The Everrain

Die Welt ist dem Untergang geweiht. Der Himmel ist von Wolken verdunkelt, ewiger Regen fällt zur Erde nieder und Stürme plagen die See. Die Menschen auf den Inseln haben sich schon fast damit abgefunden, nur ein paar wissen, dass es noch schlimmer kommen wird. Denn ein dunkler Gott entsteigt den Meerestiefen, und er muss dringend daran gehindert werden! Ein paar mutige Kapitäne stellen sich dem Übel entgegen.

von Bernd Perplies

„The Everrain“ ist ein kooperatives Abenteuerbrettspiel für 1 bis 4 Spieler. Es hatte seinen Ursprung als Kickstarter-Projekt, wo es im Oktober 2018 von knapp 4000 Unterstützern finanziert wurde. Der Produktionszeitplan (Auslieferung sollte Herbst 2019 sein) wurde zwar nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie, die 2020 über die Welt hereinbrach, hart gerissen, aber im späten Frühjahr 2022 konnten sich Backer (und teilnehmende Händler) dann über ihre Spiele freuen. Für Grimlord Games sah die Sache dagegen nicht ganz so rosig aus. Nur einen Kickstarter später musste die kleine UK-Spieleschmiede im März 2023 Insolvenz verkünden, und auch wenn es mit Scoundrel Game Labs aus den USA einen Käufer für die Produktrechte gab, ist derzeit unklar, ob „The Everrain“ eine zweite Auflage bekommen wird oder ob es ein Geheimtipp bleibt, den man nur auf dem Sekundärmarkt finden kann.

Nun könnte man sich mit Fug und Recht fragen, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, eine Rezension hierfür zu verfassen. Ganz einfach: Mir gefällt das Spiel wirklich gut, und ich möchte nicht nur grundsätzlich darauf hinweisen, sondern auch die Pros und Contras aufzeigen, damit jeder, der bereit ist, Ebay-Preise zu bezahlen, weiß, was er dafür bekommt.

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Noch bevor man die schwergewichtige Box überhaupt öffnet, sticht einem bereits das stimmungsvoll düstere Design ins Auge. Eine sturmgepeitschte See unter Gewitterwolken, auf der alte Segelschiffe mit Kanonendonner gegen einen gewaltigen Meeresgott kämpfen, der mehr als nur ein paar cthuloide Züge hat – hier wird eine Atmosphäre heraufbeschworen, irgendwo zwischen Piratenabenteuer und kosmischem Schrecken, die das Herz direkt höher schlagen lässt. Auch die Spielkomponenten im Inneren triefen vor Seefahrer- und Schauerstimmung. Auf einem großen Spielplan werden Seekartenteile voller kleiner Inseln ausgelegt, die belebte Häfen, unheilige Stätten oder einfach Expeditionen ins Unbekannte versprechen. Jeder Spieler erhält zu Beginn sein eigenes Schiff, eine großformatige Tafel, die in Ober- und Unterdeck unterteilt ist und während einer Partie mit Kanonen und Ausbauten aufgerüstet werden kann. Dazu kommen schicke Schiffsminiaturen wie auch Figuren, die Besatzung und Feinde darstellen und in der – zugegeben nicht gänzlich gelungenen – Riesenminiatur des „Gottes der Tiefe“ gipfeln. Auf alt gemachte Pappmünzen, hübsch illustrierte Schatzkarten und Unmengen an kleinen Erzähltexten auf den Ereigniskarten runden das Ganze ab. Von der Tischpräsenz her macht „The Everrain“ wirklich, wirklich Spaß.

Das Regelstudium dagegen ist keine uneingeschränkte Freude. Grundsätzlich ist „The Everrain“ nicht übermäßig schwierig. Man kommt eigentlich ganz gut rein, und schon bei der zweiten Partie lässt das Blättern im knapp 40-seitigen Regelwerk (wovon ca. 30 bildreiche Seiten echte Regeln sind) spürbar nach. Wenn man allerdings blättern muss, gestaltet sich die Suche fast jedes Mal mühselig, weil Informationen auf eine irgendwie nicht intuitive Art und Weise verteilt wurden. Was beispielsweise passiert, wenn das eigene Schiff zerstört wird, steht nicht im Kapitel für Kampf, sondern in dem viel weiter vorn mit dem Titel „Dein Schiff“. Wohlgemerkt existiert ein sehr umfangreiches Inhaltsverzeichnis, und, ja, vielleicht sollte man das häufiger konsultieren. Doch manchmal findet sich das, was man sucht, auch nicht unbedingt da, wo man es laut Überschrift erwartet. Oder die Informationen bleiben unvollständig.

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Noch ein Beispiel: Gespielt wird „The Everrain“ in Runden, die aus einer Spielerphase und eine Feindphase bestehen. In der Spielerphase absolvieren alle Spieler nacheinander ihren Zug. Es gibt einen Startspielermarker, aber ob danach im Uhrzeigersinn oder in freie Reihenfolge verfahren wird, verrät besagte Stelle nicht. (Wir haben uns für Uhrzeigersinn entschieden; das ist typisch für Spiele mit Startspielermarker.) Wer am Zug ist, kann Befehle ausgeben. Zu Beginn hat man drei Mannschaftsbefehle, zwei Navigationsbefehle und einen Feuerbefehl. Außerdem erhält man – neben seinem Schiff – eine alte Kanone, eine Jolle für Inselexpeditionen, den Ausbau „Kajüten“, zwei Matrosen (mit je zufällig gezogener hilfreicher und hinderlicher Eigenschaft) sowie 40 Münzen.

Mit einem Mannschaftsbefehl kann man eine Figur der eigenen Besatzung auf einen beliebigen Posten im Unter- oder Oberdeck stellen. Posten haben dabei verschiedene Effekte. Auf einem Navigationsposten auf dem Oberdeck wird die eigene Geschwindigkeit um 1 erhöht, auf einem Artillerieposten im Heck, am Bug oder an Steuerbord respektive Backbord kann man die passend platzierte Kanone abfeuern. Wer sich in die Jolle setzt, kann Inseln besuchen, in der Kajüte wird Stress abgebaut. Weitere, im Hafen kaufbare Ausbauten bringen neue Effekte an Bord.

Der Navigationsbefehl erzeugt Reisepunkte, mit denen man über die Hexfelder des Spielplan schippert, um Inseln zu erkunden, Schiffswracks zu untersuchen, Feindschiffe abzufangen oder Häfen anzulaufen. Der Feuerbefehl schließlich lässt einen Kanonen abschießen – wenn man welche an Bord hat und eine Figur sie auch bemannt.

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Bei allem, was wir tun, geht es vor allem darum, Hinweise zu sammeln. Denn Hinweise helfen, das Wirken des Großen Alten, pardon: des Gottes der Tiefe, zu beenden. Hier wehen deutliche „Arkham Horror“-Vibes über den Spieltisch. Hinweise erhält man zum Beispiel, indem man ein neues Kartenteil platziert oder Schätze wie Bücher oder Artefakte findet, die Hinweiswerte haben. Man kann auch in der Hafenkneipe Leuten Informationen abkaufen. Wer genug Wissen angesammelt hat, kann das zur Universität bringen, die jede Stadt hier zu haben scheint, und die schlauen Leute dort bündeln das dann so, dass man damit etwas Sinnvolles anfangen kann, denn man rückt ein Feld auf der am Spielplanrand verlaufenden Fortschrittsleiste vor. Diese ist in vier Akte unterteilt, wobei ein kurzes Spiel nur 2 Akte hat, ein mittellanges 3 und ein langes dann 4.

Auf der Fortschrittsleiste bewegen sich drei Marker. Der Spieler-Fortschrittsmarker wird durch das Einzahlen von Hinweisen vorangetrieben. Der Feindes-Fortschrittsmarker dagegen bewegt sich abhängig von der gegenüber liegenden Agendaleiste, auf der der Feindes-Agenda-Marker – je nach Spieleranzahl und allgemeinem Fehlverhalten der Gruppe – unbarmherzig immer wieder von 1 bis 10 wandert. Immer wenn er zum Anfang zurückkehrt, schiebt das den Feindes-Fortschrittsmarker voran. Wer zuerst das Ende des letzten Aktes erreicht, gewinnt dabei das Spiel, wobei fairerweise bei jedem Aktwechsel der Zurückliegende (egal ob Spieler oder Feinde) bis zum Aktwechsel aufholen darf, sodass der Wettlauf stets spannend bleibt. Der dritte Marker auf der Fortschrittsleiste ist der Älteren-Fortschrittsmarker, der aus verschiedenen Gründen den anderen zwei Markern vom Spielzielfeld entgegenkommt. Treffen Älteren-Fortschrittsmarker und Feindes-Fortschrittsmarker aufeinander, erwacht der Avatar (die Riesenminiatur) des dunklen Gottes und sorgt für Tod und Vernichtung. Wirklich besiegen kann man ihn nicht, aber man kann ihn zumindest ausbremsen, sodass man trotzdem noch als erster das Zielfeld erreichen und gewinnen kann – falls vorher nicht alle Spieler von dem wütenden Tentakelmonster versenkt wurden.

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So viel zum allgemeinen Ablauf. Natürlich kommt noch einiges an Details dazu. Man kann sein Schiff ausbauen. Man kann im Hafen weitere Matrosen und bessere, spezialisierte Besatzung, wie einen Skipper oder eine Navigatorin, anwerben. Man kämpft gegen blasphemische Fieslinge, die einen entern, und schießwütige Geisterschiffe, die einen jagen. Auf See, auf Inseln und in jeder Stadt warten Ereignisse und auch Passagiere, die Geld und Hinweise einbringen. Es gibt sogar mehrteilige Ereignisse, sogenannte Chroniken, die nach drei absolvierten Karten mit einer besonderen Belohnung aufwarten. Ich erwähnte es bereits und wiederhole es erneut: „The Everrain“ bietet Atmosphäre satt, wenn man schaurige Seefahrerabenteuer mag.

Das einzige, was nicht so recht zusammenpasst, sind der Abenteuerpart und die Hinweis-Mechanik. Das merkt man vor allem gegen Spielende. Denn spätestens im letzten Akt geht es nur noch darum, möglichst schnell und effizient Hinweise zu sammeln und abzuliefern. Da fahren Spielerschiffe auch schon mal im Zickzack und tauschen zwei Mal pro Runde Mannschaftsmitglieder aus, weil ein Matrose zum Beispiel erlaubt, mit nur 4 statt 5 Hinweisen ein Feld vorzuziehen. Auf verschiedenen Schiffen kann dieser dann mehrfach die gleiche Stadt anlaufen und zur Universität rennen, etwas, das mit nur einem Schiff eben nicht geht. (Man darf jede Stadt nur einmal pro Runde anlaufen und auch die Universität nur einmal pro Stadtbesuch frequentieren.) Wenn man dann also anfängt, taktische Schlupflöcher in den Regeln zu suchen und zu nutzen, leidet die eigentliche Abenteuerstimmung, die einen anfangs noch in den Bann zieht, schon darunter.

Man könnte auch sagen, dass das Spiel immer wieder von einer Richtung in die andere pendelt. Mit genug Vorsprung vor dem Feind, nimmt man sich die Zeit, Inseln zu erforschen und Gegner zu besiegen, um Münzen und Schätze zu sammeln, mit denen das eigene Schiff aufgerüstet wird. Gerät man aber ins Hintertreffen oder wird es eng vor einem Akt-Ende, richtet sich alle Konzentration auf optimiertes Hinweisesammeln, auch auf Kosten der Erzähllogik. Das macht „The Everrain“ für mich nicht kaputt – ich mag tatsächlich beide Aspekte, das lockere Entdecken und das beinharte Optimieren, gerade im gebotenen Setting –, aber ich weiß, dass es kritische Stimmen dort draußen gibt, denen das spürbar missfällt.

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Zum Abschluss noch ein Wort zu den Erweiterungen. Sieht man von Dingen wie Metallmünzen, Acrylmarkern und Neoprenmatten ab, funktionieren diese im Grunde alle gleich: Sie bringen neue Ereignisse ins Spiel, meist zwei neue Arten von Schiffscrew – etwa den Quartiermeister, Bootmann oder Sölder – und zwei neue Gegnerarten, darunter Marodeure, Scheusale und Akolythen-Prediger. Das alles lässt sich problemlos ins Grundspiel integrieren und erweitert schlichtweg die Auswahl.

Fazit: „The Everrain“ ist ein kooperatives Abenteuerspiel mit einer tollen Tischpräsenz, etwas suboptimalem Regelwerk und einem Spielverlauf, der mal in Richtung Erkunden, Erleben und Entdecken tendiert, dann wieder zur beinharten Jagd nach siegbringenden Hinweisen zwingt. Mir persönlich gefallen dabei das Setting, die Aufmachen und die Spieloptionen (mit dem Ausbau des eigenen Schiffs und einer individuellen Mannschaft) so gut, dass ich über die kleineren Mängel im Endgame hinwegblicken kann. Wer thematisch auf düsteren Seemannsgarn steht, der sollte sich diesen Geheimtipp unbedingt genauer ansehen.

The Everrain
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 14 Jahren
Adam Smith
Grimlord Games 2022
EAN: 064566439802
Sprache: Deutsch
Preis: ca. 110,00 EUR

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