von Bernd Perplies
Doch „Cthlhu: Death May Die“ ist mitnichten ein Spiel, das atmosphärisch in Lovecrafts Fußstapfen treten würde. In den Geschichten des Autors begegnet man keinen Großen Alten und lebt danach weiter, um davon zu erzählen. Noch weniger tötet man sie in einem Moment der Schwäche, frisch nach dem Übertritt aus ihrer Dimension in unsere Realität. Genau dies ist allerdings das Ziel jeder Partie des vorliegenden Spiels, das bei allem Wahnsinn, allen schauerlichen Episoden und ungeachtet der grausig anzusehenden Miniaturen im Wesentlichen ein Pulp-Variante des Cthulu-Mythos bietet, mit furchtlosen Ermittlern und reichlich krachender Action.
„Furcht vor dem Unbekannten“ gehört zu der erfolgreichen Spiele-Reihe „Cthlhu: Death May Die“, deren erste Grundbox („Staffel 1“, diese Benennung soll an klassische Pulp-Serials erinnern) im Sommer 2018 in einer sehr erfolgreichen Kickstarter-Kampagne von CMON das Licht der Welt erblickte. Auf Deutsch kam jene Box 2019 bei Asmodee heraus, ein Jahr später wurde die „Staffel 2-Erweiterung“ nachgeschoben, die mit neuen Ermittlern, Episoden und Monstern aufwarten konnte. Zwischenzeitlich gab es nun eine neue Crowdfunding-Kampagne, deren Inhalt – neben Kleinkram – die neue Grundbox „Fear of the Unknown“ und die „Season 4-Expansion“ waren. Jetzt sind diese beiden gewichtigen Boxen gleichzeitig auf Deutsch herausgekommen.
Natürlich ziert der titelgebende Cthulhu einmal mehr den Boxendeckel. Stilecht entsteigt er diesmal den Fluten unweit einer Küste, womit er beinahe ein Fischerboot zum Kentern bringt. Das sorgt für Stimmung, noch bevor es richtig losgeht. Inhaltlich setzt CMON voll auf das Prinzip „Never change a running system“. Mit 10 Ermittlern, 6 Episoden-Boxen, 2 Großen Alten, 16 doppelseitigen Spielplanteilen und insgesamt 46 Miniaturen haben wir fast exakt die gleiche Art und Menge an Spielmaterial, die auch in der ersten Grundbox enthalten war. Natürlich ist das alles neues Material, das sich allerdings absolut problemlos mit allem älteren kombinieren lässt, denn – das sei vorausgeschickt – auch an den Regeln hat sich so gut wie nichts verändert.
Die beiden Großen Alten sind diesmal Azathoth, ein amorphes, waberndes Grauen aus dem All, und Tsathoggua, eine fiese Alien-Riesenkröte. Zu den Ermittlern zählen unter anderem ein wehrhafter Arzt, ein brutaler Muskelmann vom Jahrmarkt, eine Reliktjägerin (Sandra, nicht Lara) und eine Gangsterbraut. Sie alle kennen das Grauen, das in den dunklen Winkeln unserer Welt lauert, und stellen sich ihm ebenso willig wie grimmig entgegen. An Gegnern treffen wir diesmal neben den obligatorischen Kultisten beispielsweise auf Ghasts und Gugs, Schlangenmenschen und Fischer von Draußen, einen Dhole sowie „Das Unsagbare“. Die sechs Episoden schließlich führen in eine verdorbene Kleinstadt, ein Irrenhaus, die Katakomben von Paris, das Schloss (eher Herrenhaus) von Vlad dem Pfähler, auf einen Jahrmarkt und in eine verwunschene Burg.
Am Spielprinzip hat sich, wie gesagt, nichts geändert. Nach wie vor übernehmen 1 bis 5 Spieler ab 12 Jahren die Rolle von Ermittlern, die in verschiedenen „Episoden“ Aufgaben erfüllen müssen, um am Ende die Gelegenheit zu bekommen, gegen einen der Großen Alten anzutreten. Besiegen sie diesen, haben sie das Spiel gewonnen. Werden sie vorher wahnsinnig, sterben oder gelingt dem Großen Alten der vollständige Wechsel in die Wirklichkeit, ist das Spiel verloren. Vor Spielbeginn wählen wir unseren Ermittler, der je drei individuelle Fähigkeiten hat, und bekommen zusätzlich eine zufällige Psychose, die uns das Leben schwerer macht. Dann wird eine Kombination aus einem Großen Alten und einer Episode gewählt, deren spezielles Spielmaterial – Monster, missionsspezifische Entdeckerkarten, Mythoskarten etc. – aus separaten kleinen Pappboxen genommen und gemischt wird und dann gemeinsam mit dem allgemeinen Material (Spielplanteile, Marker, Miniaturen) eine Partie ergeben. Diesen modularen Ansatz fand ich schon immer genial, und er funktioniert auch immer noch sehr gut.
Gespielt wird im Uhrzeigersinn, wobei jeder Spieler in seinem Zug alle 4 Phasen (Aktionen ausführen, Mythoskarte ziehen, Ermitteln oder Kämpfen, Ende des Zuges) durchlaufen muss. Insofern bleibt das Spiel vom Balancing her immer ähnlich schwer, egal ob man allein spielt oder mit vier Freunden. Bei den allgemeinen Mechanismen erfindet CMON das Fass unverändert nicht neu. Ist man an der Reihe, kann man 3 der folgenden Aktionen (auch mehrfach) durchführen: laufen, angreifen, sich ausruhen oder Gegenstände tauschen. Dazu kommen episodenspezifische Aktionen. Dabei will das Spiel eigentlich immer, dass man über den Spielplan jagt, um gewisse Aufgaben zu erfüllen: Beispielsweise muss man Dörfler von der Unschuld einer Frau überzeugen oder Kultisten Schlüssel abjagen, um damit die vier verschlossenen Portale zu einem Turm zu öffnen.
Anschließend wird eine Mythoskarte gezogen, die negative Effekte mit sich bringt. Dadurch bewegen sich Gegner, es tauchen neue auf, man wird zu Proben gezwungen und erhält Stress. Außerdem sammelt man über die Zeit Symbole, die den großen Alten auf einer Beschwörungsleiste vorrückten lassen. Diese Leiste dient als Timer, der einerseits die Zeit bis zum Erscheinen des Oberbosses als auch bis zum Ende des Spiels misst. Steht man in Phase 3 ohne Gegner auf seinem Feld, kann man „ermittlen“. Hierzu zieht man eine episodenspezifische Entdeckungskarte, die ein klein wenig Story preisgibt und dann eine Probe oder Stress abverlangt, um einen Begleiter oder Gegenstand zu erhalten. Versagt man hier, fängt man sich meist einen negativen Zustand ein. Zu guter Letzt werden ein paar Effekte zum Zugende abgehandelt, dann ist die nächste Person an der Reihe.
Die Kämpfe laufen ohne große regeltechnische Überraschungen ab. Ermittler erhalten drei schwarze Standardwürfel, zu denen je nach Ausrüstung und Fertigkeiten grüne Bonuswürfel hinzugenommen werden. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass Standardwürfel Tentakelsymbole aufweisen, die Ermittler Geistige Gesundheit kosten, Bonuswürfel nicht. Nach einem Wurf werden die Erfolge zusammengezählt, die die Form eines Ausrufezeichens haben. Ist man bereit, Stress zu erleiden, darf man einen Würfel neu würfeln. Das geht beliebig oft, bis man völlig erschöpft ist, also der Stressmarker ganz rechts auf der Leiste liegt. (Man sieht: Stress ist eine Art Universalwährung des Spiels, die diversen Zwecken dient.) Jeder Erfolg erzeugt eine Wunde, die von den Lebenspunkten der Gegner abgezogen werden. Umgekehrt funktioniert es genauso, wobei die Gegnerkarten festlegen, welche Würfel die Gegner nutzen dürfen.
Vieles von dem ist – unverändert – sehr typisch und gerade Kennern von Dungeon Crawlern vertraut. Wirklich außergewöhnlich und ein extrem gut durchdachter Balancing-Faktor ist die „Leiste für Geistige Gesundheit“. Sie ist ein wichtiges Spielelement. Denn dass man in „Cthulhu: Death May Die“ wahnsinnig wird, ist nicht bloß bedauerlicher Nebeneffekt, sondern zugleich wünschenswerter Zustand. Je irrer man wird, desto mehr Bonuswürfel und Level in den individuellen drei Charakterfertigkeiten erhält man nämlich. Doch wenn man zu viel davon ansammelt, kann die Partie auch urplötzlich vorbei sein, denn es gibt keinerlei Möglichkeit, Geistige Gesundheit zu regenerieren. Hier muss man sehr genau abwägen, wie viel gefährlichen Wahnsinn man in Kauf zu nehmen bereit ist, um stärker zu werden. Ein spannendes Dilemma.
Obwohl durch viel Kartenziehen und Würfelwürfe ein hoher Glücksanteil in dem Spiel vorherrscht, ist das Spiel durch die Allzweckwaffe namens Stressleiste und durch nützliche, durchaus starke Fertigkeiten sehr auswogen. Eine Partie ist immer spannend, mitunter geradezu dramatisch, aber wer geschickt seine Aktionen nutzt und vielleicht auch mal ein Opfer hinnimmt, um einen besonders effektiven Angriff durchzuführen, der hat durchaus Chancen auf den Sieg. Da lässt auch verschmerzen, dass der Erzähl-Aspekt eher schwach ist. Man bekommt nur ein paar Zeilen zur Einleitung, danach muss die Partie ihre Geschichte selbst erzählen. Auch einen Kampagnenmodus gibt es nicht. Obwohl die Episoden 1 bis 6 durchnummeriert sind, stehen die Abenteuer für sich und man kann auch keine Ermittler weiterführen, sondern startet immer neu (ansonsten würden sie auch zu stark und zu wahnsinnig in die Folgepartie gehen).
Aber was ist denn nun eigentlich neu und anders an „Staffel 3“ – mal abgesehen vom Spielmaterial? Zwei Dinge haben die Macher hinzugefügt: „Unbekannte Monster“ und „Unbekannte Relikte“. Das sind im Grunde zwei Mini-Module, die man dem Spiel beliebig beifügen kann, um dieses leichter oder schwerer zu machen. „Unbekannte Monster“ erhöhen schlicht den Gegneranteil, indem ein bis zwei Monsterarten das Partie hinzugefügt werden. Dadurch hat man als Ermittler mehr Ärger am Hals, auch wenn sie sich etwas seltener bewegen, nämlich im Wesentlichen dann, wenn der Große Alte vorgerückt wird. „Unbekannte Relikte“ dagegen sind mächtige Gegenstände, die man zu Spielbeginn ziehen darf – einer pro Ermittler – und die einem durch hilfreiche Effekte das Leben leichter machen. Dabei werden sie nach der dritten Wahnsinnsstufe auf der Geistigen-Gesundheits-Leiste sogar noch auf eine stärkere Seite gedreht, denn erst wer „die ganze Wahrheit sieht“, begreift auch das Potenzial magischer Objekte. Besonders unsere Reliktjägerin profitiert von diesem Modul, kann sie doch im Laufe der Partie mehrere Artefakte erhalten, was sie zu einem veritablen Einzelkämpferteam werden lässt. (Ich habe es probiert. Am Ende hatte Tsathoggua keine Chance.)
Diese Zusätze mögen gering wirken, aber sie sind beide sehr sinnvoll und machen „Furcht vor dem Unbekannten“ für mich zur besseren der beiden Grundboxen, wenngleich man hier natürlich auf den Oberboss Cthulhu verzichten muss. Aber echte Fans kaufen sich eh beide Boxen und vervielfachen damit die Kombinationsmöglichkeiten.
Fazit: Auch mit „Furcht vor dem Unbekannten“ ist und bleibt „Cthulhu: Death May Die“ ein spannendes und extrem unterhaltsames Koop-Spiel mit Pulp-Cthulhu-Thema. Im Wesentlichen wird von allem mehr geboten, dazu kommen nur zwei kleine Module, um den Schwierigkeitsgrad anzupassen. Die Stärken und Schwächen der Vorgängerstaffeln bleiben alle erhalten. Wer den modularen Aufbau mag sowie ein Top-Balancing bei hoher Spannung am Spieltisch und dafür mit einem eher geringen Erzählanteil leben kann, der ist bei dem Spiel genau richtig. Wer – nicht zuletzt des satten Preises wegen – nur eine Box kaufen möchte, dem würde ich zu „Furcht vor dem Unbekannten“ raten, eben wegen der Mini-Module. Aber auch Besitzer der ersten Grundbox können bedenkenlos zuschlagen, wenn sie Lust auf frisches Spielmaterial haben.
Cthulhu: Death May Die – Furcht vor dem Unbekannten
Brettspiel für 1 bis 5 Spieler ab 12 Jahren
Marco Portugal, Rob Daviau
CMON/Asmodee 2024
EAN: 4015566605190
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 109,99
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