Shadowmarch 1: Die Grenze

Mit der „Schwerter“-Tetralogie begründete der Autor Tad Williams seinen Ruf als Schöpfer epischer Fantasywelten. Mit der „Otherland“-Tetralogie entwarf er eine düstere Zukunft, in welcher der Fantasie in virtuellen Weiten wahrlich keine Grenzen mehr gesetzt sind. Mit der „Shadowmarch“-Trilogie kehrt er nun zurück in die Welt der Elben und Zwerge, der höfischen Intrige und der uralten Geheimnisse.

von Frank Stein

 

 

Ohne blasphemisch klingen zu wollen: Ein Buch von Tad Williams ist ein bisschen wie ein Gottesdienst für einen Atheisten. So um die Mitte rum muss man echt mit sich kämpfen, um nicht aufzustehen und die ganze Angelegenheit einfach abzubrechen. Das liegt keineswegs daran, dass die Litanei nicht wohl formuliert wäre – ich kenne im Gegenteil nicht viele Autoren, die so wortreich und begnadet im Umgang mit blumigen Metaphern und anderen literarischen Stilmitteln sind wie Williams. Doch er legt immer wieder eine Langsamkeit im Spannungsaufbau an den Tag, der 800 Seiten Text eine ganz neue Größenordnung verleihen. In zahlreichen Parallelhandlungen wird, nur lose und manchmal überhaupt nicht miteinander verknüpft, auf ein Ziel hingearbeitet, das sich mitunter gar nicht im selben Roman befindet, sondern erst am Ende der Reihe offenbart. Doch wer den Weg des Gläubigen bis zu Ende geht, der wird nicht nur mit einem Eintauchen in eine unglaublich atmosphärisch beschworene und bei aller Fantastik höchst ernsthaft und realistisch anmutende Welt belohnt, sondern auch mit dem letztendlichen Gefühl, an einem besonderen Ereignis teilgehabt zu haben.

Ungefähr so habe ich „Shadowmarch 1: Die Grenze“ erlebt. Tad Williams entführt uns hier auf den Kontinent Eion in eine Welt, die an das europäische Mittelalter erinnerte, gäbe es da nicht überall die Zeichen und Wunder, die auf das Wirken älterer Kräfte hindeuten würden. Die Geschichte wird im Wesentlichen von zwei Handlungssträngen getragen, einige weitere sind darin – natürlich – eingeflochten.

Zum einen wäre da das Schicksal von Barrick und Briony Eddon. Die Geschwister leben hoch im Norden in der Südmarkfeste, dem letzten Bollwerk der Menschen vor der so genannten Schattengrenze, einer Nebelbank, der einst von den Elben, den Zwielichtlern, beschworen worden war, um den südlichen Teil Eions vom nördlichen zu trennen, in den die einstigen Ureinwohner des Kontinents von den sich ausbreitenden Menschen vertrieben worden waren. (Was die kuriose Folge hatte, dass die Südmark, einst nur Teil eines nördlichen Königreiches von Eion, ungeachtet seines Namens nun den nördlichsten Punkt des menschlichen Wirkungsraumes darstellt.) Ihr Vater, König Olin, wird im südlichen Hierosol als Kriegsgefangener gehalten, ihr Bruder Kendrick sitzt unterdessen als Prinz von Südmark auf dem Thron. Dann jedoch wird er von unbekannter Hand ermordet und auf einmal sehen sich die beiden jugendlichen Adligen in eine Welt der Intrigen, Pakte und politischen Winkelzüge geworfen. Während Barrick langsam aber stetig dem Wahnsinn verfällt, kämpft Briony darum, als Frau an der Macht ihren Mann stehen zu können, auch wenn um sie herum niemand mehr zu sein scheint, dem sie wirklich vertrauen darf.

Derartig herrschaftliche Probleme kennt der Funderling (eine Variation des klassischen Fantasy-Zwergen) Chert Blauquarz nicht. Doch auch sein Leben stellt sich zunehmend auf den Kopf. Nachdem er und seine Frau Opalia am Rande der Schattengrenze ein Großwüchsigenkind gefunden haben, das sie Flint nennen und mit nach Hause nehmen, geschehen etliche seltsame Dinge. So scheint der eigenartige Junge Stimmen in der Tiefe der Erde zu hören, er trägt einen geheimnisvollen Beutel bei sich und vom Wesen her ist er gleichzeitig scheu und in sich gekehrt und doch von einer unnatürlichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Zielgerichtetheit getrieben. Durch Flint lernt Chert nicht nur das sagenhafte Volk der winzigen Dachlinge kennen, als der Junge in dem unterirdischen Stollenlabyrinth unterhalb der Funderlingstadt verschwindet, beginnt für Chert zudem eine unglaubliche Odyssee.

Nebenrollen in dem an Figuren weiß Gott nicht armen Drama spielen unter anderem der Gardehauptmann der Südmarkfeste Ferras Vansen, der den Mord an Prinz Kendrick nicht zu verhindern wusste und nun alles dafür tun würde, um seine Schuld vor allem an Prinzessin Briony, zu der er eine ganz unstandesgemäße Liebe empfindet, abzutragen. Zwischendurch tritt ein tragikomisches Duo, der verkappte Poet Matty Kettelsmit und der gealterte Hofnarr Puzzle, auf, denen das Hofleben im Angesicht von Mord und drohendem Todschlag irgendwie über den Kopf wächst. Völlig von all diesen Geschehnissen losgelöst lebt das Mädchen Qinnitan, das im Reich Xis auf dem südlichen Kontinent Xand zunächst Novizin im Bienentempel ist und dann vom Autarchen, dem mächtigsten Mann der Welt, zu einer seiner Nebenfrauen gemacht wird – trotz aller Verehrung gegen ihren Willen. Wie es ihr in der gleichfalls intrigenreichen Welt des Harems inmitten von 1001 Nacht ergeht, liest sich wie ein exotischer Spiegel der düsteren Ereignissen im nasskalten Südmark, doch es hat den ganzen Roman hindurch absolut nichts mit der Haupthandlung zu tun.

Einmal mehr entwirft Tad Williams eine Welt, wie sie ganzheitlicher nicht sein könnte. Es genügt ihm nicht, eine Heldengruppe zu schaffen, die dann durch fantasievolle Lande zieht und dabei einem relativ gradlinigen Plot folgt (so kennt man es aus einer Menge Fantasy-Romane). Nein, er beschwört gleich einen ganzen Kontinent herauf, gibt ihm eine Geschichte und ein äußerst komplexes politisches Gefüge, in dem sich alle Beteiligten bewegen. Angedeutet werden dabei nur die mythischen Kräfte, die unter der Fassade, welche die Menschen mit ihrer Zivilisation errichtet haben, darauf lauern, erneut hervorzubrechen und das Land mit archaischem, magischem Chaos zu überziehen. Dieser ganzheitliche Weltenansatz, den Williams mit enormem Ernst verfolgt (augenzwinkernde oder gar offen humorvolle comic-relief-Situationen finden sich in dem insgesamt sehr unheilschwangeren Werk praktisch nicht), lässt das Gefühl des Eintauchens umso intensiver werden, allerdings zu Lasten einer treibenden Handlung oder einer Identifikationsfigur. Beides findet man in dem Vielerlei der parallel gesetzten Szenen und der enormen Protagonistenriege nicht leicht. Die Geschichte entwickelt sich vielmehr wie ein Fass voll Wasser, in das Tropfen für Tropfen fällt, bis es schließlich im großen Finale überläuft. Und die Figuren sind allesamt irgendwie von einer Aura der Hilflosigkeit umgeben, dass man eher ständiges Mitleid mit ihnen empfindet, als sich in ihre Haut zu wünschen. Selbst die tapfere Briony, die in unablässigen zornigen Aufbegehren zusammenzuhalten versucht, was auseinanderzubrechen droht, muss letztendlich scheitern. Aber das ist man von Williams gewohnt. Seine Helden haben es nicht leicht – bis zum Ende der Geschichte.

Die Aufmachung des Buches ist dem Klett-Cotta-Verlag wunderschön gelungen. Der stabile Hardcoverband mit dem edlen Covermotiv weist im Inneren vier Karten auf (von Eion, der Südmarksburg, des gesamten Festungsanlage sowie den Markenlanden) und am Ende des Buches findet sich ein Personen- und Ortsregister. Eine Lesebändchen rundet den guten Eindruck ab.

Fazit: Mit „Shadowmarch“ legt Autor Tad Williams einmal mehr ein Stück Ausnahme-Fantasy-Literatur hin, das vom stilistischen und dramaturgischen Anspruch weit über einen Großteil dessen hinausgeht, was uns an Elfen-, Zauberer- und Zwergengeschichten in den Belletristik-Abteilungen von Buchhandlungen aus dem Regal entgegenlacht. „Das Fantasy-Gegenstück zu „Krieg und Frieden“ “, urteilte das renommierte Genre-Magazin „Locus“. Ich kenne „Krieg und Frieden“ nur vom Hörensagen – aber vom Gefühl her, würde ich sofort zustimmen.

Shadowmarch 1: Die Grenze Fantasy-Roman Tad Williams Klett-Cotta 2005 ISBN: 3-608-93717-X 812 S., Hardcover, deutsch Preis: EUR 26,50 bei amazon.de bestellen

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www.tadwilliams.com