Baltimore oder Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir

Einst kämpfte Lord Baltimore an der Front inmitten des infernalen (Ersten) Weltkriegs. Nach einem nächtlichen Gefecht kehrt er schwer verwundet zurück in seine Heimat. Fortan ist er auf eine Beinprothese angewiesen. Doch dies wird nicht die schlimmste Folge und Wendung für ihn sein. Eine Pestepidemie geht um in Europa. Und dann sind da noch Vampire, die sich unaufhaltsam ausbreiten. Christopher Golden und Mike Mignola führen uns hinab in einen phantasievollen Albtraum, der realen Ereignissen erschreckend nahe gekommen ist …

von Daniel Pabst

„Baltimore oder Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir“ ist ein Roman von Christopher Golden und Mike Mignola. Aus dem Amerikanischen und Dänischen übertragen hat ihn Christian Langhagen. Die deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe aus dem Jahre 2007 mit dem Titel „Baltimore, or, The Steadfast Tin Soldier and the Vampire“ ist im Jahre 2008 bei Cross Cult erschienen. Nachdem der Roman verlagsvergriffen war, wurde im Jahre 2020 eine neue Auflage von Cross Cult publiziert. Das Genre dieses Romans lautet: Horror.

Zwei Assoziationen kommen einem gleich nach dem Lesen des Titels und der Autorennamen in den Sinn. Erstens: „Der standhafte Zinnsoldat“ – so lautet doch ein Märchen von Hans Christian Andersen aus dem Jahre 1838, oder? Zweitens: Mike Mignola – ist das nicht der weltbekannte Comic-Künstler aus den USA? Das allein hört sich nach einem andersartigen Roman an, den man sich im wahrsten Sinne des Worte ganz genau „ansehen“ sollte. Also, werfen wir einen Blick in diese Cross-Cult-Horror-Roman-Ausgabe!

Richtig gedacht: „Der standhafte Zinnsoldat“ ist der Titel einer düsteren Märchengeschichte Andersens. Die Widmung Mike Mignolas lässt letzte Zweifel beseitigen, steht da doch: „Für Bram Stoker, Mary Shelley, Herman Melville, Hans Christian Andersen (…)“. Schlagen wir die nächste Seite auf, wird die Andersartigkeit des Romans „Baltimore“ das erste Mal erkennbar. Das Präludium steigt nämlich unvermittelt mit einem Zitat aus „Der standhafte Zinnsoldat“ ein, welches von zwei Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die jeweils silhouettenhaft einen Zinnsoldaten darstellen, umrahmt wird. Diese Zeichnungen mögen auf den ersten Blick als reines Begleitwerk für den Text dienen, doch bereits in diesen lässt sich eine gewisse düstere (Grund-)Spannung erahnen.



Wenn du dann genauer auf die Zeichnungen der Zinnsoldaten blickst, so verschwimmen deren Uniform und Riemen zum einem menschlichen Gerippe. Verstärkt wird das Skeletthafte durch die Augen der Zinnsoldaten. Diese sind durch den Schatten der Kopfbedeckung, einem Tschako, unkenntlich der Schwärze hingegeben. Dabei verkennt man beinahe, dass einer der Soldaten nur auf einem Bein steht, denn ihm fehlt das linke Bein – abgetrennt kurz oberhalb des Kniegelenks. Auch dem Krieger auf dem Cover des Romans fehlt das linke Bein, doch sieht er anders aus als ein klassischer Zinnsoldat. Zudem besitzt der Krieger eine Prothese, die ihm Stand gibt. Und was flattert da eigentlich Rotes um seine Harpune herum? Bereits nach wenigen Augenblicken – man hat kaum etwas gelesen – ist man im Bann dieses Romans und möchte wissen, wie das zusammenhängt und ob der pure Horror auch eine tiefgründige Aussage überträgt.

Wird dem Soldaten aus der Feder des modernen Autoren-Duos ein ähnliches Schicksal drohen wie dem Soldaten bei Hans Christian Andersen? In dem kurzen Märchen hat einer von 25 Zinnsoldaten nur ein Bein, da er als Letzter aus Zinn gegossen wurde und davon nicht mehr ausreichend übrig gewesen war. Am Ende einer Odyssee, die dieser durchsteht, wird er von einem Jungen in den Ofen geworfen. Grundlos? Vielleicht. Andersen drückt es so aus: „es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war“. Das dem Zinnsoldaten seelenverwandte Spielzeug, eine kleine papierne Tänzerin, wird gleich darauf durch einen Windhauch, einer Sylphe gleichend, in dasselbe Ofenfeuer getragen. So vergehen sie Seite an Seite. Dass Andersen damit auch eine Geschichte für Kinder geschrieben haben soll, ist aus heutiger Sicht gar nicht mehr so leicht zu fassen!
 
Oder wird es dem Soldaten so ergehen wie in Donovans musikalischer Variation von 1965? In dem auf dem Album „Fairytale“ erschienen Lied „Little Tin Soldier“ sehen sich der Soldat und die Ballerina unverhofft wieder, nachdem sie traurige und beschwerliche Zeiten verbracht haben. Und mit dem Mitternachtsschlag der Uhr heißt es bei Donovan dann urplötzlich tragisch: „They jumped into a fire. And in that fire they shall stay. Forever in the day”. Oder ist vielleicht ein glückliches Ende möglich, wie wir es in einer ähnlich komischen und düsteren Fantasie von E.T.A. Hoffmann (1776-1822) in „Nussknacker und Mäusekönig“ von 1816 finden?
 
Bevor wir auf diese Gedanken eingehen, sollen in diesem Absatz ein paar einordnende Worte zu Mike Mignola erfolgen. Mignola ist ein berühmter amerikanischer Comic-Zeichner und Comic-Autor. Wohl am populärsten ist sein „Hellboy“. Diesen ließ er im Jahre 1993 aus der Hölle auf den Comic-Markt emporsteigen. Die unverwechselbaren Bildkompositionen seiner Comic-Reihe imponieren durch ihre bewussten Auslassungen. An Stellen, wo andere sich (bewusst) im Detailreichtum verlieren, dominiert bei Mignola schlicht das Schwarz. So einfach, so wirkungsvoll. Es scheint, als erzähle dieser schwarze Raum anmutig eine eigene Geschichten. Das erzeugt unheimliche Spannung, da man allzu oft wissen möchte, was im Dunklen liegt.

Solche typischen Mignola-Zeichnungen, die wie beschrieben durch das Verborgensein geprägt sind, finden wir im Romans „Baltimore“ auf nahezu jeder Seite. In kleinen Quadraten oder Rechtecken durchbrechen sie den Text. Wie ein Blitzschlag, der über die Seite jagt, hinterlassen die Zeichnungen ihre Spuren und brennen sich ins Gedächtnis der Lesenden ein. Diese starke Wirkung und Präzision zeichnet den Roman „Baltimore“, der dementsprechend auch die Unterschrift: „Ein illustrierter Roman“ trägt, bereits unabhängig von der Geschichte aus. Es ist also ein äußerst spannendes Zusammenspiel aus Text und Zeichnungen in „Baltimore“ zu finden.

Nach dieser etwas längeren Einführung in das Werk geht es aber auf ins über 350-seitige Lesevergnügen! Welchen Horror bekommen wir geboten? Die Handlung befasst sich mit Lord Henry Baltimore, der drei Männer in ein abgelegenes Wirtshaus einer trostlosen Stadt einlädt. Staub, Ruß und Dreck umgibt das Wirtshaus, dessen Lebendigkeit weit vergangener Tage vergönnt war. Nun sitzen in diesem leblosen Raum ausgemergelte, bleiche und geisterhafte Männer und Frauen, die die drei Neuankömmlinge lediglich kurz zur Kenntnis nehmen, bevor sie ihr schales Bier hinunterkippen oder sich mit unappetitlichen Speisen aufwärmen. Lord Baltimore lässt auf sich warten. Doch noch ist die Nacht nicht zu Ende. Ist Lord Baltimore unterwegs?

Und so heißt es: Warten auf Henry. Die drei Männer, die sich nie zuvor begegnet sind, heißen: Thomas Childress junior (ein Freund Lord Baltimores aus Kindertagen und Kriegsveteran), Doktor Lemuel Rose (ein Chirurg, der während des Krieges als Lazarettarzt tätig war), sowie Kapitän Demetrius Aischros (einst Seemann, jetzt stolzer Kapitän). Während sie warten, erzählt einer nach dem anderen, was ihn mit Lord Baltimore verbindet und warum er an die Existenz von übernatürlichen Wesen glaubt. Das bedeutet für uns, dass wir als Lesende lange Zeit Platz nehmen am kargen, modrigen Wirtshaustisch und drei Geschichten dargeboten bekommen, die es derart in sich haben, dass uns ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft.

Mit jeder dieser „Geschichten in der Geschichte“ gefriert die Stimmung im Wirtshaus merklich, sodass der Gastwirt ein Feuer im offenen Kamin entfacht, ohne dass die Anwesenden eine Temperaturänderung verspüren würden – und der Uhrzeiger schreitet unaufhaltbar gen Mitternacht … Gesteigert wird dieses sehr dichte und atmosphärische Erzählen der beiden Autoren des Romans „Baltimore“ durch ein Tagebuch, das ein Fremder, ein ominöser Kurier, überbringt und das vom Doktor widerwillig vorgelesen wird. Dass der Tagebucheintrag die exakte Jahreszahl auslässt, indem dort steht: „10. Juni 19..“ erinnert stark an Albert Camus' Roman „Die Pest“ (1947), dessen Anfang lautet: „Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194. in Oran abgespielt“. Oh, wie gut passt Camus' Satz zu „Baltimore“, wo sich seltsame Ereignisse die Hände reichen.  

Lord Baltimore, so haben wir zu Beginn des Romans erfahren, war Soldat im Ersten Weltkrieg und kämpfte auf Seiten der Alliierten in den Ardennen gegen die „Hessen“ (nicht irritieren lassen sollte man sich bei den Kriegserzählungen von der Übersetzung des Wortes „Hessians“ zu „Hessen“, was für eine Art deutsch-britischen Soldatenhandel während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges steht). Der Beantwortung der Fragen, auf welche Weise Soldaten auf den Schlachtfeldern verheizt wurden, wo Lord Baltimore nach seinem Einsatz gewesen ist, sowie warum er die drei Männer nach Jahren der Abwesenheit ausgerechnet an solch einen abgelegenen Ort bat, wird im Roman ausführlich Raum gegeben.

Zuteil wird uns in diesem Handlungsstrang, dass der Zinnsoldat mit dem einen Bein und der menschliche Soldat Baltimore so einiges verbindet. Gleichwohl sich der Zinnsoldat nie in „reale“ Schlachten begab und sich keiner Pest ausgesetzt sah. Die beiden Schreckensszenarien „(Erster) Weltkrieg“ und „Pestepidemie“ werden in „Baltimore“ ausführlich ausgemalt (wobei diese beiden Szenarien erschreckend gut als Platzhalter für andere reale Schrecken fungieren können). Über Seiten hinweg begleiten wir tapfere Soldaten in ihrem hoffnungslosen Kampf und erfahren, wie Menschen leiden und nicht nur von ihren Zukunftsplänen, sondern auch von ihren Liebsten für immer Abschied nehmen müssen. Und der standhafte Lord Baltimore, der wie Sisyphos nie aufgibt, trägt nicht nur eine Beinprothese, sondern auch ein dunkles Geheimnis mit sich herum.

Was aber hat es mir dem im Titel aufgeführten Vampir zu tun? Der etwas zu niedlich geratenen roten Fledermaus auf dem Cover werden wir im Laufe des Romans mehrmals begegnen. Neben dem „Schwarzen Tod“ scheint es einen „Roten Tod“ zu geben. Ohne zu viel von der Handlung und damit der Spannung zu verraten, taucht das Wort „Vampir“ das erste Mal auf Seite 129 des Romans auf. Zu diesem Zeitpunkt haben wir mehr als ein Drittel des Romans hinter uns! Die lange Abwesenheit dieses einen Wortes mag angesichts des Covers und angegebenen Alternativtitels: „Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir“ verblüffen.



Aber dieser Kunstgriff ist alles andere als unpassend. Denn bis zu diesem Lesemoment schwang die Gestalt des Vampirs still und heimlich mit. Einmal wurde sie als „Drache“ oder „Fledermaus“ beschrieben, ein anderes Mal hinterließ sie blutige Andeutungen, dann wiederum stand geschrieben: „schwarze Flügel“, „rotes Maul“, „silberne Nadeln anstatt Zähnen“ und „Leichenfresser“. In der Bebilderung von Mignola sehen wir immer wieder Fledermäuse und Totenschädel, die der Urgestalt des Horrorfilms „Nosferatu“ nahe kommen. Spätestens im Moment der Seite 129 wird den Leserinnen und Lesern also gewiss, dass der Krieg, die Pest und der Vampirismus derart fest miteinander verknüpft sind, dass es aus diesem Netz kein Entkommen geben wird …   

Werfen wir nach der inhaltlichen Würdigung einen Blick auf den Schreibstil. Die Sätze sind kurz gehalten. Stellenweise sind sie bis aufs Nötigste verkürzt, wie folgende Passage illustriert: „Hoffnung. Das Leben. Farbe. All das war nicht mehr. Ausgelöscht. Die Stadt stand still. Verzweiflung lastete auf ihr. Schwarze Trauerflaggen waren gehisst“. An anderer Stelle heißt es: „Kalt. Baltimore ist so unfassbar kalt. Eine schläfrige Starre übermannt ihn. Die Stille ist besser. Sicherer. Er hat schon zu viel Blut verloren, da ist er sich sicher. Der Tod wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und doch will er nicht in dem Schützengraben sterben“. Der Stil entspricht dem Zeichenstil, da die Reduzierung aufs sprachliche Minimum auch allein ein entweder („schwarz“) oder („weiß“) zulässt. Hart und der humorlosen Geschichte entsprechend sind die Sätze daher wie Nadelstiche.

Darüber hinaus wird der Roman durch die Verwendung von Wörtern durchzogen, die in direkter Verbindung zu Mignolas Zeichenstil stehen, wie beispielhaft: „Ihre Gestalten schälen sich aus dem Schwarz“, „Umrisse, so schwarz wie Ebenholz“, „Blöcke aus grauem und schwarzem Stein, in denen nur die kleinsten Fenster sichtbar waren“, „Gegen die Schwärze in diesem Abgrund wirkt die Nacht hell“, „dass ihre Augen von einem leblosen und lichtlosen Schwarz waren“ und „Das Wasser war pechschwarz“. Bei „Baltimore“ sind die Zeichnungen also keineswegs Beiwerk. Durch sie dringt der Horror noch tiefer ins Gedächtnis ein, lenkt gleichzeitig aber auch nicht vom Gelesenen ab, beziehungsweise stört den Lesefluss keineswegs.

Die wenigen ganzseitigen (!) Schwarz-Weiß-Zeichnungen tun ihr Übriges, um diesen Roman all jenen zu empfehlen, die einen Horror-Roman lesen mögen, der sie auf ganz besondere Weise abholen wird. Wer seinen Ängsten in Form von Kriegsberichten, Epidemien, blutrünstigen Gestalten, menschlichen Abgründen und Einsamkeit begegnen möchte, der kann sich dem Roman „Baltimore“ stellen. Da bereits das Inspirationswerk von Hans Christian Andersen aus 1838 düster und ohne Happy End bleibt, schwebt über „Baltimore“ stets eine dunkle Wolke beim Lesen, bei der man nie weiß, ob sie vorbeiziehen oder strömenden Regen vergießen wird.

Wenn der Doktor Rose sinniert: „Wenn der Vorhang der Welt zurückgezogen wird und wir begreifen, wie viel von dem dahinter uns unbekannt ist, ist Furcht die einzige rationale Erwiderung“, so begleitet einen als Leser oder Leserin unlängst die Frage, wie die Figuren aus „Baltimore“ mit ihrer Furcht umgehen. Das ist schaurig-spannend, brutal und absurd bis zum Ende. Hat man den Roman „Die Pest“ des französischen Schriftstellers und Philosophen Albert Camus (1913-1960) gelesen, wird man zahlreiche Parallelen finden. Kennt man Camus' Werk noch nicht, so kann aus „Baltimore“ eine Brücke und eine Leiter zur Philosophie werden.

Leseprobe der vergriffenen Erstausgabe

Fazit: Schon Albert Camus hat 1947 gezeigt, dass ein Roman über „Die Pest“ einen lohnenswerten Blick verschafft. Dass sich diese Thematik mit einem Märchen von 1838 über einen einbeinigen Zinnsoldaten kombinieren lässt und durch phantastische, übernatürliche Motive den Horror perfekt machen kann, zeigen Christopher Golden und Mike Mignola in „Baltimore oder Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir“. Dabei ist die Ouvertüre des Romans in den Ardennen im Ersten Weltkrieg ein schauriger Einstieg, der einen gnadenlos und unmittelbar ins tödliche Geschehen wirft. Durch die Untermalung des Romans mittels vieler Schwarz-Weiß-Zeichnungen Mignolas wird der dunklen, erbarmungslosen Atmosphäre besonderes Augenmerk geschenkt. So ist „Baltimore“ insgesamt ein sehr einprägsames Leseerlebnis. Diesen Horror-Roman möchte man nicht wieder zur Seite legen, ehe die letzte Seite umgeschlagen worden ist!       

Baltimore oder Der standhafte Zinnsoldat und der Vampir
Horror-Roman
Christopher Golden, Mike Mignola
Cross Cult 2020
ISBN: 978-3-96658-065-6
350 S., Paperback, Deutsch
Preis: EUR 16,00

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