Wonderland’s War

Wer mit „Disneys – Alice im Wunderland“ groß geworden ist, oder sogar das Buch gelesen hat, kennt diese wirre Traumwelt und die irren Szenen, die das arme Mädchen auf ihrer Erkundungstour erleben muss. Totale Hilflosigkeit und absoluter Kontrollverlust lässt sie von einem Wahnsinn in den nächsten stolpern. Leider ist der Film nicht so grandios gealtert, aber die Geschichte lädt anscheinend dazu ein, immer wieder erzählt zu werden.

von KaiM

Aber auch, wer den Film nicht kennt, dürfte etwas von der Geschichte aus der Feder von Lewis Carroll gehört haben, bei der ein Mädchen einem aufgeregten weißen Kaninchen mit Weste und einer Taschenuhr durch den Garten folgt, bis es schließlich in ein Erdloch fällt und im Wunderland landet. Den heutigen Kultstatus erlangte Alice für mich jedoch nicht mit dem Buch oder gar einem der Filme. Das Computerspiel „American McGees Alice“ erzählt die Geschichte vom Wunderland weiter und führt uns in ein düsteres, zerfallendes Land mit einer abgemagerten Grinsekatze als Mentor. Stimmung, Gameplay, Leveldesign und die Geschichte haben mich Anfang der 2000er in ihren Bann gezogen, wie wenige andere Computerspiele. Für mich ist es auch heute noch ein Highlight.

Das Brettspiel hingegen kommt zwar wesentlich bunter daher, ist aber ebenfalls leicht morbide angehaucht, da man die Führung einer kleinen Armee übernimmt, um Gebiete des Wunderlands zu erobern. Für 2 bis 5 Spielende ab 14 Jahren soll es in dreißig Minuten pro Fraktion spielbar sein. Die Zeitangabe ist schon realistischer, als man es von so manch anderem Spiel gewohnt ist, aber selbst zu viert muss man schon mit drei statt zwei Stunden rechnen. Außerdem ist es mit zwei Personen zwar spielbar, aber längst nicht so spaßig wie zu viert. Zu dritt ist es immerhin schon ganz gut. 14 Jahre halte ich für ein wenig zu hoch gegriffen, wenn es um die Spielmechaniken geht, aber auf Grund des wirren Themas kann man das schon so vertreten.

Das Material

Es gibt eine Deluxe Edition, aber selbst in der Standardversion macht das Spiel eine Menge her. Der Spielplan ist groß und stimmungsvoll gestaltet, die Figuren sind große Standees, die Beutel sind robust und von guter Größe und auch an den Pappchips, die man im Laufe des Spiels aus den Beuteln ziehen muss, ist nichts auszusetzen. Insgesamt sind es vor allem die modernen Illustrationen im Comic-Stil, die eine Menge Stimmung auf den Tisch bringen. Oder um es zusammenzufassen: Wem das Cover der Spielbox schon gefällt, wird den Rest lieben.

Die Regeln sind verständlich, aber oft sucht man eine Weile nach den Informationen oder dem Sonderfall, den man gerade nachschlagen möchte. Da lohnt sich oftmals eher die Suche im Internet. Auf der anderen Seite gibt es ein Ablaufdiagramm, das dabei hilft, nicht den Überblick zu verlieren. So bleibt das Spiel in einigen Belangen etwas sperrig und erfordert eine gute Vorbereitung.

Das Spiel

„Wonderlands War“ ist ein Area-Control-Spiel. Man bekommt Siegpunkte, wenn man ein Gebiet kontrolliert. Kontrolle gewinnt man, indem man den eigenen Helden, Wunderlandbewohner oder (namenlose) Einheiten in die fünf Gebiete schickt und dort im Kampf die Oberhand behält. Drei Runden dieser Kämpfe in allen Gebieten sind pro Partie vorgesehen und jede Runde gliedert sich in zwei Phasen.

Doch zunächst muss man sich für einen der fünf Hauptcharaktere entscheiden. Alle haben individuelle Fähigkeiten, die man ausbauen und entwickeln kann, und alle haben Entwicklungsleisten, die mit der Zeit freigeschaltet werden können. Sei es nun Alice, die Grinsekatze, der Hutmacher, die Herzkönigin oder der Jabberwocky, sie sind alle besonders und spielen sich sehr unterschiedlich. Sind die Charaktere und das Spielmaterial verteilt, geht es in der ersten Phase der ersten Runde darum, sich aufzurüsten. Man versucht die genannten Einheiten in die umkämpften Gebiete zu schicken, möchte starke Chips für den eigenen Beutel gewinnen, Aufträge ergattern, Aufträge erfüllen, Fähigkeiten ausbauen, Chips schmieden, Wahnsinn abwerfen und manchmal auch wahnsinnig werden. Und natürlich kann man nicht alles gleichzeitig tun, und die Konkurrenz schläft ganz und gar nicht.

Ist dieser Teil abgeschlossen, geht es auf in den Kampf. Insgesamt fünf Gebiete werden einzeln abgehandelt, und es geht darum, am Ende die größte Kampfkraft zu besitzen. Dazu werden zeitgleich Chips aus dem eigenen Beutel gezogen, die die Kampfkraft erhöhen und/oder Sonderfertigkeiten auslösen. Durch die Chips kann man auch seine Einheiten verlieren und dadurch aus dem Kampf ausscheiden. Ist schließlich nur noch die Person mit der größten Kampfkraft übrig, weil alle anderen gepasst haben oder ausgeschieden sind, gibt es einen Gewinner. Für einen Sieg gibt es Punkte und ein Schloss darf errichtet werden, das wiederum Kampfkraft gibt und am Spiel-Ende nochmal Punkte bringt.

Sind die Kämpfe in allen Gebieten absolviert, beginnt wieder eine Drafting-Phase, um sich auf die nächsten Kämpfe vorzubereiten. Wer dann schließlich nach drei Runden und einer Endwertung die meisten Siegpunkte gesammelt hat, gewinnt.

So fühlt es sich an

Dieses Spiel ist die wahnsinnige Version eines „interaktiven Kampf-Quacksalber-Ablegers”. In einer Schlacht ziehen wir so lange Chips aus einem Beutel, bis wir uns nicht mehr trauen, zu hoch gepokert haben und verlieren oder aber als Sieger dastehen. Der Beutel wird während des Spiels mit weiteren Chips gefüllt, die alle besondere Effekte mit sich bringen. Und ganz ähnlich der Apothekervariante aus Quedlinburg, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Effekte geschickt zu kombinieren. Auch ist es nicht immer ganz einfach zu entscheiden, wann man aus einer Schlacht aussteigt. Bleibt man drin, gewinnt man – vielleicht – wichtige Siegpunkte. Aber manche Aufträge verlangen ein frühes Aussteigen.

Außerdem möchte man gern ausgespielte Chips „schmieden“, was bedeutet, dass die teuer erstandenen Chips wieder aus dem Beutel und auf die eigene Fähigkeitenleiste gelegt werden, womit man wichtige Upgrades bekommen kann. Das heißt auch in dieser Hinsicht ist das Spiel nicht berechenbar, denn wenn es darauf ankommt, kann man sich bestimmt gerade nicht auf den Kampfeswillen der Mitspieler verlassen, wenn es darum geht, einen Konkurrenten um den Sieg in seine Schranken zu weisen. Und natürlich zünden die erhofften Kombos unterschiedlich oft, was den Spielausgang entscheidend beeinflusst. Das ist spannend, das ist unberechenbar, das ist unfair und glückslastig, aber es macht einfach Spaß.

Auf der anderen Seite ist dieses Spiel zwar kurzweilig, aber eben nicht kurz. Die drei Runden benötigen eine ganze Menge Zeit, selbst wenn es nicht so wahnsinnig viel zu überlegen gibt und die Wartezeiten kurz sind. Denn auch wenn man nicht in jedem Kampf selbst kämpft, sondern nur per Spielmechanismus durch eine Wette auf den Gewinner involviert ist, müssen die fünfzehn Kämpfe und die drei Draftrunden erst einmal absolviert werden. Das dauert seine Zeit und kann sich auch mal lang anfühlen, wenn eine Partie mal so gar nicht funktionieren will. Sind die Regeln an der einen oder anderen Stelle nicht so ganz klar, muss man auch noch die Recherche im Regelbuch oder im Internet mit einrechnen, was die Spielzeit in den ersten Runden zusätzlich in die Höhe treiben kann.

Aber wo wir gerade von den Draftrunden sprachen: Auch die haben ihren Reiz, selbst wenn der wesentliche Kern des Spiels natürlich im Kampf liegt. Die heißbegehrten Karten werden um die Teetafel in der Mitte des Spielbretts herum ausgelegt und reihum bewegen wir unsere Figuren um den Tisch. Dort, wo wir enden, dürfen wir uns die Karte nehmen. Dabei dürfen wir auch so weit laufen wie wir wollen, was toll ist, weil wir jede beliebige Karte nehmen können. Allerdings werden die Karten jedes Mal aufgefüllt, wenn wir den Tisch umrundet haben, was so mitteltoll ist, weil man den anderen eine größere Auswahl an Karten liefert. Außerdem tankt man in diesem Moment ein wenig Wahnsinn, was wiederum gar nicht toll ist, weil man als Wahnsinniger auch Wahnsinnschips in den eigenen Beutel bekommt, die ihrerseits die Chancen im Kampf verschlechtern. Mit diesen Überlegungen und dem Zwang, die Karten ausgewogen zu wählen, befindet man sich in herrlichen Mehrfachzwiespalten (ja, das Wort gibt es nicht – geschenkt – wir sind schließlich im Wunderland).

Dementsprechend ist die erste Phase ein schön kontrollierbarer Gegenentwurf zum anschließenden Chaos und so entsteht ein harmonisches Auf und Ab, mit gelegentlichen Emotionsausbrüchen.

Fazit: Ich bin ein Fan dieses Spiels. Es ist nicht ganz billig und es ist etwas zu lang, aber man bekommt tolles Material dafür und der Spielspaß ist auf seine Weise einzigartig, wenn man bereit ist, den Glücksfaktor zu akzeptieren.

Wonderland’s War
Brettspiel für 2 bis 5 Spieler ab 14 Jahren
Tim Eisner, Ben Eisner, Ian Moss
Mirakulus 2024
EAN: 4255682704500
Sprache: Deutsch
Preis: 89,99 EUR

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