von Daniel Pabst
„Bohemians“ ist ein Deck-Building-Kartenspiel von Jasper de Lange mit Illustrationen von Hanna Kuik, Roman Kucharski und Tomasz Jedruszek für ein bis vier Spielende. Als Inhalt gibt es 4 Tagesplan-Tableaus, 1 Atelier-Tableau, 90 Gewohnheiten-Karten, 13 Erfolg-Karten, 21 Musenkarten, 29 Leidenskarten, 12 Solomodus-Karten, 3 Zeitgeist-Szenarien, 4 Arbeitsplättchen, 4 Ateliermarker, 4 Erinnerungsmarker, 1 Startspielermarker und 1 Anleitung.
Als Spielende schlüpft ihr hierbei in die Rolle eines mittellosen Künstlers oder einer Künstlerin in Paris am Ende des Jahrhunderts (auch bekannt als „Fin de Siècle“). Jede Person wählt zu Spielbeginn eine Kunst aus (Komposition, Malerei, Bildhauerei oder Dichtung). Zudem wählt ihr einen Beruf (Straßenmusiker, Kellner, Journalist, Bettler). Ziel ist es danach, aus der Kombination der Kunst und seinem Beruf ein unsterbliches Lebenswerk zu erschaffen, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Inspiration findet ihr bei den weiblichen und männlichen Musen, die euch während des Spiel begleiten werden. 
Spielerisch läuft es folgendermaßen ab: Jede Person startet mit demselben Startdeck an Karten, welche sich allerdings in der Bildsprache und den Kartennamen unterscheiden. Diese spielt ihr auf ein vor euch liegendes Tableau aus, um den Tag zu gestalten. Die Tableaus tragen jeweils unterschiedlich Namen, um auch damit die Atmosphäre realistisch werden zu lassen. Seid ihr eher der Typ „Le Romantique“, L’Excentrigue“, „Le Visionnaire“; oder „Le Vagabond“?
So kann es zum Beispiel sein, dass ihr als Dichterin mit dem Beruf Bettlerin als Vagabund euer Glück sucht. Genauso gut könntet ihr auch als Bildhauer mit dem Beruf des Kellners als Romantiker durch die Straßen von Paris flanieren. Jede Runde, die ihr spielt, entspricht dabei einem Tag. An jedem Tag zieht ihr fünf Karten und spielt davon drei oder vier für den Tagesablauf aus. Die Karten zeigen dabei jeweils kleine Szenen, welche den Handlungen in den vier Phasen des Tages (morgens, mittags, abends und nachts) entsprechen. 
Wie ihr hier vielleicht gemerkt hat, versucht das Spiel alles, um einen in die Zeit und die Straßen von Paris abtauchen zu lassen. Mit Karten wie „Entdecke dich selbst neu“, „Male ohne Unterbrechung“, „Schlendere ziellos durch die Straßen“ oder „Gehe ins Bordell“, lassen sich kleine Geschichten am Spieletisch erzählen. Wer möchte, kann daher jeden Tag den anderen von seinen Erlebnissen berichten oder diese sogar noch ausschmücken (Siegpunkte gibt es für solche ausschmückenden Erzählungen jedoch keine).
Neben diesem wahrlich sehr atmosphärischen Spielgefühl, gilt es bei dem Deckbuilder-Spiel natürlich, das Kartendeck bestmöglich zu befüllen. Dies sollte in der Form geschehen, dass man Karten wählt, deren Symbole (Fokus, Freude, Neugier und Ausdruckskraft) miteinander geschickt kombiniert werden können, um die zentrale Ressource des Spiels „Inspiration“ zu sammeln. Dies fühlt sich ein wenig wie ein Puzzlespiel an und hier ist auch ein wenig Glück notwendig, um die passenden Karten aus dem Kartendeck zu ziehen.
Hat man dann Inspiration gesammelt, so können mit ihr neue Gewohnheiten erworben oder Musenkarten angeworben werden. Auch kann man in Erfolgskarten investieren. Denn wer zuerst fünf Erfolgskarten gesammelt hat, gewinnt – und ist endlich (welt-)berühmt. Nicht genutzte Inspiration wandert dagegen ins Atelier, wo sie für spätere Effekte wiederverwertet werden kann.
Auch könnt ihr euch dafür entscheiden, an einem Tag weniger euren Gewohnheiten nachzugehen und stattdessen zu arbeiten. Hierfür muss eine Arbeitskarte auf das Tableau vor einem gelegt werden, was dazu führt, dass drei statt vier Gewohnheiten-Karten darauf ausgelegt werden können und weniger Inspiration herauskommen wird. Was für einen Künstler oder eine Künstlerin wie ein Minusgeschäft klingen mag, hat den entscheidenden Vorteil, dass man durch das Zur-Arbeit-Gehen verhindert, eine Leidenskarte ins eigene Deck mischen zu müssen. Wer will schon Krankheiten, Obdachlosigkeit oder weitere Probleme sammeln? Falls ihr an manchen Tagen jedoch der puren Kunst nachgeht und eine Leidenskarte gezogen habt, so wird diese beim Ziehen in zukünftigen Runden ausgespielt werden und Einschränkungen bieten …
In „Bohemians“ lebt und leidet ihr von einem Tag zum nächsten. Das alles endet, bis es einer Person gelungen ist, fünf Erfolgskarten gesammelt zu haben. Der Rest von euch wird leider in Vergessenheit geraten. Aber das Schöne an diesem Spiel ist, dass es gerade das ist: ein Spiel! Und so gibt es die Chance, es erneut zu probieren. Hierbei gilt: Arbeite zu viel und deine Kunst leidet. Lebe zu frei und dein Deck verkommt zum Chaos.
„Bohemians“ greift ein unverbrauchtes Thema auf und scheut nicht davor zurück, die Schattenseiten des Künstlertums zu zeigen, wie Syphilis, Armut, den Bordellbesuch und zerbrochene Beziehungen, statt eines erfüllten und steten Lebens. Trotz dieses Chaos bleibt das Spiel überraschend elegant. Die Mechaniken sind sehr eingängig und damit auch für Einsteigerinnen und Einsteiger geeignet. Das Thema ist liebevoll umgesetzt und sehr spürbar; die Karten sind poetisch illustriert. Insbesondere die Illustrationen der Musen, wie Francis, Ophélie oder schlicht der Mond und die Seine gehören definitiv zu den Höhepunkten dieses Spiels. 
Optisch und thematisch erinnert „Bohemians“ ein wenig an das bereits im Jahre 2021 erschienenen Kunstspiel „Canvas“, welches bei Asmodee erschienen ist. Beide Spiele haben die Kunst als Thema und anfangs bestaunt man die Illustrationen, während im Laufe der Partien das Visuelle mehr und mehr in den Hintergrund rückt (beziehungsweise rücken muss), um die Symbolkombinationen und Mechaniken für den eigenen Sieg bestmöglich zu benutzen.
„Bohemians“ inkludiert zudem einen Modus für Einzelspieler und Einzelspielerinnen. Dieser Solomodus bringt euch drei Szenarien mit den Titeln: „Die Räder der Industrie“, „Die Fesseln der Tugend“ und „Die Klauen der Dekadenz“. Jedes Szenario verändert die Siegbedingungen und Regeln auf eigene Weise. Wer möchte, kann den Solomodus sogar zu zweit kooperativ spielen. Das ist prima.
Fazit: „Bohemians“ ist ein sanfter, thematisch sehr stimmiger Deck-Builder, der vor allem durch seine liebevolle Gestaltung und das unverbrauchte Setting besticht. Das Artwork und das Thema greifen wunderbar ineinander und schaffen eine gelungene Atmosphäre. Dieses Spiel bietet daher Stoff für zahlreiche Partien unterhaltsame Abende. Vielspielenden jedoch sei gesagt, dass sich der Reiz nach und nach abnutzt, da es die strategische Tiefe vermissen lässt und es an Erweiterungen bislang mangelt. Wer sich auf das Thema und die künstlerische Stimmung voll und ganz einlässt, wird hier auf seine Kosten kommen. Wer jedoch bereits nach wenigen Runden nur noch auf Symbole und Effekte achtet, dürfte spielerisch zu wenig Substanz finden.
Bohemians
Kartenspiel für 1 bis 4 Spielende ab 10 Jahren
Jasper de Lange, Hanna Kuik, Roman Kucharski, Tomasz Jedruszek
Pegasus Spiele 2025
EAN: 4250231743894
Sprache: Deutsch
Preis: 34,99 EUR
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