Vengeance – Tag der Abrechnung

Goddard „Shadowman“ Bailey fand seinen Bruder James von einem Straßenschild baumelnd. Johnny Silver verlor seinen Club und seine wertvollen Musik-Erinnerungsstücke an die Gangs. Und Little Gudruns Mann wurde von Bikern umgebracht. Sie alle wollen nur eins: Rache. In „Vengeance – Tag der Abrechnung“ bekommen sie sie.

von Frank Stein

Normalerweise ist der Mord an anderen Lebewesen im Genre-Brettspiel eher notwendiges Übel als brutale Absicht. Orks wollen einen daran hindern, ein Stollensystem zu erkunden. Aliens greifen einen an, während man in einem Raumschiffwrack nach Überlebenden sucht. Kultisten trachten danach, Unschuldige ihren alten Göttern zu opfern. Meist sind es die Helden, die bedrängt werden, und wenn sie es könnten, würden sie den Konflikt ja auch friedlich lösen. Ganz ehrlich.

„Vengeance“ ist da anders. Bei „Vengeance“ ist der Kampf der Hauptzweck des Spiels, meist hat er nicht mal mehr einen tieferen Sinn, sondern es geht schlichtweg darum, Vergeltung für erlittenes Leid zu üben. Mit Messern und Pistolen bewaffnet stürmen die Protagonisten Runde um Runde Örtlichkeiten wie Ritas Waschsalon, das Addolarata-Anwesen oder das Restaurant zum Blauen Drachen und metzeln – teils unter fahrlässiger Gefährdung der eigenen Gesundheit –, was das Zeug hält, um neben zahlreichen Handlangern einen Boss umzubringen, der ihnen vorher übel mitgespielt hat. Als Film hätte der Stoff FSK18, das Brettspiel ist immerhin erst für Spieler gedacht, die 14 oder älter sind.

Das Spiel von Gordon Calleja unterstützt sein Thema in allen Bereichen: von seinen schmutzigen, an einen Frank-Miller-Comic erinnernden  Illustrationen, über die tragischen Hintergrundgeschichten seiner fünf Protagonisten, bis zu den Spielmechanismen, die ständig die Bereitschaft zur Selbstzerstörung erfordernd, um den entscheidenden Vorteil zu erringen. Rache ist halt ein blutiges Geschäft – für alle Parteien. Ungewöhnlich ist dabei, dass nicht etwa ein Spieler die Gangs spielt und einer oder mehrere die Protagonisten, wie man das von Miniaturenspielen wie „Descent“ oder „Star Wars: Imperial Assault“ kennt. Die Bösen werden vielmehr komplett vom Spiel gesteuert, wobei sie an sich extrem passiv bleiben. Was immer einem Protagonisten widerfährt, er hat es sich zu hundert Prozent selbst zuzuschreiben.


 Endergebnis einer Zweierpartie.

Tatsächlich ist „Vengeance“, obwohl mit 80 Miniaturen ausgesprochen figurenlastig, kein Skirmish Game im normalen Sinne, sondern unter seiner brutalen Oberfläche eine ausgeklügelte Jagd nach Siegpunkten, die durchaus strategische Planung erfordert. Siegpunkte sind es, die bei der Abrechnung am Ende entscheiden, welcher der einsamen Rächer, die  nebeneinander her ihrem Rachefeldzug nachgehen, zum Gewinner einer Partie gekürt wird. Die Abrechnung erfolgt automatisch nach drei Akten, die jeweils eine Trainings- und eine bis zwei Vergeltungsphase(n) haben. Punkte bekommt man für tote Bosse, Verstecke, die komplett von Handlangern gesäubert wurden, für Aufgaben, die man während des Spiels lösen kann, und für Missionen, die globale Ziele während einer Partie darstellen und am Schluss berücksichtigt werden.

Dabei lassen sich Bosse und Verstecke jedoch nicht einfach so abrechnen, sondern man muss dafür die passenden Vergeltungskarten vor sich ausgespielt haben (die man ganz zu Spielbeginn gedraftet hat). Vergeltungskarten gibt es in vier Farben – die vier Banden repräsentieren – und dort jeweils in Form von zwei Bossen und einem Oberboss. Diese haben ihre Entsprechungen in den Bosskarten, die zu Anfang gemischt und dann verdeckt auf die sechs Start-Verstecke ausgelegt werden. (Später werden Verstecke und Bosse nachgezogen, wenn eine Örtlichkeit „gesäubert“ wurde.) Ein Protagonist sollte also nicht beliebig irgendwo reinstürmen und Leute abmetzeln, sondern vorher aufklären (mithilfe von Erkundungsmarkern), ob sich überhaupt die Kerle an dem Ort befinden, die ihm zuvor übel mitgespielt haben. Denn nur für echte Rache gibt es Punkte.

Und es wird einem übel mitgespielt! Der Clou an den Vergeltungskarten (von denen zu Spielbeginn gleich mal drei ausgelegt werden) ist nämlich, dass sie einen Preis haben. Jede Karte repräsentiert einen Boss, der den Helden verprügelt, bedroht oder gefoltert hat. Das reicht von Elektroschocks über Drogenmissbrauch bis zur chinesischen Wasserfolter und erzeugt beim Protagonisten Stress, Erschöpfung oder Verwundungen. Gangs sind halt sadistische Scheißkerle, die man auch mit Inbrunst hassen darf.


 Killerin Lea will die Asiaten besuchen. (Die farbigen Figurenbasen weisen auf Gegnertypen hin.)

Die drei Schadensarten, die entweder leicht (roter Marker) oder schwer (schwarzer Marker; schwerer heilbar) ausfallen können, reduzieren die drei Werte eines Protagonisten: Verstand, Kampfkraft und Leben. Weniger Verstand bedeutet weniger Würfel im Training. Weniger Kampfkraft bedeutet weniger Würfel im Kampf. Und Lebenspunkte stellen – klar – die Gesundheit dar. Ist eine der Statusleisten voller Schadensmarker, ist der Protagonist K.O. und muss zwingend in der nächsten Trainingsphase heilen. Vorher geht nichts mehr. Dumm also, wenn man in der ersten von zwei Vergeltungsphasen K.O. geht. Im Kampf kann man übrigens lediglich Wunden nehmen und die auch nur, wenn man rücksichtslos in einen Raum voller Gegner stürmt, wenn man in Reichweite von Gegnern ist, während die „zurückschlagen“, oder wenn man nach drei Kampfrunden automatisch zur Flucht aus dem Versteck gezwungen ist, weil man es vorher nicht komplett hat säubern können. Damit liegt der Schaden durch Gegner weitgehend in der Hand des Spielers. Wer vorsichtig spielt, kann ihn komplett vermeiden, wird aber kaum Siegpunkte sammeln.

Damit der Protagonist die insgesamt fünf Vergeltungsphasen auch durchsteht, gibt es die drei Trainingsphasen. In diesen werden Trainingswürfel, Trainingskarten und gegebenenfalls Jokerplättchen eingesetzt, um zu heilen, Erkundungsmarker zu erwerben und – ganz wichtig – Verbesserungsplättchen (Fähigkeiten und Gegenstände) von der Werkstatttafel zu kaufen. Fähigkeiten stellen dabei dauerhafte Vorteile dar, die überwiegend dazu dienen, Ergebnisse der Rachewürfel während der drei Kampfrunden einer Vergeltung zu manipulieren, also etwa aus einem Messer eine Pistole zu machen, weil man gerade Fernkampf- und nicht Nahkampfschaden braucht, alle Würfel erneut zu werfen oder zusätzlichen Schaden zu erhalten. Die Gegenstände sind Einmaleffekte, die aber inhaltlich ähnlich geartet sind. Im Mehrspielermodus ist dabei auch noch der Aspekt der Schnelligkeit zu beachten, der die Reihenfolge der Spieler festlegt. Die ist wichtig, um zu wissen, wer zuerst trainiert (und dabei zum Beispiel die besten Verbesserungsplättchen abgreift) und wer zuerst angreift (und dabei etwa ein Versteck in einer Farbe ausräuchert, das auch ein anderer Spieler im Blick hatte).


 Viele üble Leute haben Lea Schmerzen zugefügt - und mussten dafür sterben.

Man merkt: Es steckt einiges mehr in der schwergewichtigen Box, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Rache zu üben, ist kein so leichtes Geschäft und wer ein echter Profi-Punisher werden will, muss bereits von Anfang an seine Strategie im Blick haben (indem man sich beispielsweise beim Vergeltungskarten draften auf zwei Banden beschränkt, damit man maximale Siegpunkte aus einem Versteck passender Farbe abrechnen kann).

Das Solo-Spiel, das auch enthalten ist, verschiebt den Fokus dagegen ein wenig. Hier wird ein narrativerer Ansatz gewählt. Spielerreihenfolge, Missionen, Aufgaben und Karten-Draft fallen weg. Stattdessen wird einiges am Setting vorgegeben und man muss konkrete Aufgaben, die sich aus der Hintergrundgeschichte ergeben, lösen – und überleben, soll heißen: eine gewisse Menge Siegpunkte erringen. Auch hier darf man natürlich nicht völlig blindlings losstürmen, dennoch fühlt sich das Solo-Spiel gradliniger und mehr wie typisches Rache-B-Movie an.

Ein Wort noch zum Spielmaterial: Dieses entspricht dem gehobenen Brettspiel-Standard, den man heutzutage mehr oder weniger gewohnt ist. Die Miniaturen sind schön detailliert, stehen allerdings teilweise etwas windschief auf ihren Basen oder tragen arg verbogene Schwerter mit sich herum (nicht zuletzt weil sie in der Box nur in Plastiktüten aufgewahrt werden, nicht in einer Einlage). Die modularen und beidseitig bedruckten Versteck-Spielbretter weisen stimmungsvolle Illustrationen auf, ebenso alle Vergeltungs- und Bosskarten, die eine schmutzige, ruppige Atmosphäre gut rüberbringen. Komplett aufgebaut macht „Vengeance“ auf dem Spieltisch also durchaus was her. Auf- und Abbau sind zudem in überschaubarer Zeit zu bewerkstelligen.


 Im Solo-Modus kommt eine exta Solomissionskarte ins Spiel (rechts neben der Rächertafel).

Das Regelwerk kommt etwas konfus daher, nicht zuletzt weil es Schnellstartregeln, normale Regeln und Solo-Regeln anbietet, wobei die Solo-Regeln-Seite aber nur die Abweichungen von den Standardregeln auflistet, die allerdings nicht immer funktionieren. So heißt es beispielsweise, dass im Solo-Spiel der letzte Boss (ich nehme an: des Bosskartenstapels) immer ein Oberboss ist, der offen auf sein Versteck gelegt wird, wenn man ihn zieht. Allerdings werden in der dritten Trainingsphase alle leichten Verstecke, die nur 2 Siegpunkte einbringen, vom Tisch geräumt und deren Bosse werden gemischt unter den Bosskartenstapel gelegt, sodass sich der Oberboss nun eben nicht mehr ganz unten befindet. Auch ist nicht ganz ersichtlich, ob man pro Vergeltung nur einen einzigen Ort „erkunden“ darf (indem man einen Erkundungsmarker drauflegt und sich den verdeckt ausliegenden Boss dort anschaut) oder ob man so viele Orte erkunden darf, wie man Erkundungsmarker besitzt. Hier muss man sich aktuell mit Hausregeln behelfen, denn ein offizielles FAQ gibt es auch nach mehreren Monaten noch nicht. Grundsätzlich kann man sich jedoch ganz gut in das Spiel reinfinden, denn die Regeln sind weder umfangreich noch sonderlich kompliziert.

Fazit: An der Oberfläche eine blutige „Kill Bill“-Schlachtplatte, darunter eine unerwartet ausgeklügelte Siegpunktehatz. „Vengeance“ ist ein Spiel, das sowohl allein als auch zu mehreren Laune macht und dabei tatsächlich einige Unterschiede im Spielerleben bietet. Allerdings darf man kein typisches Skirmisch Game erwarten, sondern muss sich der Tatsache bewusst sein, dass jeder Rächer mehr oder weniger für sich spielt. Die Konkurrenz entsteht nur indirekt im (meist ungeplanten) Stören der Strategie der anderen Spieler. Außerdem muss man sich natürlich für die Materie erwärmen. In einer dreckigen Welt mit kaputten, zu Selbstzerstörung neigenden Charakteren loszuziehen, um brutale Gangster umzubringen, ist nun nichts, was man am Sonntagnachmittag mit seiner Familie machen möchte. Für Fans von Frank Miller, Quentin Tarantino und die einsamen Rächer der nächtlichen Bahnhofskinovorstellungen der 80er.

Vengeance – Tag der Abrechnung

Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 14 Jahren
Gordon Calleja, David Chircop, Torvenius
Asmodee/Mighty Boards 2017
EAN: 4015566034143
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 79,99

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