Clementine – Buch Eins

„The Walking Dead“ ist bekannt. Die junge US-Autorin Tillie Walden präsentiert jetzt ihre Interpretation der Clementine aus dem beliebten Telltale Game. Clementine ist darin als Teenagerin unterwegs und begegnet nicht nur ihrer ersten Liebe, sondern schlägt sich neben Zombies mit alten Dämonen herum. Dabei ist sie stets darum bemüht, nicht ein weiteres Mal von einem Zombie gebissen zu werden, oder von ihren Erinnerungen aufgefressen zu werden. Wer hat Interesse an einer Geschichte über das Erwachsenenwerden – erzählt aus der weiblichen Perspektive?

von Daniel Pabst

Autorin und Zeichnerin von „Clementine – Buch Eins“ ist Tillie Walden („Auf einem Sonnenstrahl“, „West, West Texas“ oder „Pirouetten“). Hiermit wagte sie sich an die berühmte Serie „The Walking Dead“ von Robert Kirkman. Dessen Urteil lautet, so steht es auf dem Hinterdeckel des in diesem Jahr bei Cross Cult erschienen Comics: „Tillie Walden ist die Zukunft. Ihre mutige, authentische Stimme führt die Welt von The Walking Dead zu ganz neuen Höhen“. Na, dann wollen wir uns diesen Titel mal genauestens anschauen!

Clementine ist eine Figur aus der „The Walking Dead“-Game-Adaption von Telltale Games. Wer diese vier Staffeln gespielt hat, der bringt Hintergrundwissen mit, welches für das Lesen dieses Comics nicht schaden kann. Wer dagegen keinen Bezugspunkt zu „The Walking Dead“ und dem Mädchen Clementine hat, ist hier dennoch nicht verkehrt. Denn Tillie Walden lässt ihre Heldin in kurzen Flashbacks immer wieder auf wichtige Ereignisse aus dem Computerspiel zurückblicken. Somit versteht man ihren Comic auch ohne Vorkenntnissen.

Besonders ins Auges sticht, dass der gesamte Comic ohne Farben auskommt. Das kennt man so aus der Welt der Mangas – selten jedoch beweisen Comiczeichner und Comiczeichnerinnen den Mut, ihre Zeichnungen pur und aufs Wesentliche reduziert stehen zu lassen. Bei „Clementine – Buch Eins“ hat das Vor- und Nachteile. Zum einen spiegelt die Farblosigkeit die Welt einer Zombieapokalypse wider. Die Umwelt ist – à la „Die Nacht der lebenden Toten“ von George A. Romero (1968) – aller Farben beraubt worden, die Seelen wandern ruhelos umher und die wenigen noch lebenden Menschen müssen ihre Gefühlswelt bis aufs Wesentliche reduzieren, um zu überleben und nicht am Schrecken zu zerbrechen. Freundschaften werden zu Zweckbeziehungen. Wie trist.
 
Tillie Walden erweitert diesen Effekt sogar noch, indem sie die Handelnden hinaus in die Natur schickt, wo die Zivilisation ohnehin fernliegt. Clementine und ihr Begleiter, der amische Jugendliche namens Amos, wandern in eine verlassene und abgelegene Berggegend, in der Schnee und Windstürme der Alltag sind. Aus romantischen Schneeflocken werden Schneestürme und Lawinen, die durchs Land rollen. Und als Clementine in ein schwarzes Loch springt, um eine neue Weggefährtin zu retten, versinken wir mit ihr in eine Welt der Schwärze.

All diese Vorteile der Schwarz-Weiß-Kunst täuschen nicht darüber hinweg, dass man sich beim Lesen der insgesamt 256 Seiten das ein und andere Mal die Welt der Farben zurückwünscht. Vor allem, wenn man zuvor das schön illustrierte Cover dieses Comics angesehen hat – und dieses einen vielleicht zum Kauf angeregt hat. Warum also hat Tillie Walden komplett auf die Farben verzichtet? Da hätte es – ähnlich mancher Filmklassiker – die Gelegenheit für einzelne Farbeffekte gegeben. So hätte das Cover zumindest auch farblos sein müssen!

Der Geschichte dagegen tut dieser Kritikpunk allerdings keinen Abbruch. Diese ist überzeugend und auch berührend. Statt endlosem Zombiegehaue gibt es hier eine Teenager-Coming-of-Age-Geschichte. Clementine ist kein Mädchen mehr, sondern eine Jugendliche, die sich damit arrangiert hat, dass sie den Großteil ihres linken Beines verloren hat. Statt sich alleine rumzuschlagen, lernt sie, dass es Freundschaften braucht, um zu überleben. Die Gruppe aus Clementine, Amos, einer Jugendlichen mit starker Sehschwäche und zwei weiblichen Zwillingen baut an einem Paradies, in dem die Zukunft der Menschheit Sicherheit finden soll.

Dass diese Utopie nicht problemlos zu verwirklichen wäre, erklärt sich eigentlich von selbst. Und so fiebern die Leserinnen und Leser mit, wie sich das Zusammenleben der völlig unterschiedlichen Teenager entwickelt. Die Erwachsenen sind selten zu sehen; eine Statistenrolle nehmen sie dann aber dennoch nicht ein (zum Beispiel erhält Clementine gleich zu Beginn eine Beinprothese, die sie überhaupt erst die zu bestehenden Hindernisse bezwingen lässt). Wer trotzdem an „Herr der Fliegen“ von William Golding aus dem Jahre 1954 denkt, oder an den modernen Comic „Sentient – Kinder der K.I.“ von Jeff Lemire und Gabriel Walta aus dem Jahr 2020, ist gar nicht so weit weg. Man darf gespannt sein, wie es für „Clementine“ in den Fortsetzungen weitergehen wird.

Leseprobe

Fazit: Eine Zombieapokalypse, in der Jugendliche die Hauptrolle einnehmen – allen voran Clementine, die gezeichnet durch einen Zombiebiss ihr Bein amputieren ließ und sich jetzt den Weg freischlägt. Tillie Walden schickt ihre Protagonistin auf einen Selbstfindungstrip, auf dem der Schmerz und das Leid nie ganz zu verschwinden scheinen. Wie viel Menschlichkeit steckt in den durch die Apokalypse gezeichneten farblosen (Kinder-)Seelen? Auf den Spuren der Trostlosigkeit folgt die Leserschaft einer zu allem entschlossenen Teenagerin, die nie aufgibt. Wer kein Problem damit hat, dass die Zombies gegenüber Teenagersorgen und moralischen Dilemmata in den Hintergrund treten, den wird dieser Comic happy machen. Und bis zum Erscheinen von Buch Zwei gibt es noch weitere Werke von Tillie Walden, die hierzulande beim Comic-Verlag Reprodukt erschienen sind ...

Clementine – Buch Eins
Comic
Tillie Walden
Cross Cult 2023
ISBN: 978-3-98666-055-0
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: 26,00 EUR

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