Tage des Mondes

Das Baltimore-Sanatorium: In einem solchen Haus endet alle Hoffnung. Wer hier lebt, ist der Welt entrückt, ist dem Wahnsinn verfallen. In „Tage des Mondes“, dem aufregenden dritten Abenteuerband zum „Hexer von Salem“-Rollenspiel nach den Romanen von Beststellerautor Wolfgang Hohlbein, liefert Andreas Melhorn eine atmosphärische, lebendige und angenehm vom Pulp-Geist durchzogene Geschichte mit Witz und Gruselschauer.

von Christian Humberg

 

Dem Wahn verfallen

Seit Beginn der Heftromanserie „Der Hexer“ legten Wolfgang Hohlbein und seine Co-Autoren besonderen Wert darauf, die Abenteuer der Kernfigur Robert Craven mit Gastauftritten realer und fiktiver Personen der jeweiligen Epoche zu veredeln. So kämpfte Robert etwa Seite an Seite mit Sitting Bull und Sherlock Holmes, begegnete (mehrfach) Kapitän Nemo und hatte in Gestalt von H. P. Lovecraft sogar den Ur-Vater des Cthulhu-Kosmos als ständigen Weggefährten. Das Rollenspielsystem verlegte das „Hexer“-Universum zwar in die für die „Cthulhu“-Rollenspiele typischeren 1920er Jahre, behielt aber den cameofreudigen Charakter der Hohlbeinschen Schöpfung bei. In „Tage des Mondes“ dürfen die Spieler somit gegen einen wahren Klassiker antreten: den aus den legendären Fritz-Lang-Filmen (und deren trivialeren Fortsetzungen aus den 1960ern) bekannten und berüchtigten Dr. Mabuse.

Mabuse will Macht, Ordnung, Kontrolle. Und er kennt einen Weg, an diese zu gelangen: den Wahnsinn. Mithilfe finsterer Mächte glaubt er einen Weg gefunden zu haben, die Wahnsinnigen der Welt, die armen Insassen der Sanatorien und Nervenheilanstalten, befehligen zu können – wenn ihm dies gelingt, steht Mabuse eine Armee willenlos gehorsamer Soldaten zur Verfügung. Weltweit.

Dr. Baltimore (Kenner des „Hexer“-Grundregelwerks wissen, welche direkt auf die Hohlbein-Romane bezogene Figur hinter diesem Alias steckt) bittet die Spielercharaktere, in seiner Klinik nach dem Rechten zu sehen. Einzelne Patienten der im ländlichen England gelegenen Anstalt verhalten sich nämlich äußerst merkwürdig, Besorgnis erregend. Gefangen in ihren ganz persönlichen Trugbildern, leiden sie vor sich hin und verlieren nach und nach ihren letzten Rest Verstand. Zusätzlich erschwerend: Die Trugbilder greifen auf die Wirklichkeit über! Schlangen treten aus Tapetenmustern hervor und beißen nach den Spielern, Spiegel bieten direkte Übergänge in die Schlachten des beendeten Weltkrieges... welcher mentale, vergangene Schrecken Baltimores Patienten auch immer antreibt, hier wird er plötzlich real.

Jenseits der Spiegel

Als Mabuse die Krankenschwester Claire Tiller aus der Baltimore-Klinik entführt, sind die Spieler gezwungen, selbst in das „Land hinter dem Spiegel“ zu schreiten und die Verfolgung aufzunehmen – sie gelangen in eine Welt, deren Widerwillen, sich einer logischen Struktur zu unterwerfen, in fast schon surrealistischen Szenen resultiert. Und die tödlich sein kann. Gelingt es den Helden, Mabuses Pläne zu durchkreuzen? Oder beginnt in der Klinik Dr. Baltimores das Ende des freien menschlichen Lebens, der Selbstbestimmung?

Andreas Melhorn ist ein erfahrener „Cthulhu“-Autor und bewegt sich stilistisch wie narrativ gekonnt durch das pulpig angehauchte „Hexer“-Sujet. „Tage des Mondes“ erweist sich als temporeiches Abenteuer, das es gleichermaßen versteht, die bizarre Atmosphäre einer „Cthulhu“-Sitzung und das Fäuste schwingende Flair der großen Pulp-Geschichten heraufzubeschwören. Wie schon ihre Vorgänger, bietet auch diese dritte eigenständige Abenteuerpublikation des „Hexer“-Systems ein angenehm autarkes Abenteuer vor dem Hintergrund und den Motiven der Hohlbein-Saga. Bestehende Rollenspielgruppen können es problemlos in ihre laufenden Kampagnen integrieren, interessierte Neuspieler (oder -leiter) finden hier abermals einen perfekten Einstieg in das Spielsystem. Wenn der Pulp regiert, sollte Schwellenangst ein Fremdwort sein: Die Ärmel hochkrempeln, Spieler, du wirst gebraucht!

Literatur als Bonusmaterial


Es ist schon Tradition, dass die „Hexer“-Rollenspiel-Publikationen von einer eigens dafür geschriebenen Kurzgeschichte von Wolfgang Hohlbein und Dieter Winkler eingeleitet werden. In diesen, nur am Rande auf die spätere Spielhandlung eingehenden Geschichten, schreiben die beiden Autoren (aus deren gemeinsamer Feder etwa der nach wie vor sehr erfolgreiche „Enwor“-Fantasyzyklus stammt) die in den Bastei-Heftromanen und -Taschenbüchern begonnene Saga um den Hexer Robert Craven fort, exklusiv fürs Rollenspiel. Ich hatte mich in einer früheren Rezension bereits über die Ausnahmesituation der Abenteuerbände ausgelassen, die Literatur erspielbar machen, wiederhole es aber gerne noch einmal: In dieser Publikation wird eine Bestseller-Romanreihe fortgesetzt, vom Autor selbst und exklusiv! Das ist mal eine Form von Bonusmaterial, die ihren Namen verdient.

Fazit:
„Tage des Wahnsinns“ war der Titel einer Geschichte aus Hohlbeins „Hexer“-Romanserie (die Bastei übrigens gerade als Taschenbuchausgabe der Weltbild-Gesamtedition aus den vergangenen Jahren neu auflegt – nur leider mit absolut grottigen Covern!). Das Rollenspielabenteuer „Tage des Mondes“ von Andreas Melhorn greift die grundlegende Thematik der Romanvorlage auf, transportiert sie ins „Hexer“-Rollenspiel und verleiht ihr gekonnt einige Twists, an denen die Spieler sich und ihre Fähigkeiten erproben können. Gutes Abenteuer, gute Atmosphäre, guter Autor – weiter so!


Tage des Mondes
Abenteuerband
Andreas Melhorn
Pegasus Spiele 2007
ISBN: 978-3-937826-76-9
45 S., geheftet, deutsch
Preis: EUR 9,95

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