Vellum

Warum existieren wir? Woraus ist das Universum gemacht? Wozu gibt es Liebe und Schmerz? Und warum wird unsere Welt bald enden? Der literarische Newcomer Hal Duncan meint auf diese Fragen Antworten zu haben.

von Simon Ofenloch

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“ Mit diesen Worten Heinrich Heines lässt sich am besten beschreiben, welche Empfindungen Hal Duncans Roman „Vellum“ auslöst. Traurigkeit ist es nicht, eher Ratlosigkeit und Unmut.

„Vellum“ schildert den mystischen Kampf zwischen verschiedenen gottähnlichen Fraktionen, sowie menschlicher Pendants. Die Guten und die Bösen sind schwerlich zu benennen, auch eine Kategorisierung in Himmel und Hölle greift nicht wirklich. Die Geschichte ist als Mehrteiler angelegt, das erste Buch spannt zunächst einmal ein Panorama auf, legt die Bühne fest, auf welcher der letzte Kampf ausgetragen und entschieden wird.

Dieser Kampf findet zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Realitäten statt. Perspektivenwechsel erfolgen rasch und ohne nähere Begründungen oder Sinngebungen. Die Seiten des Buches sind voller Rückblenden, Tagebucheinträge, Gedankenströme, Schilderungen von Erlebnissen in unterschiedlichsten Welten, Zeiten, Dimensionen, Visionen, Perspektiven – und das alles in mindestens drei unterschiedlichen Schrifttypen. Das ist alles sehr eklektisch und postmodern. Und weil alles so schön „meta“ und selbstreferenziell ist, hier ein vielsagender Auszug aus Duncans Roman, der im Original „Vellum – The Book of All Hours“, also „Vellum – Das Ewige Stundenbuch“ heißt:

„Weißt du“, hatte sie zu ihm gesagt, „nichts von dem, was du mir erzählst, passt zusammen. Scheiße, Finnan, kannst du nicht einmal versuchen, dir schlüssigen Bockmist auszudenken?“
Thomas hatte gelacht, in kindischer Überheblichkeit, wie sie nur ein großer Bruder zustande bringt.
„Schlüssig“, hatte er gesagt. „Scheiß auf schlüssig.“
„Es geht nicht um Schlüssigkeit“, hatte Finnan gesagt. „Wenn es um den Cant geht, spielt Logik keine Rolle. Mann kann nicht die ganze Geschichte, die vollständige Geschichte erzählen und dabei hoffen, sich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Man kann bestenfalls hoffen, … einigermaßen zusammenhängend und umfassend zu sein. Und wenn es um die verfluchten Unkin geht, sollte man sich darum wahrscheinlich auch nicht allzu viele Gedanken machen. Vertrau mir: Wenn sie der Meinung wären, du hättest rausbekommen, worum es wirklich geht – als ginge es wirklich um etwas –, dann würden sie wie die Scheißraben auf einem Schlachtfeld über dich herfallen. Denn das ist es, worauf sie aus sind. Eine nette, klare Antwort auf alle Fragen.“
„Und du glaubst, die gibt es nicht?“, hatte sie wissen wollen.
Er schüttelte den Kopf.
„Nicht einmal im Buch steht eine, soweit ich gehört habe.“
„In welchem Buch?“
„Im Ewigen Stundenbuch.“
„Was ist das – das „Ewige Stundenbuch“?“
„Ah“, sagte Finnan, „das ist wieder eine ganz andere Geschichte.“ (S. 154)

Der Schotte Hal Duncan pfeift auf dramaturgische Grundregeln und verkauft dies als Originalität. Doch so originell ist dieser Ansatz nicht. Ähnlich sind schon Robert Shea und Robert Anton Wilson mit ihrer Roman-Trilogie „Illuminatus!“, Tad Williams mit dem Mehrteiler „Otherland“, Philip Pullman mit seiner „His Dark Materials“-Reihe und in Abstrichen selbst Umberto Eco in seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel“ vorgegangen. Und auch inhaltlich erinnert Duncans Werk an bereits Dagewesenes – die „God’s Army“- und „The Matrix“-Filme lassen grüßen.

Interessant ist die Auseinandersetzung mit entscheidenden (Sinn-)Fragen des Lebens, und das Streifen und Verbinden zahlloser Mythologien, Sagen und Epen der Menschheitsgeschichte, sowie thematisch verwandter Dramen und Dichtungen. Allerdings geschieht dies in einem derart konfusen Durcheinander und unter einer derart überzogenen Voraussetzung von (Vor-)Kenntnissen, dass dem „normalen Leser“ schnell die Lust vergehen muss. Ein respektvolles Lob gebührt dem deutschen Übersetzer Hannes Riffel, dem es offenbar gelang, sich durch Duncans Hirngespinste durchzuarbeiten.

„Vellum“ möchte genau dies: erarbeitet werden. Der nichtlineare Erzählstil, das Fehlen eines zentralen Protagonisten, der auch als Identifikationsfigur dienen könnte, und das unvorbereitete Aneinander- und Übereinanderreihen weniger bekannter Mythologien, erschweren diese Aufgabe und strengen an. „Much adoe about Nothing“.

Und Heyne hat dem Taschenbuch auch noch ein Cover verpasst, dass es aussieht wie eine Kreuzung aus Science-Fiction-Literatur und New-Age-Schreibe – vermutlich konnte dem Grafiker auch niemand sagen, worum es eigentlich geht.

Fazit: Wer Spaß an einem Buch hat, bei dem man nie weiß, wer eigentlich wer ist und wer lebt und wer tot ist, was das überhaupt bedeutet, und wo und wann das Ganze spielt und wovon es eigentlich handelt, für den ist „Vellum“ womöglich genau das Richtige. Für alle anderen mag der Wälzer zu unstrukturiert, zu fragmentarisch, zu ziellos und beliebig sein – und letztlich wohl auch zu inhaltsleer.


Vellum
Science-Fiction-Roman
Hal Duncan
Heyne 2008
ISBN 978-3-453-52254-1
592 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 8,95

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