City of Angels

Montag, der 14. Juli 1941. Der Captain des LAPD schildert euch die Lage: „Nun gut, dann erklär’ ich euch Grünschnäbeln mal, wie es so läuft. Hier wird alle paar Tage jemand abgeknallt. Gewöhnt euch dran. Hier ist die Akte, und jetzt bringt mir den Täter oder die Täterin, das Motiv und die Tatwaffe. Aber glaubt bloß nicht dem leeren Geschwätz des „Stichels“. Was wartet ihr so lange: Na los, es eilt!“

von Daniel Pabst

„City of Angels“ ist ein Brettspiel von Evan Derrick, das im Jahr 2021 bei Pegasus Spiele erschienen ist. Die groß ausgefallene Spielschachtel beinhaltet 9 Fälle, sortiert in 9 einzelnen Schachteln mit insgesamt 118 Fall- und Geheimniskarten, 204 Durchsuchungskarten, 97 Antwortkarten, 5 Ermittlungsakten, 5 Tableaus, 4 Ermittler-Spielfiguren, 37 Pappfiguren der Verdächtigen, 32 Druckmittel, 32 Ermittlungsanzeiger, 16 Aktionswürfel, 9 Übersichtstafeln, 36 Karten, 1 adaptives Antwortkartensystem (AAK), 1 Buch für die Soloversion, 1 Tutorial, 1 Spielplan, 1 Block mit Untersuchungsbögen und diverse Plättchen und Marker.

An dem Herzensprojekt „City of Angels“ saß der Autor stolze 5 Jahre. Nach einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne und etlichen positiven englischsprachigen Kritiken war es nur noch eine Frage der Zeit, wann dieses Brettspiel auch bei uns in deutscher Sprache erscheinen würde. Pegasus Spiele ist es dann gelungen, sich „City of Angels“ zu sichern, und in diesem Jahr allen Brettspiel-Fans, und denen die es werden wollen, zu präsentieren.

Die Inspirationen für das Spiel waren sowohl klassische „Noir“-Filme wie „Tote schlafen fest“, literarische Werke von James Ellroy, dessen Tetralogie „L.A. Quartett“ uns Evan Derrick im Regelbuch als „bahnbrechend“ und „Pflichtlektüre für hartgesottene Krimiliebhaber“ empfiehlt, sowie „L.A. Noire“ von Rockstar Games, dessen innovatives Verhörsystem den Ursprung für das adaptives Antwortkartensystem (AAK-System) bietet.

Thematisch sehr passend ist das Intro von „City of Angels“ gehalten, was da lautet: „In dieser Stadt geht kaum n Tag rum, ohne dass irgend’n Schwachkopf dran glauben muss oder ne Puppe kaltgemacht wird. Gäb ja keine Engel, wenn nich n paar Leute die Bürde ihres irdischen Daseins abschütteln würden, oder? Also, ich sag nich, dass hier nich mal n bisschen aufgeräumt werden könnte ... da bin ich ganz bei dir! Aber wenn du’s zu was bringen willst in dieser Stadt, kommste blitzsauber nich weit. Man muss sich schon auch mal die Hände schmutzig machen. So läuft das einfach. Oh, und Glückwunsch zum Detective!“



Und schon ist man mittendrin bei „City of Angels“, und wird mit neun Kriminalfällen des LAPD der 1940er Jahre konfrontiert. Nachdem man sich für einen „Detective“ (zwei weibliche und zwei männliche Charaktere stehen zur Auswahl) entschieden, die entsprechende Figur ausgewählt, die Ermittlungsakte erhalten und sein Tableau mit entsprechenden Markern und Plättchen vor sich ausgebreitet hat, lautet die spannende Frage: Und wie spielt man jetzt den eigenen „Detective“ in L.A., um die Fälle erfolgreich zu lösen?

Im „Klassischen Modus“ schlüpft eine Mitspielerin oder ein Mitspieler in die Rolle des „Stichels“. Dieser Name ist eine alte Bezeichnung für den Betrüger, die aus dem Genre der „Noir“-Filme stammt. Dieser fungiert zum einen als Spielleiter, zum anderen als hinterlistiger Gegenspieler der Ermittlerinnen und Ermittlern am Spieletisch. Wer nicht den „Stichel“ verkörpert, untersucht also das Mordgeschehen auf eigene Faust. Im Kontrast zu vielen Krimi- und Rätselspielen wird bei „City of Angels“ im „Klassischen Modus“ nicht kooperativ gespielt und gearbeitet. Dieser klare Unterschied präsentiert sich immer wieder im Spielverlauf. Die Charaktere der Spieler sind keine englischen Gentleman im Stil von Sherlock Holmes und Doktor Watson. Ganz im Gegenteil. Es werden Schläger angeheuert, es wird Schutzgeld von ruchlosen Orten eingetrieben und man hält Beweise dem restlichen Team des Police Departments vor. Dadurch, dass ein Großteil der Informationen über die die einzelnen „Detectives“ verfügen, privat gehalten wird, entsteht bei „City of Angels“ ein vollkommen anderes Spielgeschehen und -gefühl, als beim gemeinschaftlichen Rätseln.

Am Ende kann es auch im LAPD nur eine beste Spürnase geben. Entweder gewinnt der Detective, der die richtige Kombination an Täter, Mordwaffe und Mordmotiv dem „Stichel“ zuerst berichtet oder aber, falls dies niemanden gelingt, gewinnt eben der „Stichel“. Dabei wird der „Stichel“ im Spiel versuchen, durch geschickt gelegte falsche Fährten die wahren Umstände des Vorfalls erfolgreich zu verschleiern. Trotz des kompetitiven Modus, steht im „Klassischen Modus“ der Spielspaß und das sehr schön umgesetzte „Film noir“-Thema im Vordergrund, sodass der „Triumph“ über die Konkurrentinnen und Konkurrenten in den Hintergrund rückt.



Besonders reizvoll an „City of Angels“ ist, dass bevor man sich diesem kompetitiven Modus widmet, zumindest die Person, welche für diesen Fall die Rolle des „Stichels“ übernimmt, die Gelegenheit wahrnehmen sollte, den gleichen Kriminalfall zuvor im Solomodus zu erleben. Dadurch erhält der „Stichel“ die Krimigeschichte mittels Solobuch, welches ähnlich wie ein Spielbuch funktioniert, aus einer anderen Perspektive, und macht sich selbst an das Lösen des Falles. Danach kann man viel besser die Mitspielerinnen und Mitspieler grübeln lassen. Dies hat so nicht nur den Vorteil, dass man im Anschluss die Denkweise der Ermittlerinnen und Ermittler gut nachvollziehen kann, sondern dass jeder am Tisch die Freude hatte, den Fall selbst zu lösen.

Doch „City of Angels“ bietet weitere Möglichkeiten, was noch einmal zeigt, dass der Autor ein durchdachtes, ausgeklügeltes Spiel entwickelt hat. Sind nämlich nur zwei Spielerinnen oder Spieler anwesend, und man möchte nicht den Solomodus einfach zu zweit spielen, dann besteht die Option im „Duell-Modus“ gegeneinander anzutreten. Es spielen dann ein „Stichel“ gegen einen „Detective“ des Police Departments. Diese Variante aber sollte nicht als der primär gedachte Spielmodus von „City of Angels“ angesehen werden, da hier für den „Detective“ der Zeitdruck durch die Aktionen und die Interaktionen der anderen „Detectives“ fehlt, und daher als eine Art Ausweichmöglichkeit dient, falls mal momentan kein dritter „Detective“ auf der Wache ist, oder anderweitig in L.A. beschäftigt ist …

Der Kernmechanismus von „City of Angels“ ist das Verhör. Hier wird eine Verdächtige oder ein Verdächtiger mit Fragen „gelöchert“ oder auch mal durch die Androhung von Zwang unter Druck gesetzt. Denn in diesem Brettspiel sagen die Verdächtigen nicht einfach die reine Wahrheit. Ganz im Gegenteil sind diese auch in der Lage Lügen zu erzählen und einen bewusst in die Irre zu führen. Der „Stichel“ darf sich hierbei aus einem Set an Antworten bedienen (AAK-System) und entscheiden, welche Antwort er daraus der fragenden Person präsentiert. Dieser wiederum verfügt über die Möglichkeit, die Aussage des Befragten anzuzweifeln. Wurde gelogen, so muss im Anschluss die nützlichste Antwort dem Ermittler gezeigt werden und zusätzlich kann dieser im Laufe der Partie auch Druck auf den Verdächtigen ausüben. Wurde hingegen die Aussage der beschuldigten Person zu Unrecht angezweifelt, so erhält der „Stichel“ von der Detektivin oder dem Detektiv ein Druckmittel. Dieses kann er später verwenden, um sich bei einem neuen Verhör zu weigern, eine Antwort zu geben. Hierbei bedarf es also eines gewissen Feingespürs, wann welche Antworten angezweifelt werden, beziehungsweise, was man glaubt und was nicht. Vorkenntnisse aus anderen Verhören geben dabei eine Hilfestellung, und sollten stets im eigenen, vor den anderen geheim gehaltenen, Ermittlungsbogen notiert werden.



Falls nach einigen Partien die Ermittler dann keine Grünschnäbel mehr sind, sondern mehr und mehr zu alten Hasen im LAPD werden, kann durch das Hinzunehmen der Gunst- und Gangsterkarten noch mehr Dynamik geschaffen werden. Durch die Gunstkarten hat jeder „Detective“ bei einem Charakter in L.A. noch einen Gefallen gut, wodurch dieser eine einmalige Sonderfähigkeit erhält. Im Gegenzug rekrutiert der „Stichel“ einen Gangster und darf einmalig durch diese Karte das Spielgeschehen und damit die Pläne der Mitspielerinnen und Mitspieler manipulieren. Somit entsteht nicht nur ein neuer Schwierigkeitsgrad, sondern bietet auch individuelle Anpassungen.

Insgesamt enthält „City of Angels“ neun, unterschiedlich gelagerte, Fälle, die da lauten: „Blut auf dem Pier“ (Grünschnabel), „Mord am Sunset“ (Grünschnabel), „Flucht nach nirgendwo“ (Grünschnabel), „Bloody Christmas“ (Erfahren), „Die letzte Umarmung“ (Erfahren), „Mord an Halloween“ (Erfahren), „El Fantasma“ (Abgebrüht), „Der letzte Fehlschlag“ (Abgebrüht) sowie „Schwarzer König“ (Abgebrüht). Der jeweilige Spielinhalt ist in einer eigenen verschlossenen Pappschachtel aufbewahrt, was so die Geheimhaltung vereinfacht. Je nach Schwierigkeitsgrad, aufsteigend von Grünschnabel zu Erfahren zu Abgebrüht, nimmt der Inhalt des Falls zu. Die einzelnen Verdächtigen der Fälle sind zahlreich und alle auf einem Ausstanzbogen abgebildet, sodass es sich empfiehlt, dass diese vorab nur vom Stichel angesehen werden. Besonders dekorativ – einem Filmplakat ähnelnd – sind die Cover der neun Aufbewahrungsboxen für die Fälle. Wer sich von dem restlichen Inhalt von „City of Angels“ nicht beeindrucken lassen konnte, der wird spätestens nach dem Betrachten dieser neun „Plakate“ in Miniaturform hingerissen sein!

Kommen wir zum Höhepunkt des „Film noir“ oder zur Falllösung bei „City of Angels“: Zu Beginn eines Zuges darf ein Ermittler versuchen, den Fall zu lösen. Hierfür wird die mutmaßliche Kombination aus Täter oder Täterin, Mordwaffe und Motiv auf den eigenen Untersuchungsblock notiert, welcher im Anschluss an den „Stichel“ weitergereicht wird. Dieser notiert die Anzahl der richtigen Vermutungen, nicht jedoch, welche der Vermutungen richtig oder falsch waren. Konnten nicht alle drei richtigen Antworten gegeben werden, so gilt es für den „Detective“ sich bis zum Ende des Spiels zu gedulden, da von dieser Person nicht erneut ein Tipp abgeben werden darf. Gelingt es einem Ermittler jedoch auf Anhieb, die richtige Kombination zu treffen, so wird ab diesem Zeitpunkt das Spielgeschehen interveniert und der Epilog vorgelesen.



Nachdem alle Spielrunden beendet sind, und kein „erster Tipp“ erfolgreich war, darf jede Ermittlerin oder jeder Ermittler ein letztes Mal seine finale Anklage durchführen. Hat es hierbei keiner geschafft, alle Puzzleteile des Kriminalfalls zusammenzusetzen und die korrekte Vermutung vorzulegen, so siegt alleinig der „Stichel“. Der Fall wird eingestellt und zu den Akten gelegt, obwohl der Mörder oder die Mörderin immer noch auf freiem Fuß ist, und in L.A. sein Unwesen treibt …

Ein Fall enthält Spielspaß für etwa ein bis zwei Stunden. Damit diese Zeit so unterhaltsam, spannend und intensiv wie möglich ist, ist es die Aufgabe des „Stichels“, führende Spielerinnen oder Spielern auszubremsen oder einzelnen „Detectives“, welche sich vollkommen auf dem Holzweg befinden, zu helfen. Dabei ist das adaptives Antwortkartensystem (AAK-System) sehr gelungen und lässt dem „Stichel“ den passenden, auch für ihn sehr unterhaltsamen Raum für Spielanpassungen. Wer da an die für einen „Dungeon Master“ unterhaltsame Rolle als Spielleiter von Rollenspielen (RPG) denkt, ist gar nicht so weit weg von der Rolle des „Stichels“. Die Möglichkeiten sind durch vorgegebene Antwortkarten bei „City of Angels“ zwar nicht so „endlos“ wie die Fantasie eines Spielleiters oder einer Spielleiterin bei einem RPG, passen aber für den vorgegebenen Rahmen eines kompetitiven Krimi-Brettspiels hervorragend.

Ab und zu kann es bei einer größeren Anzahl von Spielern zu gewissen „Wartezeiten“ kommen, in denen der „Stichel“ einer Person eine Antwort geheim präsentiert, diese sie anzweifelt oder sich die Antwort notiert. Ausgeglichen wird dies aber dadurch, dass die Mitspielerinnen und Mitspieler durch Geldzahlungen die Antworten „belauschen“ können. Dies funktioniert so, dass sich die anderen überlegen, ob sie für Geld einen „Spitzel“ anheuern und dadurch auch die Antwort gezeigt bekommen, ohne persönlich am Ort der verdächtigen Person zu sein. Die Antworten sind besonders nah an dem orientiert, wie man es sich von Verbrechern aus L.A. in den 1940er Jahren oder einem Kinofilm über diese Zeit vorstellt. Thematisch ist „City of Angels“ allein durch dieses Antwortsystem einfach top umgesetzt worden. Natürlich können neben dem Verhör auch Orte oder Personen durchsucht werden, um so zum Beispiel Indizien oder eine Tatwaffe zu finden. Hat man bei der Suche Erfolg, hat man sich oft einen Vorteil gegenüber den anderen erspielt, die den Hinweis erst später oder durch eine Geldzahlung zu Gesicht bekommen werden.



Der Spielplan von „City of Angels“ fällt der Spielschachtel entsprechend groß aus. Als Inspiration diente dem Autor die Illustration des Großraums Los Angeles, die 1932 von dem Künstler Karl Moritz Leuschner (1878-1940) gefertigt wurde. Diese, als „Greater Los Angeles: The Wonder City of America“ betitelte Illustration, war nie als ein genauer Straßenführer gedacht, sondern eher als „Guide“ zu Attraktionen und Sehenswürdigkeiten, um also Touristen und die Industrie in die Region zu locken. Besonders Bars und Nachtclubs sind daher keine Seltenheit auf dieser Karte. Von Evan Derrick erfahren wir, dass Vincent Dutrait diese Leuschner-Karte dann mit seinen eigenen künstlerischen Talenten in den Spielplan von „City of Angels“ verwandelte.

Geht es noch besser? Wer denkt, dass man bei „City of Angels“ mit den in der Box enthaltenen Inhalten alles erhalten hat, der hat weit gefehlt. Denn neben den geschriebenen Einleitungen in den Fall und den geschriebenen Falllösungen (Epilog), die vom „Stichel“ vorgelesen werden können, werden diese Texte auch als kostenlose Audiodateien auf der Pegasus Spiele Homepage unter „City of Angels“ unter „Downloads“ angeboten. Eingesprochen wurden sie von keinem anderen als Oliver Rohrbeck. Oliver Rohrbeck? Ja, richtig gelesen. Die Stimmung der Fälle wird jeweils unverwechselbar von der Stimme des „ersten Detektivs“ Justus Jonas aus der seit 1979 laufenden Hörspielserie von Europa namens „Die drei ???“ mit Oliver Rohrbeck, Andreas Fröhlich und Jens Wawrczeck wiedergegeben. Ein Gewinn für das Brettspiel und ein weiteres Argument dafür, dass sich dieses Brettspiel als heißer Anwärter für das „Kennerspiel“ des Jahres 2021 bereithalten sollte!

Abschließend bleibt nur noch zu hoffen, dass die beiden Erweiterung der Kickstarter-Kampagne es auch noch nach Deutschland schaffen werden.

Fazit: „City of Angels“ hat die thematische Zeitreise in das L.A. der 1940er Jahre fulminant umgesetzt. Man fühlt sich wie ein Detective und man merkt in jeder Minute des Spiels, dass der Autor hier ein Herzensprojekt geschaffen hat. Hinzu kommt, dass das Spiel tatsächlich in jeder möglichen Spieleranzahl (1 bis 5 Personen) funktioniert, und besonders für die Person des „Stichels“ pro Fall gleich zwei Spielerfahrungen (zuerst Solo und dann als „Stichel“ in der Gruppe) erleben lässt, die es sich beide lohnt auszuprobieren. Dass dann noch Oliver Rohrbeck den „Krimi-Sound“ vorgibt, hilft nicht nur beim Eintauchen in das L.A. der 1940er, sondern macht das Spiel perfekt.

City of Angels
Brettspiel für 1 bis 5 Spieler ab 16 Jahren
Pegasus Spiele 2021
Evan Derrick
EAN: 4250231727023
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 69,95

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