von Andreas Rauscher
Seit der New Wave der Sechziger Jahre zählen „what if…“-Geschichten über mögliche Parallelwelten, in denen schicksalhafte Ereignisse im entscheidenden Moment einen anderen Verlauf als gewohnt nehmen, zum festen Inventar der Science-Fiction. Die Schriftsteller William Gibson und Bruce Sterling entwarfen in ihrem Roman „Die Differenzmaschine“ ein alternatives Bild der industriellen Revolution, in dem sich unter der selbstironischen Bezeichnung Steam-Punk sämtliche Zutaten des futuristischen Cyberpunk finden. In den Arbeiten von Philip K. Dick bildet das Motiv eine feste Konstante.
Die unendlichen Weiten des „Star Trek“-Universums haben mit den diversen Formen der Zeitreise, den virtuellen Welten des Holodecks und dem Spiegeluniversum sogar eine Vielzahl von „what if...“-Dramaturgien hervorgebracht. Romane wie die berüchtigten literarischen Werke von William Shatner spielen Variationen wie Kirks Wiederbelebung durch die Borg und seine Bekehrung durch den Nachfolger Picard durch. Andere „what if...“-Plots wie „The City on the Edge of Forever“ und „Yesterday’s Enterprise“ befassen sich hingegen mit diffizilen ethischen Fragen und in der exzellenten „Deep Space Nine“-Episode „Far Beyond the Stars“ werden sogar die gesellschaftshistorischen Entstehungsbedingungen der Serie selbst vor dem Hintergrund der literarischen Szene in den späten 1950er Jahren verhandelt. Das vielleicht extremste Bild der „what if...“-Szenarien findet sich indes in der „Next Generation“-Episode „Parallels“, in der Hunderte von unterschiedlichen Enterprise-Varianten aufeinandertreffen.
Auf derart philosophisch ambitionierte Gedankenspiele verzichtet der erste Ausflug des „Star Wars“-Franchise in die Welt der spielerischen narrativen Variationsmöglichkeiten, stattdessen erinnert er an die Elseworld-Bände bekannter Comicserien, in denen Batman auf Dracula trifft oder gegen die Aliens aus der gleichnamigen Filmserie antritt. Während sich bei „Star Trek“ in einigen Fällen ein Diskurs über die narrativen Bedingungen der Serie selbst entwickelt, verlässt man sich bei „Star Wars“ weiterhin lieber auf dramatische Duelle und spektakuläre Situationen.
In der Comicreihe „Star Wars – Infinities“ werden ausgehend vom Plot der ersten Trilogie jene Handlungsoptionen durchgespielt, die in Videospielen möglich sein müssten, wenn sie über die spielerischen Elemente hinaus tatsächlich als interaktive Fiktionen funktionieren würden und nicht einfach den Spieler mit dem Erreichen des „Game Over“ zurück zum letzten Savepoint befördern würden. In der „Infinities“-Variante von „Eine neue Hoffnung“ (Sonderband 17) scheitert der Angriff auf den Todesstern im letzten Augenblick, Han Solo begleitet Luke nach Dagobah, durchschaut auf Anhieb Yodas Tarnung und leistet dem angehenden Jedi moralische Unterstützung. Leia lässt sich hingegen als erstes Familienmitglied auf Vaders Einladung, gemeinsam das Universum zu erobern, ein. Zu Beginn von „Das Imperium schlägt zurück“ (Sonderband 24) stirbt Luke Skywalker in der Eiswüste von Hoth. Leia übernimmt den frei gewordenen Ausbildungsplatz bei Yoda und überwindet höchstpersönlich am Ende den patriarchalen Erzschurken Darth Vader. Der Hinterhalt auf Bespin wird rechtzeitig durchschaut, daher entfallen sowohl die Preisgabe gewisser Familiengeheimnisse, als auch die Gefangennahme Han Solos.
Wie die beiden Vorgänger entwirft die „Infinities“-Version von „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ einen eigenständigen Plot, der sich streckenweise so weit vom Film entfernt, dass man daraus eine eigene Spin-Off-Serie gestalten könnte. Der Auslöser für die komplizierten Verwicklungen gestaltet sich im Unterschied zu den dramatischen Vorfällen in den beiden anderen „Infinities“-Comics so absurd, dass er von Douglas Adams stammen könnte. Die Verhandlungen zwischen der als Kopfgeldjägerin verkleideten Leia und Jabba the Hutt scheitern, nachdem C3PO durch ein unglückliches Missgeschick außer Gefecht gesetzt wurde und nicht mehr weiter dolmetschen kann.
Der eigentlich von Leia nur zur Verstärkung der eigenen Verhandlungsposition gedachte Thermaldetonator explodiert und bereitet Jabbas Hofstaat bereits auf den ersten Seiten des Comics ein abruptes Ende. Die Befreiung Han Solos scheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat. Boba Fett gelingt es, den tiefgefrorenen Schmuggler ein weiteres Mal zu verschleppen. Die Jagd nach dem Kopfgeldjäger nimmt derart langwierige Ausmaße an, dass Luke es nicht mehr schafft, vor Yodas Tod nach Dagobah zurückzukehren. Stattdessen begibt er sich auf die Suche nach Fett und setzt im Schmugglermilieu seine Jedi-Tricks ein.
Situationen dieser Art erinnern an die Spielfreude, die Timothy Zahn in seinen „Star Wars“-Romanen an den Tag legt, in denen sich vergleichbare ungewöhnliche Konstellationen finden. Auf die den Fans lange Jahre verhassten Ewoks wird bis auf einen kurzen, zwei Panels umfassenden Cameo sogar gänzlich verzichtet. Vielleicht folgt demnächst noch „Infinities - The Phantom Menace“ ohne Gungans, als Fan-Schnittversion wurde eine entsprechende Bearbeitung der „Episode 1“ unter dem Titel „The Phantom Edit“ bereits umgesetzt.
Anstelle der Verhandlungen mit den niedlichen Teddybären-Tribes vom Waldmond Endor wurden die Actionszenen erweitert und das Drama um die Familie Skywalker bekommt eine neue Wendung. Die entscheidende Konfrontation zwischen Luke und dem Imperator bleibt zwar in ihren Grundzügen erhalten, man sollte sich jedoch auf einige Überraschungen einstellen. Die visuelle Umsetzung von „Infinities – Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ fiel überdurchschnittlich aus. Die ausdrucksstarken, düsteren Bilder entwerfen interessante alternative Entwürfe zur filmischen Vorlage. Es wäre durchaus reizvoll, wenn das offene Ende als Anknüpfungspunkt für weitere Geschichten innerhalb des „Infinities“-Universums genutzt würde.
Fazit: Eine eigenständige „what if...“-Variante des aus „Star Wars Episode VI – Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ bekannten Plots, die nicht nur als originelle, visuell einfallsreiche, düstere Comic-Reimagination des Films funktioniert. Der dritte Band der „Infinities“-Reihe entwirft zudem ein ausbaufähiges Szenario, das für weitere Folgen genutzt werden könnte.
Star Wars Sonderband 29: Infinities: Die Rückkehr der Jedi-Ritter
Comic
Benjamin Gallardo, Kirby Norton
Dino 2005
ISBN: 3-8332-1229-2
100 S., Softcover, deutsch
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