Star Trek – Coda 1: Zeit in Scherben

Wer sich ein wenig im Marktsegment der sogenannten Tie-In-Romane auskennt, der weiß, dass alle Geschichten in den Romanen (und Comics, Videospielen, Hörspielen etc.) immer nur der Kerngeschichte in Film und Fernsehen dienen. Das gilt für „Star Wars“ ebenso wie für „Star Trek“, „Doctor Who“, „Aliens“, „Buffy – The Vampire Slayer“, was auch immer. Und diese Geschichten sind auch nur so lange kanonisch, bis ihnen ein neuer Film oder eine neue Serie widerspricht. Danach kann man sie inhaltlich in die Tonne kloppen. Oder man schreibt eine Trilogie wie „Coda“. Was in diesem Fall geschehen ist …

von Bernd Perplies

Ich will an dieser Stelle ein wenig ausholen, allein, um die Tragweite dessen, was hier passiert, verständlich zu machen. Im Dezember 2002 endete mit dem Kinofilm „Star Trek: Nemesis“ die Ära „Star Trek – The Next Generation“ im Bewegtbild – das schloss auch die Geschwisterserien „Deep Space Nine“ und „Voyager“ mit ein. In-Universe schrieb man das Jahr 2379, Will Riker hatte gerade sein eigenes Schiff, die U.S.S. Titan bekommen, Data war gestorben, die Enterprise-E schickte sich an, zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Schon ein Jahr zuvor war die Voyager aus dem Delta-Quadranten heimgekehrt, vier Jahre zuvor hatte sich Benjamin Sisko zu den Propheten in den Himmlischen Tempel (im Wurmloch) gesellt und die Gemeinschaft von Deep Space Nine war zerbrochen. Die Zukunft schien ungewiss …

Doch in diesem Moment übernahmen die Tie-In-Autoren, die zuvor bloß blankes Beiwerk geschrieben hatten, den Staffelstab. Befreit von den Problemen, die ein Schreiben parallel zu TV-Serienproduktionen und Kinofilmen mit sich bringt, nahmen sie das „Star Trek“-Erzähluniversum unter ihre Fittiche und ließen es komplett neu erblühen. Die Voyager kehrte mit neuer Mission in den Delta-Quadranten zurück, Captain Picard und seine Leute mussten sich dem schlimmsten Ansturm der Borg stellen, auf Deep Space Nine wurde die galaktische Soap-Opera auf ein neues Level gehoben. Etwa zwanzig Jahre lang – von Mai 2001 (ja, „DS9“ hatte seinen Roman-Serien-Relaunch schon vor „Nemesis“) bis heute – wurde das LitVerse mit viel Liebe ausgebaut und weiterentwickelt, und es erfüllt mich noch heute mit Stolz, dass ich an der Seite von Christian Humberg mit der „Star Trek: Prometheus“-Trilogie 2016 meinen kleinen Teil dazu beitragen durfte.

Und dann kam die TV-Serie „Star Trek: Picard“. Die Serie sollte tatsächlich an „Star Trek: Nemesis“ anschließen, wenn auch 20 Jahre später angesiedelt, im Jahr 2399. Und das – jeder Fan erkannte das binnen einer Sekunde – war ein Riesenproblem für das LitVerse von „Star Trek“. Denn wenn eines sicher ist in der Branche, dann dass sich Drehbuchautoren von Bewegtbildprojekten einen Dreck um Tie-In-Geschichten scheren, selbst wenn sie eine halbe Ewigkeit mit viel Liebe und Mühe entwickelt worden sind. „Star Trek: Picard“ sollte also de facto alles hinfällig machen, was seit 2001 geschrieben worden war.

Bei „Star Wars“ war genau so etwas auch passiert, als Disney das Franchise von Lucasfilm übernahm und die Sequel-Trilogie ankündigte. Dort machte man es sich einfach: Alle Inhalte, die jemals in Begleitmedien neben den Filmen und TV-Serien entwickelt worden waren, wurden für null und nichtig erklärt, zu „Legenden“ deklariert. Tabula Rasa. Der Aufschrei unter den Fans war entsprechend laut. (Und ganz ehrlich: Disneys neue Version der Ereignisse nach „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ war deutlich mieser als die der Romane und Comics zuvor – aber das ist eine andere Geschichte.) Um diesem unschönen Schicksal bei „Star Trek“ zu entgehen, setzen sich die Autoren Dayton Ward, James Swallow und David Mack zusammen und ersonnen gemeinsam mit den Verantwortlichen bei PocketBooks und CBS die „Coda“-Trilogie, einen offiziellen Abschluss des bisherigen LitVerse, der dafür sorgen sollte, dass alles irgendwie zur neuen Zukunft von „Picard“ passte.

Dabei begann die Gerüchteküche schnell zu brodeln. „Coda“ sollte, so hieß es, das komplette LitVerse zerstören. Die Vergangenheit auslöschen, damit sie konsistent mit „Star Trek: Picard“ sein würde. Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, welche Vorgehensweise mir sympathischer ist: die von Disney, die auf einer Meta-Ebene schlicht alles auslöscht und zur Legende macht, oder die dieser drei Autoren, die zum Abschied einfach alles persönlich kaputtschlagen, nur damit die Romanabenteuer zuvor existiert haben können. Weg sind am Ende beide Expanded Universes, nur kann man im Fall von Disney immerhin sagen: Es ist ja noch alles da – und wenn es mir besser gefällt als das neue Zeug, kann ich die Legenden zu meiner Wirklichkeit deklarieren. Wer dagegen im LitVerse offiziell stirbt … nun, der ist dann auch tot.

Ich weiß nicht, wie die Trilogie letztlich endet. Ich habe mich nicht spoilern lassen. Wenn man „Zeit in Scherben“ allerdings liest, dann wird die Zukunft zumindest düster gezeichnet. Alles beginnt mit Wesley Crusher, der ja noch in der TV-Serie „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“ zum Reisenden wurde, sich also kreuz und quer durch Raum, Zeit und Realitäten bewegen kann. Dieser wird von unheimlichen Wesen gejagt, die es irgendwie auf das Universum als Ganzes abgesehen haben. Anfangs liest sich das alles noch etwas konfus und verwirrend. Es geht um Zeit, ihre Zersplitterung und wie Realitäten in sich zusammenbrechen. Der Gegner, der sich vor allem in Form von Weltraum-Riesenschlangen und Kapuzenmännern zeigt (unwillkürlich fühlt man sich an den Cthulhu-Mythos erinnert), scheint jedenfalls kaum besiegbar zu sein und löscht im Akkord Nebenfiguren des LitVerse aus, zunächst unbedeutende, dann zunehmend auch solche, die uns schon seit fast zwanzig Jahren begleiten. Dabei wirkt ihr Tod fast zu beiläufig erzählt, um sich beim Leser voll zu entfalten. Es verlieren einfach zu viele zu schnell ihr Leben, als dass man Zeit hätte, um sie zu trauern. Vielleicht muss man auch alle Romane der letzten Jahre gelesen haben, um so richtig Mitgefühl empfinden zu können. Ich war in manchen Fällen fast dankbar für ihr Verschwinden, weil die Personalriege des Romans doch ziemlich groß ist und manche der Figuren für mich nur Namen ohne großen Hintergrund waren. (Zugegeben kenne ich zwar einige „Star Trek“-Romane, nicht zuletzt als ihr Übersetzer, aber bei Weitem nicht alles, was herausgekommen ist.)

Im Laufe des Romans klärt sich dann zunehmend, dass man es offenbar mit einer Spezies zu tun hat, die sich von Lebensenergie ernährt – und die nun anscheinend nach Belieben Realitäten erzeugt und auslöscht, um sich dann von den unendlich vielen Toten dieser zu ernähren. Das ist gelinde gesagt ziemlich abenteuerlich, wenn man bedenkt, wie groß so ein ganzes Universum ist. Und so entwickelt sich auch das Problem, dem Captain Picard, Wesley und die Crew der Enterprise gegenüberstehen, in Dimensionen, die den Verstand sprengen wollen. Nicht nur eine Welt, eine Galaxis, ein Universum stehen auf dem Spiel, sondern alle denkbaren Realitäten, die existieren. Kurioserweise konnten ihre Gegner – die einer TV-Serienepisode entspringen und damals noch unendlich viel schwächer wirkten – offenbar völlig problemlos zu solcher Macht anwachsen, ohne dass es irgendjemand in der Vergangenheit bemerkt hätte. Hat zum Beispiel das Q-Kontinuum, das doch auch aus allmächtigen Wesen besteht, nichts dazu zu sagen? Nun ja. Wie sich das Ganze entwickelt, weiß man ja noch nicht. Dayton Ward hat vor allem die Exposition und ein erstes Herantasten an den Feind zu Papier gebracht.

An dieser Stelle ein kleiner Spoiler, um einen Gedanken zu verfolgen (wer das nicht will, bitte zum Fazit springen):

Interessanterweise schwebt über dem ganzen Roman auch eine gewisse Meta-Ebene mit. Die gesichtslosen Feinde, die schier nach Belieben Romanfiguren töten und Realitäten zusammenbrechen lassen können, erinnern ein wenig an  (Drehbuch)Autoren, die eben diese Macht über das LitVerse haben. In „Star Trek: Picard“ haben sie mit einem Fingerschnippen Charaktere wie Dina Elfiki, Rennan Konya oder Aneta Šmrhová verschwinden lassen. Interessant – und vielleicht ein Silberstreif der Hoffnung für Fans – ist auch, dass die LitVerse-Realität erstmals als „Ast“ am Baum aller Existenz bezeichnet wird. Das LitVerse ist nicht Teil des Stamms, nicht die „Urrealität“. (Das ist die Bewegtbild-Realität, von der das LitVerse nach „Star Trek: Nemesis“ sozusagen als Abzweigung entstanden ist.) Da sich der Feind von den fragilsten Verästelungs-Realitäten langsam Richtung Stamm vorfrisst, stellt sich Picard und den anderen die Frage: Können wir diese Realität retten? Oder müssen wir sie opfern, um den Stamm zu bewahren?

Genau um diese Frage dürfte es in Band 2 und Band 3 der „Coda“-Trilogie gehen. Und gerade weil die Frage hier noch eine offene ist, besteht für mich, der ich mich bislang nicht habe spoilern lassen, noch die geringe Hoffnung, dass zumindest ein Teil des LitVerses am Ende weiterbestehen darf. Wenn auch ein sehr trauriger, denn die Verluste waren schon jetzt hoch.

Fazit: „Zeit in Scherben“ ist der Anfang vom Ende der vergangenen 20 Jahre „Star Trek“-LitVerse. So zumindest sieht es aus. Eine Bedrohung, die von ihrer Größenordnung her beinahe den Verstand sprengt – sowohl der Figuren als auch aller Leser – stellt Captain Picard und seine Crew vor eine schier unlösbare Aufgabe. Dayton Ward bietet hier vor allem Exposition und erste Schlagabtausche. Dazwischen gibt es viel TechBabble über Zeiten, Phasen und Dimensionen. Leicht zu verstehen ist der Roman nicht. Und die ein oder andere bittere Pille lässt er langjährige Fans auch schlucken. Dennoch: Man muss „Coda“ eigentlich gelesen haben, wenn man sich in den letzten zwei Jahrzehnten irgendwie ins LitVerse verliebt hat. Kurz gesagt: Für Gelegenheits-Leser ist der Roman nichts; zu komplex ist er mit allem verwoben, was vor ihm kam. Für LitVerse-Fans dagegen ist das Buch – thematisch bedingt – vielleicht nicht unbedingt eine Freude, aber doch fast ein Muss.

Star Trek – Coda 1: Zeit in Scherben
Film/Serien-Roman
Dayton Ward
Cross Cult 2022
ISBN: 978-3-96658-941-3
430 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 15,00

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