Sandman: Ewige Nächte

Die zwischen 1988 und 1996 bei DC/Vertigo veröffentlichte Serie „Sandman“ trug neben den Graphic Novels von Frank Miller und Alan Moore maßgeblich dazu bei, dass Comics verstärkt als Literatur jenseits gängiger Genre-Konventionen wahrgenommen wurden. 2003 widmete sich Gaiman, unterstützt von prominenten Gastzeichnern wie Dave McKean („Arkham Asylum“) und Bill Sienkiewicz („Elektra – Assassin“), erneut dem Herrscher der Träume und seinen Geschwistern. Als unsterbliche Ewige personifizieren sie grundlegende Erfahrungen der menschlichen Existenz: Tod, Begierde, Verzweiflung, Delirium, Schicksal und Zerstörung. Der Sammelband „Ewige Nächte“ widmet jedem von ihnen eine eigene Geschichte.

von Andreas Rauscher

 

Vergleichbar den „Watchmen“ von Alan Moore oder „Batman – The Dark Knight Returns“ von Frank Miller sorgten die in ihrer Gesamtheit über zweitausend Seiten umfassenden „Sandman“-Comics von Neil Gaiman für einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Comiclandschaft. Etablierte Traditionsverlage wie DC und Marvel zeigten sich nach dem Erfolg der auf ein älteres Publikum ausgerichteten, düster und differenziert gestalteten Graphic Novels bereit, Comics zu publizieren, die nicht mehr den über Jahre gepflegten Konventionen der Superhelden-Geschichten entsprachen. Auch wenn der als Herrscher der Träume eine phantastische Parallelwelt regierende Sandman und seine Geschwister sich im gleichen Universum wie ihre Label-Kollegen Batman und Co bewegen, liegen dennoch Welten zwischen der klassischen Gerechtigkeitsliga und den unsterblichen Schicksalsmächten, die sich als angenehm unprätentiös erweisen.

Eine der wesentlichen Stärken des „Sandman“-Konzepts besteht darin, dass Gaiman keine umfassende Erklärung für die übernatürlichen Ereignisse anbietet. Er beschränkt sich auf flüchtige Einblicke in die Welt der Ewigen und hält sich gar nicht erst mit schicksalsgläubigen Gothic-Klischees auf. Stattdessen geraten die Ewigen immer wieder in die Widrigkeiten sowohl des menschlichen, als auch des übernatürlichen Alltags. Der Sandman muss einer jungen Studentin beantworten, welchen Einfluss die freudianische Traumdeutung auf seine Welt hätte, und seine ältere Schwester Death besucht Indie-Rock-Konzerte in New Yorker Keller-Clubs, die sie einige Zeit später zu Sonderkonditionen jenseits des altbekannten Schachspiels aus dem Ingmar Bergman-Klassiker „Das siebte Siegel“ veranlassen. Durch den ständigen Wechsel der Erzählperspektive und der Realitätsebenen vermeidet Gaiman geschickt jegliches Abgleiten in New-Age-Esoterik.

Die klassischen Mythen und religiösen Konzepte, mit denen die Welt gedeutet wurde, funktionieren nicht mehr, aber die von den Ewigen verkörperten grundlegenden Erfahrungen der menschlichen Existenz sind geblieben. Trotz ihrer gewaltigen Kräfte wissen die ungleichen Geschwister Destiny, Death, Dream, Desire, Despair und Delirium (ehemals Delight) in vielen Situationen auch nicht wirklich weiter. Zu den handelsüblichen Fantasy-Göttern verhalten sie sich wie die von Selbstzweifeln geplagten Marvel-Charaktere gegenüber den ungebrochen heroischen Recken der frühen Superhelden-Comics. Das Phantastische wird zwar dem Genre gemäß eingelöst, aber ohne aufgesetzte Naivität und mit einem pointierten Sarkasmus versehen. Der Abstieg in die Hölle kann wie in der Graphic Novel „Seasons of Mist“ schon einmal damit enden, dass der Sandman unfreiwillig zum Nachlassverwalter des seines Berufes überdrüssigen Lucifer ernannt wird und zwischen diversen Dämonen und denkbar konträren Götterfraktionen den Nachfolger für die Herrschaft über die ewige Verdammnis auswählen muss. Szenarien dieser Art würden eine ideale Vorlage für Regisseure wie Terry Gilliam oder Tim Burton abgeben.

Mühelos spielt Gaiman mit postmodernen Querverweisen auf literarische Einflüsse wie die Gedichtzyklen Miltons und die Standards der Superhelden-Comics, sowie auf Vorbilder aus der Film- und Popgeschichte. Entsprechend vielseitig gestalten sich auch die Ansätze in den „Ewigen Nächten“: von verschachtelten Parallelhandlungen auf verschiedenen Zeitebenen (Death), über spielerische Anekdoten (Dream, Desire, Destruction) und lyrische Skizzen (Destiny) bis hin zu einer mit kurzen literarischen Fragmenten verbundenen Porträtserie über die Gesichter der Verzweiflung (Despair). Diese löst ebenso wie die psychedelischen Impressionen und das experimentierfreudige Text-Lay-Out in der Geschichte um Delirium die Strukturen traditioneller Comics auf künstlerisch einfallsreiche Weise auf.

Die erste Geschichte „Tod in Venedig“ bezieht sich im Titel auf eine bekannte Erzählung von Thomas Mann und einen nicht weniger bekannten Film von Luchino Visconti. Doch im Zentrum der Erzählung steht nicht eine weitere postmoderne Variation bekannter Literatur- und Filmklassiker, sondern die Rückkehr eines Söldners in die Lagunenstadt. Als Kind begegnete er auf einer der venezianischen Inseln Sandmans älterer Schwester Death, die seit mehreren Jahrhunderten darauf wartet, einen Fürsten zu überführen, der ganz in der Tradition von Edgar Allen Poes „The Mask of the Red Death“ seinem Schicksal entfliehen wollte. Zeichner P. Craig Russell („Batman“, „Dr. Strange“) arbeitet in seiner visuellen Umsetzung der Geschichte geschickt mit Farben und Zeichenstilen, um die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen, die sich für einen kurzen Augenblick überschneiden, zu verdeutlichen. Das verregnete graue Venedig der Gegenwart erinnert an Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (GB 1972). Die Parallelwelt des dekadenten Fürsten und die nostalgischen Kindheitserinnerungen des Söldners gestalten sich hingegen als farbgesättigte Parallelwelten.

Milo Manaras Umsetzung der folgenschweren Begegnung einer Bäuerin mit dem/der androgynen Desire in turbulenten Zeiten und die von Miguelanxo Prado gezeichnete (wieder einmal) unglücklich verlaufende Romanze zwischen Dream und einer Sterblichen treffen auf ebenso klassische wie eindrucksvolle Weise den märchenhaften Ton der beiden Episoden.

Die an die Gemälde Francis Bacons erinnernden Skizzen zu Despair und die multiperspektivisch aus der Sicht einer Gruppe Schizophrener erzählte Begegnung mit Delirium stehen hingegen ganz im Zeichen der Krisenerfahrungen der Moderne. Sie bilden einen pointierten Gegenakzent zu den anderen, stärker an einem abgeklärten Fantasy-Begriff á la Terry Pratchett als an den Abgründen der menschlichen Psyche orientierten Teilen des „Sandman“-Universums.

Die kuriose Begegnung zwischen Destruction und einer amerikanischen Forscherin während einer temporalen Anomalie auf einer Mittelmeerinsel und einige Impressionen zu Destinys an den Garten der sich verzweigenden Pfade aus der gleichnamigen Borges-Erzählung angelehntes Labyrinth beschließen einen vielschichtigen und ambitionierten Sammelband. Die „Ewigen Nächte“ funktionieren sowohl als Erweiterung zu den bekannten „Sandman“-Zyklen, wie auch als kompakter Einstieg in Gaimans anspielungsreiches Comic-Universum.

Fazit: Eine formal und inhaltlich abwechslungsreiche, hervorragend umgesetzte Kompilation mit Kurzgeschichten aus der Welt von Neil Gaimans „Sandman“-Serie. Stilistisch finden sich in den sieben Erzählungen die unterschiedlichsten Techniken, von kontrastreichem Farbeinsatz über Aquarellzeichnungen bis hin zu expressiven Skizzen und der vollständigen Auflösung der Bilder in abstrakte Kompositionen.

Mit den „Ewigen Nächten“ gelang dem ambitionierten Comicautoren Gaiman eine reizvolle Alternative zu den häufig eindimensionalen Gottwesen des Fantasy-Genres. Ihre Ausflüge in die Welt der Sterblichen ermöglichen einen neuen Blick auf die aus den umfangreichen Graphic Novels bereits bekannten Charaktere. Andererseits finden auch der Alltag der Unsterblichen und die damit verbundenen Ängste und Sorgen Eingang in die Erzählungen. Das Wechselspiel zwischen Genrevariationen und experimentellen Formen, zwischen der Weiterführung und Aktualisierung traditioneller Comicstile und deren reflexiver Durchbrechung macht den Reiz der „Ewigen Nächte“ aus. In vielfältiger Form verdeutlichen sie, dass Gaimans „Sandman“ nach wie vor zu den innovativsten und interessantesten Konzepten der neueren Comicgeschichte zählt.


Sandman: Ewige Nächte
Comic
Neil Gaiman, Glenn Fabry, Milo Manara, Frank Quitely
Panini Comics 2006
ISBN: 3866072708
164 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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