von Jens Krohnen
Simon Stålenhag wurde 1984 in Schweden geboren. Mittlerweile hat er sich einen Namen als Künstler, Musiker und Designer gemacht. Nicht zuletzt dank seinen eindrucksvollen Zeichnungen, die zwar digital entstehen aber an Ölgemälde erinnern. Widmeten sich seine ersten beiden Bände dem „Loop“, einer Forschungseinrichtung in seiner Heimat Schweden, so wendet er sich nun neuen Welten zu.
Worum geht es?
In „The Electric State“ folgen wir einem jungen Mädchen und ihrem quietschgelben Roboter quer durch die Vereinigten Staaten des Jahres 1997 – oder eher dem, was davon übrig ist. Schwang bereits in den beiden „Loop“-Bänden eine gewisse Melancholie in den Zeilen und Bildern mit, so wird es hier richtig düster. Denn die Vereinigten Staaten sind auf mehreren Ebenen zerbrochen. Auf der einen Seite wäre da ein vor kurzem zu Ende gegangener Krieg. Dieser wurde mit sogenannten „Drohnenschiffen“ ausgetragen, ferngesteuerten Kriegsschiffen, welche mit der aus den „Loop“-Bänden bekannten Magnetrin-Technologie fliegen können. Diese Schiffe verfügen über einen Neuronen-Speicher, der einem menschlichen Piloten die Kopplung mit dem Kriegsgerät erlaubt. Während auf dem Papier also ein Krieg ohne den nominellen Verlust von Menschenleben steht, sieht die Realität anders aus: abgeschossene Drohnenschiffe dominieren weite Teile der Landschaft und die Kollateralschäden an der zivilen Bevölkerung sind verheerend.
Daneben hat die Neuronentechnologie auch Einzug in die private Wirtschaft gehalten. Die sogenannten Neurocaster, eine Art Multimedia-Brille, erlauben es ihren Nutzern, ihren Geist fernab durch alle möglichen Welten zu schicken. Was als Marketing-Gag beginnt, endet aber tragisch – denn die Neuronentechnologie macht sich selbstständig und ihre Nutzer zu willenlosen Sklaven. So sind auch gleich die ersten Bilder des Bandes geprägt von Toten oder Sterbenden, welche über die Nutzung ihres Neurocasters Grundlegendes wie Essen oder Trinken schlicht vergessen haben. Die Reise des jungen Mädchens führt also durch dieses arg zerrüttete Land. Auf ihrem Weg durch Schiffsfriedhöfe und willenlose Neurocasternutzer begleitet sie Skip, ein kleiner gelber Roboter. Während uns Stålenhag weite Teile des Buches alleine durch seine Bilder bei Laune hält und die Handlung kaum voranbringt, so überschlagen sich auf den letzten Seiten plötzlich die Ereignisse und lassen die Reise der jungen Protagonistin in einem ganz anderen Licht erscheinen.
Kritik
Wieder hat Stålenhag schriftstellerisch im Vergleich zu den Vorgängerbänden zugelegt. War bereits „Things from the Flood“ deutlich eher als zusammenhängende Geschichte konzipiert, so geht „The Electric State“ hier noch einen Schritt weiter. Zwar lässt uns auch hier die Protagonistin in kurzen Rückblenden an ihren Erinnerungen teilhaben. Doch fügen sich diese viel eher zu einem Gesamtbild zusammen und lassen uns im Laufe des Bandes erfahren, welch furchtbares Schicksal dieses Land ereilt hat. Dazu kommt, dass auch die Entwicklung rund um die fehlgeleitete Neuronentechnologie noch nicht an ihrem Ende angekommen scheint und sich zum Ende des Buches hin Umstände ergeben, die von der Protagonistin nicht vorhergesagt werden konnten.
Wieder aber lebt der Roman in erster Linie von Stålenhags unglaublichen Bildern. Die Mischung aus Verfall, Dekadenz und Degeneration gepaart mit dem quietschbunten Technikdesign der 1990er Jahre ergibt eine bedrückend melancholische Mischung, die erschreckt und fasziniert. Auch die Techniken, mit denen Stålenhag arbeitet, haben sich etwas erweitert – so werden mehr Bilder aus der Perspektive der Protagonistin gezeigt und auch geschickte Perspektivwechsel wie der Blick durch eine Windschutzscheibe voller Wassertropfen vollführt. Besonders beeindruckend sind zwei unkommentierte Bildstrecken kurz vor dem Ende des Buches, die den visuellen Charakter des Romans gekonnt unterstreichen. Hier schöpft Stålenhag noch einmal aus dem Vollen seines Könnens.
Der gelungene Twist zum Ende des Buches hin, in dem endlich die Reise der Protagonistin einen Sinn erhält, weiß zu gefallen und zeugt von der steigenden schreiberischen Reife Stålenhags. Das macht „The Electric State“ zu einem überzeugenden Gesamtpaket für alle, die etwas für düstere Zukunftsvisionen übrighaben.
Fazit: „The Electric State“ ist eine düstere Zukunftsvision, grafisch hoch beeindruckend in Szene gesetzt und mit einer seichten, aber packenden Geschichte versehen. Absolut empfehlenswert.
The Electric State
Illustrierter Roman
Simon Stålenhag
Fischer TOR 2019
ISBN: 978-3-596-70379-1
144 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 34,00
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