Von unaussprechlichen Kulten

Neben einzelnen Verrückten sind die Hauptgegner der Investigatoren im „Cthulhu“-Rollenspiel oftmals Weltuntergangs-Kulte. Wie oft standen da Menschen in Kutten, die in einem schrillen Singsang außerirdische Gottheiten auf unsere Erde beschwören wollten. Aber warum machen die das eigentlich? Wie dumm muss ein Kultist sein, dass er sich mit Mächten einlässt, die ihn am Ende verschlingen werden? „Von unaussprechlichen Kulten“ widmet sich diesen Widersachern. Gelingt es dem Band, aus den bekutteten Abziehbildern lebensechte Antagonisten zu formen?

von Oliver Adam

Bereits die Aufmachung des über 220 Seiten starken Hardcoverbandes überzeugt mit einer vollfarbigen Gestaltung, eindrucksvollem Karten- und Handoutmaterial sowie einem roten Lesebändchen. Das inspirierende Cover einer Kultistengruppe, deren Anhänger gerade das charakterisierende Erkennungszeichen (die schwarze Robe) abgestreift haben und dadurch den Übergang zu einem Individuum beschreiten, führt perfekt in die Intention des Bandes ein.

Das Auftaktkapitel „Von unaussprechlichen Kulten“ widmet sich zunächst der geschichtlichen Entwicklung menschlicher Religion, da im Zentrum jedes Kultes eine religiöse oder quasi-religiöse Verehrung von Göttern, kosmischen Prinzipien, Personen oder Gegenständen steht. Der Bogen wird von der menschlichen Frühgeschichte (bereits um 200.000 v. Chr. fanden erste Totenbestattungen statt) über das Altertum bis zur Moderne geschlagen, um schließlich reale Kulte und geheime Gesellschaften der Menschheitsgeschichte inklusive deren Geschichte und Struktur vorzustellen. Dort werden insgesamt sechs Gruppierungen wie der „Ordo Templi Orientis“ oder die „Societas Rosicruciana in Anglia“ abgedeckt, ich hätte es allerdings spannend gefunden, an dieser Stelle noch mehr über bestehende Kulte, möglicherweise auch außerhalb unseres Kulturkreises hinaus, zu erfahren.

Der umfangreiche Block „Mythos-Kulte“ bietet ein Nachschlagewerk von Kulten aus Literatur und „Cthulhu“-Szenarien. Diese können direkt in eigene Abenteuer eingebaut oder als Inspirationsquelle für die Erschaffung eigener Kulte genutzt werden. Die Auflistung erfolgt dabei einem einheitlichen Format. Nach der verehrten Mythos-Gottheit wird die Motivation des Kultes und dessen Struktur beschrieben. Es folgt jeweils die Benennung des Anführers sowie die Fundstellen in der Literatur oder in Abenteuern. Eine wirklich sehr umfassende und inspirierende Aufstellung, die so ziemlich jeden in Frage kommenden Kult abdecken sollte.

Das Kapitel „Einen Kult erschaffen“ gibt dem Spielleiter einen Baukasten in die Hand, einen überzeugenden und abwechslungsreichen Kult als Gegenspieler der Investigatoren zu konzipieren. Dabei werden die Eckpfeiler eines Kultes ausgiebig betrachtet: Was ist das Kultobjekt? Welche Ziele verfolgt man? Wie ist die Entwicklungsgeschichte? Welche Organisationsformen stecken dahinter? Wie ist die räumliche Struktur? Wie das Außenbild? Welche Riten und Praktiken werden verfolgt? Ein umfangreicher „Kult-Generator“, über dessen mehr als 30 Tabellen zufallsgesteuert ein eigener Kult entworfen werden kann, rundet das sehr aussagekräftige Kapitel ab, das sicher nicht nur für „Cthulhu“-Runden interessant ist, sondern auch andere Rollenspiele ergänzen kann.

Neben dem Quellenteil umfasst „Von unaussprechlichen Kulte“ auch drei längere Abenteuer, denen ich mich nun etwas ausführlicher widmen werde. Dabei werde ich auf wesentliche Handlungselemente eingehen. Wer die Abenteuer noch als Spieler erleben möchte, ist eingeladen, gleich zum Fazit zu springen.

Das erste Abenteuer „Die Wächter“ startet mit einer gewöhnlichen Kindesentführung. Die Investigatoren erfahren bei ihren Untersuchungen vor Ort allerdings sehr schnell, dass hinter diesem Vorfall ein System stecken muss, da derartige Entführungen in regelmäßigen Abständen geschehen. Zudem halten sich die Bewohner merkwürdig bedeckt und unkooperativ. Die Befreiung des Kindes vor Augen bringt den Investigatoren nur einen kurzen Moment der Erleichterung. Sie finden heraus, dass die Kinder Opfergaben zur Besänftigung eines Mythoswesen sind, das andernfalls über die Welt hereinbrechen wird. Dadurch stehen sie vor dem spannenden moralischen Dilemma, ob ein Menschenleben geopfert werden darf, um eine Gemeinschaft zu retten. Würden die Investigatoren dann aber nicht auch auf der gleichen Stufe wie Kultisten agieren? „Die Wächter“ ist ein spannendes detektivisches Abenteuer mit einer erstaunlichen Wendung, das stetig seinem Höhepunkt zusteuert und die Spieler dann dort vor eine fast unlösbare moralische Herausforderung stellt.

Bei „Zerschlagene Stunden“ erfordert der Ausbruch einer Trommelhysterie das Eingreifen der Investigatoren. Dadurch gelangen sie in den Besitz einer blutgetränkten Trommel, deren Historie weit in die Vergangenheit reicht und in deren Umfeld absonderliche Dinge geschehen. Die Spuren führen zu einem Kloster im spanischen Hinterland, wo sie von der Bedeutung der Bluttrommel im kosmischen Gleichgewicht erfahren und im Finale mittels dieses Artefakts einen Spalt im Gefüge der Realität verschließen können. Das Abenteuer beginnt als Detektivgeschichte und wandelt sich im weiteren Verlauf zu einer Expedition in unbekannte Regionen Spaniens. Herausforderung für den Spielleiter sind die Fähigkeiten der Bluttrommel, das Bespielen einer fünfwöchigen Reise ohne Spannungsabfall sowie die dramatische Ausgestaltung des Höhepunktes – ein Würfelduell der Rhythmen.

„Grüne Grenze“ schließt den Band mit einem ungewöhnlichen Abenteuer ab, das weniger ein Szenario im klassischen Sinne ist, sondern vielmehr ein Baukasten, in dem ein moderner Kult von Ökoterroristen beschrieben und ein Kampagnenrahmen um diesen Kult skizziert wird. Die Handlung ist dabei in Eskalationsstufen unterteilt, mit deren Ansteigen die Gefahr und Aktivität des Kultes steigen. Diese können zusammenhängend gespielt oder in eine laufende Kampagne eingestreut werden. Während zu Beginn die Kontakte der Investigatoren mit dem Kult noch subtil sind, werden sie mit Fortschreiten des Abenteuers immer tiefer in die Machenschaften des Kults „Naturschutzverein Grüne Grenze E.V.“ und deren Anbetung der „Grünen Gottheit“ gezogen. Die Schauplätze und Rahmenhandlungen der einzelnen Szenen werden nur skizziert, sodass der Spielleiter noch einige Vorbereitungszeit in deren Ausgestaltung investieren muss. Das Abenteuer ist für den Spielleiter sicherlich das herausforderndste des Bandes. Es bedarf intensiver Auseinandersetzung mit den zahlreichen Antagonisten und deren Konflikten, den Möglichkeiten des Kultes sowie den Schauplätzen.

Fazit: „Von unaussprechlichen Kulten“ ist ein ausgesprochen gelungener „Cthulhu“-Band. Der hervorragende Quellenteil führt gekonnt in die Thematik der Kulte ein und füllt diese klassischen Antagonisten mit differenzierendem Leben. Der Block der realen Kulte hätte dabei gerne noch etwas ausführlicher gestaltet werden können. Drei sehr gute Abenteuer beleuchten den Kampf gegen die Kulte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während „Die Wächter“ in einer erstaunlichen Wendung die Investigatoren möglicherweise selbst zu Kultisten macht, steht in „Zerschlagene Stunden“ ein okkultistisches Artefakt im Mittelpunkt und „Grüne Grenze“ bietet einen Kampagnenbaukasten für das Ringen mit modernen Ökoterroristen.

Von unaussprechlichen Kulten

Quellen- und Abenteuerband
Ingo Ahrens, André Frenzer, Peer Kröger, u. a.
Pegasus Press 2019
ISBN: 9783957893147
224 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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