Wien – Dekadenz & Verfall

„Vienna Calling“: Mit „Wien – Dekadenz & Verfall“ wird die österreichische Metropole an der Donau für Mythos-Jäger und Mythos-Jünger zum Spielort. Zum „Fadisieren“ bleibt keine Zeit, dafür hat’s in der Stadt zu viele „Bazis“, „Funsen“, Ganoven und Glücksritter. Und nicht nur im weitverzweigten Kanalisationssystem mag manches Monstrum lauern. „Alsdann, macht’s oich an entrische Gaudi in Wean!“

von Simon Ofenloch

 

Wien, die Stadt der Pferdekutschen und Kaffeehäuser. Heimat von Riesenrad und Tunnellabyrinth. Geburtsort musikalischer Großleistungen und bedeutender Erkenntnisse der Psychoanalyse. Schauplatz einer wechselvollen Historie. Eine spannende Stadt, eine interessante Stadt. Eine ebenso „schöne“ wie seltsam morbide, irgendwie hochnäsige und doch auch gruselige Stadt. Eine Bühne geradezu prädestiniert für Abenteuer nach Motiven von Howard Phillips Lovecraft.

„Wien – Dekadenz & Verfall“ ist nach „London – Im Nebel der Themse“ die zweite Quellenbuch-Eigenproduktion der Pegasus Spiele GmbH, die sich einer europäischen Metropole widmet. Die geschichtsträchtige Stadt an der Donau wird mit allen Eigenheiten und Absonderlichkeiten vorgestellt. Dabei werden insbesondere die „düsteren Seiten“ der Vielvölkerstadt hervorgehoben, die in ihrer Geschichte zweimal der Eroberung von Invasoren trotzte und eins ums andere Mal von der Pest heimgesucht wurde.

Nach einem Vorwort beginnt das in fünf Hauptkapitel unterteilte Quellenbuch mit einem Geschichtsabriss der Wiener Siedlung. Römer, Babenberger, Habsburger, die Türken, die Franzosen und die Zeit des Ersten Weltkrieges – sie alle hinterließen Spuren bis in die 1920er Jahre hinein. Um die Gegenwart dieser 1920er Jahre geht es dann in der Beschreibung eines Stadtrundganges, der durch Ortsteile, Bezirke, wichtige und unheimliche Stätten in der Metropole führt. Dabei werden neben den Orten auch ausgesuchte Bewohner vorgestellt, ebenso immer wieder Legenden und Sagen. Auch die nähere Umgebung der Stadt erhält Beachtung: das Donautal der Wachau, der Wienerwald mit Burgruine und Zisterzienserstift, das bergige Semmeringgebiet mit dem Hochschneeberg.

Danach geht es im zweiten Hauptkapitel um ganz wesentliche Aspekte der Stadtorganisation, um Gesundheitswesen, technische Versorgung, Verkehr, Polizei und Justiz – mit Beiträgen zu Sigmund Freuds Psychoanalyse, zur Nutzung von Gas und Elektrizität, zum Ausbau des Post- und Telefonwesens, zu Transportmitteln wie Fiaker, Bahn und Flugzeug, zu Gefängnissen und Gerichtsverfahren.

Das dritte Hauptkapitel widmet sich dem Spieleralltag. Hier geht es um „Leben in Wien“, um Soziales, Kulturelles, Kulinarisches und um Eigenheiten der Wiener Sprache. Um Lebensart und Mundart. Auf die Vorstellung zahlreicher möglicher Spielerberufe folgt noch die Darstellung einiger interessanter österreichischer Persönlichkeiten. Zuletzt noch eine chronologisch geordnete Liste wichtiger (Wiener) Ereignisse der 1920er Jahre.

Das vierte Hauptkapitel handelt „Von Spukgestalten und Mythosumtrieben“ und bietet im ersten Abschnitt eine Sammlung von Aufsehen erregenden Kriminalfällen aus Wien, die kurz dargestellt eine wahre Fundgrube für Spielideen sind. Danach folgen „Wiener Geschichten – Sagen von gestern und Spukgestalten von heute“ – und damit ein Abschnitt, der sich rätselhaften Erscheinungen und anderen kuriosen, übersinnlichen Phänomenen widmet. Wem das noch nicht genug ist, dem wird anschließend noch ein Unterkapitel geboten, in dem der lovecraftsche Mythos in Wien verortet wird. Neben okkulten Vereinigungen werden dabei auch die „Ghoule von Wien“ beschrieben.

Das letzte Hauptkapitel des Quellenbuches beinhaltet zwei spielfertige Abenteuer. „Der Vogelmann“ von Peer Kröger, ist ein detektivisches Abenteuer, bei dem die Ermittler einem Serienmörder Einhalt gebieten müssen. Dabei gilt es nicht nur die Entführung des bekannten Psychoanalytikers Sigmund Freud aufzuklären sondern auch in den Katakomben der Stadt zu bestehen. Das zweite Abenteuer „Blutwalzer“ von Ralf Sandfuchs offeriert ebenfalls ein Detektiv- und Actionszenario, wobei der Action viel Platz eingeräumt wird. Auf der Suche nach einer gestohlenen Geige geraten die Spielercharaktere in einen seit Jahrhunderten tobenden Krieg, in den auch die katholische Kirche verwickelt ist. Beim Finale im Stephansdom muss ein finsteres Ritual verhindert werden – mit der Kraft der Musik. „Two, one, zero – der Alarm ist rot. Wien in Not – cha, cha, cha.“

Das äußerst informative und anregende Buch ist wie immer qualitativ hochwertig gefertigt, im robusten Hardcover mit ordentlicher Bindung und Lesebändchen. Die schmückenden Bilder neben den Texten sind wie immer sehr stimmungsvoll und hervorragend platziert. Dienliche Grundrisszeichnungen von Gebäuden und ansprechend gestaltete Kopiervorlagen für Handouts runden das positive Gesamtbild ab. Als Beilage enthält der Band die Reproduktion einer zeitgenössischen Straßenkarte von Wien, die sich gefaltet in einer kleinen Plastikhalterung auf der hinteren Umschlaginnenseite befindet.

Fazit: „Wien – Dekadenz & Verfall“ enthält alles, was Spieler und Spielleiter über die Donaumetropole wissen müssen, um dort spannende und inspirierte Abenteuer zu bestreiten – vielleicht eines der einfallsreich und detailliert entwickelten spielfertigen Szenarien, die das Quellenbuch neben zahlreichen Grundinformationen und einer hilfreichen Stadtkarte der 1920er Jahren zusätzlich anbietet.


Wien – Dekadenz & Verfall
Quellenbuch
Frank Heller, Jan Christoph Steines u. a.
Pegasus Spiele 2010
ISBN: 978-3-941976-03-0
240 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 34,95

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