Shadowrun: Der vitruvianische Moment

Das amerikanische Cyberpunk-Rollenspiel „Shadowrun“ ist in Deutschland so lebendig wie in keinem anderen Land außerhalb der USA. Das unglaublich ausgefeilte Zukunftssetting der Allianz Deutscher Länder wird durch immer neue Quellenbücher und Abenteuerbände erweitert. Auch deutsche SR-Romane sind – nach einer Pause – wieder stark (fast schon stärker als die US-Reihe). Martina Nöth beschwört den „vitruvianischen Moment“ herauf.

von Frank Stein

Der Held des Romans ist Riggs, ein einzelgängerischer Pistolero (oder genauer: Waffen-Adept), der die einfachen Dinge des Lebens liebt: Action-Filme des letzten Jahrtausends (aus denen er gern zitiert), Aldi-Burger und Jobs ohne komplizierte Verstrickungen. Als er mit einer geheimnisvollen Frau Schmidt (die kalt und schön wie eine Eiskönigin ist) in Kontakt kommt, gerät sein Leben aus den Fugen. Er wird für eine Reihe Runs engagiert, die alles andere als rund laufen. Irgendetwas geschieht da im Hintergrund, und Riggs braucht eine ganze Weile, um zu verstehen, welche Rolle er in dem ganzen Spiel spielt.

Die paar Zeilen sind kaum mehr als der Klappentext, den das Buch auch preisgibt. Viel mehr kann und sollte man über das Buch aber auch im Vorfeld nicht verraten. Man kann nicht mehr verraten, weil das Buch auf den ersten 118 Seiten zunächst mal zwei seltsam isoliert voneinander stehende Runs präsentiert – die sich natürlich später als Teil von etwas Größerem erweisen, aber zu Beginn vor allem gradlinige Runnerkost bieten. Und man sollte nicht mehr verraten, weil das Buch ab dem Punkt eine Wendung nimmt, die ihm eine ungewöhnliche Note verleiht. Also, genau genommen folgt schon der nächste Run, der aber gute 100 weitere Seiten später in einer wirklich unerwarteten Enthüllung kulminiert. Und plötzlich befindet man sich in der einer Abenteuerhandlung, die auch einem Indiana Jones zur Ehre gereicht hätte (womit wir wieder bei den Filmen der 80er wären).

Apropos „Abenteuer“. Der Aufbau des Romans mit seinen inhaltlich verknüpften Run-Episoden erinnert ein wenig an einen Kampagnenband, der so durchaus für „Shadowrun“ hätte erscheinen können. Auch das Team um Riggs – neben einigem wechselndem Personal vor allem der Zwergenkämpfer Attila, die wandlungsfähige Hel und die (niemals als Person in Erscheinung tretende) Hackerin White – könnte so eine „Shadowrun“-Spielgruppe gewesen sein, insbesondere wenn man ihre sarkastischen Wortwechsel und die kleineren Reibereien berücksichtigt, die so typisch für eingespielte Rollenspielrunden sind. Aber abgesehen davon, dass daran nichts Verwerfliches ist (auch Abenteuerkampagnen wollen ersonnen werden), kann das alles natürlich auch schlicht Martina Nöths Talent sein, ihre Figuren so lebensnah zu gestalten, dass man als Leser unwillkürlich an die eigene letzte Spielrunde zurückdenken muss.

Vom Setting her bewegt sich der Roman auf eher untypischem Gelände. Wer „Shadowrun“ instinktiv mit pulsierenden Großstädten, schmutzigen Gassen und glänzenden Konzernetagen, verbindet, wird hier überrascht. Obwohl wir sowohl Stuttgart als auch Heidelberg besuchen (oder vielleicht deswegen?), wirken die Schauplätze der Story größtenteils sehr provinziell, später sogar ausgesprochen hinterwäldlerisch beziehungsweise naturbelassen. Daran muss man sich als Leser einen Moment lang gewöhnen, aber de facto ist auch das alles das Deutschland der Zukunft, nicht bloß die Sprawls von Berlin oder Rhein-Ruhr. Und Blicke in andere Ecken der ADL sind dem Fan ja immer willkommen.

Eine kleine Sache ließe sich kritisieren und zwar dass in den zwei Epilogen noch zwei neue Fässer aufgemacht werden, nachdem die ganze Geschichte gewissermaßen schon vorbei ist. Es ist davon auszugehen, dass damit auf eine Fortsetzung hingearbeitet wird, doch ganz sicher kann sich der Leser da nicht sein – und gäbe es keine Fortsetzung, wäre zumindest eins der beiden Enden ziemlich unbefriedigend.

Fazit: Nach einem etwas episodisch wirkenden Einstieg bekommt „Der Vitruvianische Moment“ einen interessanten Dreh, mehr Abenteuer- als Cyberpunk-Handlung. Lebendig miteinander interagierende Charaktere und selten (bis gar nicht) besuchte Schauplätze im Süddeutschland des Jahres 2078 lassen den Roman zu einer schönen Abwechslung zu den typischen „Großstadtabenteuern“ werden. Die Epiloge fühlen sich etwas angesetzt an und wären nicht nötig gewesen, schmälern den positiven Gesamteindruck aber kaum. Für „Shadowrun“-Fans, die mal nicht zwischen Neonreklamen und Hochhausfassaden unterwegs sein wollen.

P.S.: Ein Rätsel bleibt mir aber bis zuletzt. An welchem Punkt im Roman genau erleben wir jetzt den titelgebenden „vitruvianischen Moment“?

Shadowrun: Der vitruvianische Moment
Rollenspiel-Roman
Martina Nöth
Pegasus Press 2018
ISBN: 978-3-95789-216-4
324 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 12,95

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