiter erfahrbar zu machen? Packt die Rucksäcke und schnürt die Stiefel, wir machen uns auf in das Herz der Finsternis.

von Oliver Adam

Ebenso spannend wie die Reisen ins Unbekannte selbst, ist die Vorgeschichte des Bandes. Bereits 2006, als „Cthulhu“ bei Pegasus gerade den Kinderschuhen entschlüpft war, erschien die erste Version des Buches und war innerhalb kürzester Zeit vergriffen, sodass teilweise astronomische Summen auf den bekannten Portalen aufgerufen wurden. Nun ist die Zeit gekommen, die Spielrunden erneut auf Expeditionen in alle Welt zu schicken. Gegenüber der Auflage von 2006 wurde ein neuer Regelteil zur logistischen Abwicklung von Expeditionen verfasst, zudem wurden zwei der ursprünglichen Abenteuer durch neue ersetzt – hierzu weiter unten mehr.

Die Aufmachung des rund 180 Seiten starken Hardcovers macht bereits einiges her und überzeugt mit einer vollfarbigen Gestaltung, eindrucksvollem Karten- und Handoutmaterial sowie einem roten Lesebändchen. Auch wenn die Farbigkeit sehr zurückhaltend und gezielt eingesetzt wird, unterstreicht sie die Wirkung der Handouts, der Charakterkästen und des Kartenmaterials ungemein und legt eine ordentliche Schippe an Wertigkeit gegenüber der schwarz-weißen Auflage von 2006 drauf. Bevor wir zum Inhalt kommen, an dieser Stelle noch ein Hinweis auf mögliche Spoiler in den folgenden Absätzen, da ich auf wesentliche Handlungselemente der Abenteuer eingehen werde. Wer sich vor Spoilern schützen möchte, ist eingeladen, gleich zum Fazit zu springen.

Der Regelteil „Wege ins Unbekannte“ eröffnet den Band mit den realen und fiktiven Expeditionen des 19. und 20. Jahrhunderts und führt drei größere Unternehmungen weiter aus: die Suche nach der verlorenen Stadt Z (1927), die Deutsche Grönland-Expedition (1929) sowie die Suche nach dem Kristallschädel (1924). Kernthema des Kapitels ist jedoch die logistische Abwicklung einer Expedition, angefangen von dem Aufhänger der Unternehmung (wie Aufträge, die Suche nach Artefakten oder Rekordjagden) über die Finanzierungsmöglichkeiten bis zur Abwicklung in der Fremde. Regeltechnisch wird das neue Attribut „Ressource“ (RE) eingeführt, über das unkompliziert ermittelt werden kann, ob eine dringend benötigte Ressource wie Ausrüstung, Proviant, Treibstoff oder sonstige Materialien vorrätig ist. Der Ressourcenwert errechnet sich aus den planerischen Fertigkeiten der Organisatoren und wird durch Rahmenbedingungen wie Zeitdruck, Finanzierungsgrad und Materialverbrauch modifiziert. Eine sehr sinnvolle Regelung, die den narrativen Aspekt der „Cthulhu“-Abenteuer unterstützt und langwieriges Aufstellen von Materiallisten vermeidet. Die Spieler möchten schließlich möglichst schnell in die Geschichte eintauchen und kein Logistik-Seminar besuchen.

Sofort im Rauschen der aufbrausenden Geschichte sind die Investigatoren dann in dem Abenteuer „Ewiges Eis“. Auf einer Zugfahrt durch Deutschland werden sie in einen verpatzen Mordanschlag auf einen Mitreisenden verwickelt und geraten so über ein mysteriöses Stück Eis und einen Auszug aus einem Mythos-Buch in die Machenschaften eines Kultes, der eine neue Eiszeit anbrechen lassen möchte. Untersuchungen in Deutschland und Schweden führen schließlich zu einer Expedition nach Grönland, deren Teilnehmer vollkommen unterschiedlichen Fraktionen angehören. Das Ziel: ein verschollenes Luftschiff ausfindig zu machen. An einem Mythos-Ort im ewigen Eis zerbricht schließlich die zusammengefrorene Gemeinschaft der Expeditionsteilnehmer und es kommt zum Showdown auf dem gestrandeten Luftschiff. – Das Abenteuer überzeugt durch einen innovativen Plot und schillernde Charaktere. Der Spielleiter sollte darauf achten, den Investigatoren genug Handlungsanreize für eine derartige Reise zu geben. Ebenso sollte er sich mit der Motivation der Mitreisenden und den verschiedenen Handlungssträngen im Höhepunkt des Abenteuers auseinandersetzen, um diesen wie ein Eisbruch über die Investigatoren hereinbrechen lassen zu können. Besonders erwähnenswert sind auch die auf www.pegasusdigital.de herunterladbaren Audio-Handouts. In diesem Falle eine auf einem Phonographen abgespielte Wachswalze.

„Herz der Finsternis“ spielt im Belgisch-Kongo des Jahres 1925 und verwendet Motive aus dem gleichnamigen Roman Joseph Conrads. Die Investigatoren sind Teilnehmer einer Expedition auf der Suche nach der saurierähnlichen Kreatur Mokele-Mbembe, die im Kongo leben soll. Nach einer strapaziösen Reise gelangen sie schließlich an eine alte und vergessene Handelsstation tief im Hinterland, in der ein verschollen geglaubter Agent eine grausame Schreckensherrschaft aufgebaut hat. Auch die Expeditionsteilnehmer verfallen zunehmend dem Wahnsinn und offenbaren vollkommen andersartige Charakterzüge. Die Auseinandersetzung mit dem Widersacher führt die Investigatoren schließlich wortwörtlich ins Herz der Finsternis (wiederum untermalt durch tolle Audio-Handouts). – Das Abenteuer ist für den Spielleiter sicherlich das herausforderndste des Bandes. Es bedarf intensiver Auseinandersetzung mit dem Abenteuer, den Fähigkeiten des Antagonisten und dem graduellen Abstieg der Expeditionsteilnehmer in den Wahnsinn. Darüber hinaus ist der Höhepunkt ungewöhnlich und muss vom Spielleiter mit Fingerspitzengefühl aufgebaut werden. Schwierig empfinde ich auch eine Szene, bei der im Abenteuertext eine Gefangennahme der Gruppe vorgesehen ist. Ein ganz besonderes Abenteuer, das durch seine Andersartigkeit und Subtilität überzeugt und mit der richtigen Spielleiter- und Gruppenkonstellation unvergessliche Spielrunden bescheren kann.



Überhaupt nicht ruhig geht es in „Die letzte Ruhe der Minna B.“ zu. Vor der norwegischen Küste ist ein Frachtschiff verschwunden – und der einzige Überlebende taucht einige Tage später in einem Bergdorf in Neuguinea auf. Die Investigatoren werden in die deutsche Kolonie entsandt, um diese außergewöhnliche Begebenheit zu überprüfen. Dort treffen sie auf einen archaischen Stamm und einen Missionar, der einiges zu verbergen hat und die Investigatoren mit allen Mitteln behindert. Bei ihren Recherchen unter den Eingeborenen und der Beschattung des Missionars können sie hinter das Geheimnis der „Verbotenen Zone“ kommen, die ein magisches Tor aus der Zeit der Schlangenmenschen beherbergt, welches sich immer wieder öffnet und Schiffe ins Tal saugt. Unglücklicherweise steht der Missionar gerade kurz davor, das Tor auch in der Zeit zu öffnen und dadurch die Apokalypse zu initiieren. – Ein herausragend spaßiges Abenteuer, das einiges an Action und zahlreiche Pulp-Elemente liefert und es dem Spielleiter mit seinen schillernden Charakteren und eindrücklichen Beschreibungen einfach macht.

Gegenüber der Auflage von 2006 neu hinzugekommen ist das Abenteuer „Der Fluch des goldenen Armbands“. Hier werden die Investigatoren im Auftrag des deutschen Museums auf eine Expedition in den karibischen Raum geschickt. Dort sollen sie den Verbleib der zweiten Hälfte eines goldenen Armands ergründen, dessen anderer Teil aus einem Vermächtnis an das Museum fiel. Dort stoßen sie auf einen Ahtu-Kult, der mit dem zusammengefügten Armband ganz eigene Ziele verfolgt. – Exotische Locations, mysteriöse und verkrüppelte Kultmitglieder, Voodoo-Magie und ein Beschwörungs-Showdown zeichnen das Abenteuer aus.

„Polaris“ ist ein weiteres neues Abenteuer, das die Investigatoren an den Nordpol und auf die Spuren von Roald Amundsen führt, einem Forscher, der tatsächlich existiert hat und auch sehr ähnlich wie im Abenteuer beschrieben verschwunden ist (siehe auch das Buch „Amundsens letzte Reise“ von Monika Kristensen sowie der Film „Amundsen“). Angetrieben von seiner Verlobten reisen die Investigatoren mit einem Forschungszeppelin zum Nordpol und entdecken dort ein verlorenes Mythos-Reich im Übergang zu den Traumlanden. Dort zeigt sich, dass die Verbündeten ganz andere Ziele verfolgen und diese rücksichtslos durchsetzen. Die Investigatoren werden froh sein, wenn sie unbeschadet zurück in die Wache Welt gelangen können. – Ein spannendes Abenteuer am Nordpol, bei dem der Spielleiter vor allem den Übergang zwischen den Welten und die Andersartigkeit des Finales in den Traumlanden fokussieren sollte.

Gegenüber der Auflage von 2006 weggefallen sind die zwei Abenteuer „Curso Cannibale“ und „Die vergessene Stadt“. Während „Die vergessene Stadt“ die legendäre Stadt Paititi in den Anden zum Thema hat, die eine subtile und zersetzende Wirkung auf jeden hat, der sich darin befindet, ist „Curso Cannibale“ eine Geschichte vom Großen Fressen eines Mardiggian-Kultes und entsprechend des Abenteuernamens spielt auch der Kannibalismus keine untergeordnete Rolle. Gerade bei „Curso Cannibale“ liegt dieser Verlust schwer im Magen, da die Ereignisse darin erschreckend unappetitlich sind.

Fazit: Nach Lovecraft ist das älteste Gefühl der Menschheit die Furcht vor dem Unbekannten. Nirgendwo sonst steht der Mensch so auf sich allein gestellt dem Unbekannten gegenüber als in der absoluten Fremde. Diese Terra Incognita des Schreckens macht der Abenteuerband „Expeditionen“ für Spielleiter und Spieler in hervorragender Weise erfahrbar. Ein kurzer Regelteil thematisiert die logistische Abwicklung von Expeditionen und fünf durchgängig beeindruckende Abenteuer bieten Horrortrips in die unwirtlichsten Flecken des Erdballs. Viele Wege führen ins Herz der Finsternis, man muss ihnen nur folgen – und diesen herausragenden Abenteuerband kaufen.

Expeditionen
Abenteuerband
Ingo Ahrens, André Frenzer, Peer Kröger, Andreas Osterroth, Kaid Ramdani, Sebastian Weitkamp
Pegasus Press 2020
ISBN: 9783969280058
180 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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