von LarsB
„Ritual“ ist ein Teamspiel. Es ist eines dieser Teamspiele, in denen die Kommunikation eingeschränkt wird. Es ist eines dieser Spiele, in denen ein Timer tickt. Ein stimmungsvoller zwar, aber ein unerbittlicher. Es ist aber keines dieser Spiele, in denen man sich nach der ersten Partie fragt, wo denn jetzt die Herausforderung war. Meine Wette: Dieses Spiel zerstört die meisten Spielerunden in Partie 1. Doch wer hier am Ball bleibt, wer sich nicht umhauen lässt, wird mit einer unglaublich befriedigenden Gruppenerfahrung belohnt.
Das Spielmaterial
In der Hauptsache findet man Spielkarten vernünftiger Qualität und einen großen Haufen bunter Edelsteine a.k.a. Acryl-Elementarsteine in der Spieleschachtel. Die Farben der Steine sind so gewählt, dass sie von den meisten Farbenblinden unterschieden werden können. Doch selbst Spieler, die unter der sehr seltenen Tritanopie (Blaublindheit) leiden, werden hier Spaß finden können, weil Strohmann Games extra eine Übersichtskarte mit Instruktionen für Blaublinde beigefügt hat.
Die bedruckten Holzteile sind ein echtes Plus gegenüber sonst üblichen Pappmarkern. Das Säckchen, aus dem gelegentlich Elementarsteine gezogen werden könnten, ist zwar schön bedruckt, aber für größere Hände nicht tauglich und dient tatsächlich nur zur Aufbewahrung. Sehr gut ist auch die Spielerhilfe in Kartenform, die jeden Spieler mit Text und Ikonografie über die möglichen Aktionen aufklärt. Die Rückseiten der Ritualkarten sowie der Ritualtableaus sind sehr kunst- und stimmungsvoll gestaltet. Zumindest großen Spieleästheten wird das aber zu wenig sein, bieten doch zum Beispiel die Kartenvorderseiten zwar funktionale, aber eben zeichnerisch nüchterne Edelstein-Standardkost.
Der App-Timer (hier die Version 2, 22.06.2025 im Playstore) funktionierte leider nicht so stabil wie erwartet. Solange der Timer lief, lief die App stabil. Gerade in den ersten Runden mit einer neuen Gruppe haben wir die Timer-App auch mal pausiert, um Fragen zu klären. Hier stürzte der Timer sehr häufig ab, auch auf unterschiedlichen Handys, sodass ich schon nervös geworden bin, wenn der Timer mal mehr als nur ein paar Sekunden auf Pause gestellt wurde. Im „Normalbetrieb“ war der Timer aber durchaus eine schöne Alternative zu einem normalen Handytimer durch das automatische Anpassen der zur Verfügung stehenden Zeit je nach Spieleranzahl und Schwierigkeitsstufe. Außerdem wird das Spiel mit der App stimmungsvoll musikalisch untermalt. Ich hätte mir hier aber noch etwas mehr Dramatik mit fortschreitender Zeit gewünscht, um klanglich zu erkennen, wann etwa die letzte Minute anbricht. Auch das Ende der zur Verfügung stehenden Zeit könnte deutlicher ausfallen. In lauter Umgebung fällt manchmal nicht auf, dass die Zeit schon abgelaufen ist. Da fehlt ein lauter Tusch, ein Schrei oder eine spirituelle Superexplosion.
Der Spielablauf
Die Spieler entscheiden sich gemeinsam für eines der Rituale aus dem „Alten Buch der Rituale“. Dort werden in aufsteigender Schwierigkeit Basis-Rituale, Fortgeschrittenen-Rituale und Experten-Rituale unterschieden. Jedes Ritual wird thematisch aber am Ende belanglos eingeführt. Mit der Wahl des Rituals wird klar, welches Ritualtableau und welche Ritualkarten aufgetischt werden. Im oben genannten Buch werden die Ritualschritte, die für ein Ritual notwendig sind, genau erklärt. Auf dem Ritualtableau sind diese Rituale dann ikonografisch abgebildet. Jeder Spieler zieht eine geheime Inspirationskarte und vier zufällige Steine (nicht aus dem Sack, denn der ist zu klein). Dann wird der Timer gestartet (und besser nicht mehr pausiert).
Der Spieler mit dem Totemstein führt eine der sechs möglichen Aktionen aus: „Gib einem Mitspieler einen Stein“ (wenn man selbst mindestens drei Steine hat), „nimm einen Stein vom linken Nachbarn“ (vorausgesetzt er hat mindestens drei Steine), „lege einen Stein auf“ oder „nimm einen Stein von deiner mystischen Ebene“ (jeder hat so eine Mystische-Ebene-Karte vor sich liegen), „tausche den Stein auf der mystischen Ebene eines Mitspielers gegen einen Stein aus dem Vorrat“ und “finde deine Inspiration“ (durch das Erfüllen der geheimen Inspirationskartenaufgabe). Dann wird der Totemmarker weitergereicht und der nächste Spieler ist dran mit dem bunten Inspirationsstein-Roulette. Alles findet statt, ohne das miteinander gesprochen wird. Wir suchen schließlich alle unsere erleuchtende Inspiration.
Das Ziel in der ersten Spielphase ist also das Finden der Inspiration. Dazu muss man Zusammenstellungen von Steinen unterschiedlicher Farbe (und manchmal auch nur gleicher Farbe) haben. Ich finde meine Inspiration zum Beispiel, wenn ich fünf blaue Steine vor mir liegen habe oder zwei rote, zwei gelbe und zwei grüne. Haben drei Spieler ihre Inspiration gefunden, widmen sich alle Spieler dem Ritual. Dabei kennt aber immer nur ein (früh erleuchteter) Spieler den aktuell pressierenden Ritualschritt. Je nach Ritual und Schritt sind dann Aufgaben zu finden wie „alle Schamanen müssen genau einen grünen Stein haben“, „es darf nur genau ein roter Stein im Spiel sein“ oder „ein Schamane muss genau einen Stein jeder Farbe haben“. Mit steigendem Schwierigkeitsgrad werden die Aufgaben immer anspruchsvoller. Es kommen zum Beispiel Formationen hinzu, in denen Steine auf ganz bestimmte Weise unter benachbarten Spielern verteilt sein müssen.
Grundsätzlich wird ein Ritual über drei Runden abgehalten. In Runde 1 muss nur ein Ritualkarte erfüllt werden, in Runde 2 sind es schon zwei und in Runde 3 die übrigen drei der insgesamt sechs Ritualschritte. Pro Runde haben die Spieler – je nach gewähltem Schwierigkeitsgrad – eine vorher festgelegte Zeit zur Verfügung. Wird die Zeit überschritten, bevor alle Ritualschritte der aktuellen Spielerunde abgeschlossen worden sind, ist das Spiel verloren. Genau hinhören nicht vergessen.
Das Spielgefühl
Was sollen wir jetzt tun? Und wieso versteht mein Mitspieler nicht, dass er die verdammten grünen Pflanzenelementarsteine bei mir lassen soll. Ich brauche davon FÜNF! Wie mache ich meinen Mitspielern nun klar, was ich brauche. Und, ja, ich weiß, meine Mitspieler brauchen ja auch Elementarsteine. Nur: Wie teilen sie mir mit, was sie brauchen? Hier redet ja keiner! Ach, Mist, ich darf ja nur Steine vom LINKEN Nachbarn nehmen. Moment mal, der muss mindestens DREI Steine haben, damit ich mir was nehmen darf? Okay, Leute. Die erste Runde machen wir hier mal ohne Timer.
Selten habe ich ein Spiel gesehen, das die Gruppe in Runde eins (mit lauter „Ritual“-Neulingen) so alt hat aussehen lassen. Wir hatten nicht den Hauch einer Chance, das Ritual in der Zeit für Lehrlinge vollständig abzuhandeln. Sehr amüsant erschien uns das der Abschnitt im Regelheft „Nach dem ersten Spiel“. Darin steht: „Habt Ihr Ritual erfolgreich beendet? Es ist nicht ungewöhnlich, wenn es beim ersten Mal nicht geklappt hat.“ LOL! Im folgenden Text werden sachdienliche Hinweise gegeben, wie man sich verbessern kann. So haben vollkommen konsternierte Gruppen zumindest einen Ansatz.
Und genau das ist der Knackpunkt für die Spielerunde. Jetzt sind Durchhaltevermögen und Resilienz gefragt. Und Vergebung. Hier schlagen die Emotionen schon einmal sehr hoch. „Wieso hast Du Karl nicht den roten Stein gegeben?! Das war doch klar, dass er den brauchte! Und dann hätte ich mir den grünen Stein vor Karl nehmen können und hätte …“ Für ganz feinfühlige Menschen ist das Spiel nur etwas in einer sehr ausgeglichenen Gutmenschen-Runde. Aber tatsächlich, langsam groovt man sich nach den anfänglichen Super-GAUs als Gruppe ein. Es wird sozusagen eine Sprache gefunden. „Ich tausche den Stein auf der mystischen Ebene meines linken Nachbarn aus mit dem Stein, den ich brauche.“ – „Ich lege selbst Steine auf meine mystische Ebene, die ich nicht brauche.“ Es ist erstaunlich, wie differenziert diese Kommunikation mit mehr Übung abläuft. Aber das bedingt auch, dass ich jede Aktion meiner Mitspieler verfolge. JEDE! Sonst bringe ich womöglich alles durcheinander. Je anspruchsvoller die Rituale werden, desto fragiler wird der Steine-Tauschrausch. Und je weniger Zeit ich der Gruppe gönne, desto mehr Effizienz brauche ich im Tauschprogramm. Da ist es wichtig, dass das Räderwerk perfekt ineinandergreift.
Das Spiel ist in allen Konstellationen wirklich anspruchsvoll. Es ist sozusagen ein Echtzeit-Team-Aufpass-und-Deduktions-Expertenspiel. Das macht das Erreichen der ersten Erfolge umso süßer. Und hieraus nährt sich auch das Suchtpotenzial – allerdings nicht bis spät in die Nacht hinein. Nach ein paar Partien braucht der Denkapparat in der Regel mal eine Verschnaufpause. Für „Ritual“ hat man am besten ein oder zwei passende Spielegruppen, die sich regelmäßig mit „Ritual“ beschäftigen. Einfach um voranzukommen und auch mal die schwierigen Rituale spielen zu können. Natürlich ist es total interessant zu erleben, wie neue Gruppen in das Spiel hineinfinden. Aber am gleichen Spieleabend kommt man nicht über die ersten Rituale hinaus. Für’s Durchspielen braucht man einfach ein eingespieltes Team, was sich auch mal was verzeiht. Es ist dann eine unglaublich befriedigende Erfahrung, als echtes Star-Team selbst schwierige Herausforderungen in vorher nie für möglich gehaltener Geschwindigkeit zu bestehen. Die zehn Ritualtableaus versprechen eine spannende und lange Ritualreise.
Der Zwei-Spieler-Modus funktioniert gut. Das Vokabular, dass man sich hier erarbeitet beziehungsweise erarbeiten muss, ist allerdings in Teilen anders. Ich darf mir in der Zwei-Spieler-Variante keine Steine nehmen. Wie mache ich nun meinem Partner klar, dass ich gelbe Steine brauche?
Aber mal ehrlich. Strohmann Games hat auf der hauseigenen Zielgruppen-Skala die untere grüne Komplexitätsstufe „Familie“ gewählt. Das fühle ich gar nicht. Sicher ist das Spiel regeltechnisch nicht kompliziert. Aber es ist schwierig, das Spiel als Gruppe erfolgreich zu gestalten. Ein schwaches Glied in der Kette kann viel zerstören. Ich würde das Spiel primär erfahrenen Spielern oder zumindest Kommunikationsprofis empfehlen. 10-Jährige werden in der Regel vollkommen überfordert sein. Daher mein Appell: Rubbelt den grünen Kreis von der Schachtel. „Ritual“ ist klar ein Spiel mit gehobenem Anspruch – in der Strohmann-Logik gelb oder sogar orange.
Spielern mit Freude am Rätseln, am Kommunizieren ohne zu reden, an Herausforderungen generell und ausgestattet mit einem guten Paket Durchhaltevermögen können sich mit „Ritual“ ein ganz besonderes und wahrlich belohnendes Spielerlebnis erarbeiten. Die Zielgruppe mag klein sein, „Ritual“ ist ein Spiel, dass aufgrund seiner Natur keinen Youtube-Rezensenten-Hype auslösen kann. Aber es ist ein wahrlich besonderer Edelstein in der passenden Runde.
Fazit: „Ritual“ haut einen aus den Socken. Aufstehen und weitermachen! Und dann wird man mit einer unglaublich befriedigenden und manchmal sehr emotionalen Teamerfahrung belohnt. Durch die unterschiedlichen Rituale mit steigender Komplexität sind hier viele Stunden Herausforderung, Spielfrust und Ur-Freude in der Schachtel. Allerdings nicht an einem Stück. Sonst schmilzt das Gehirn. Gelb, Mann! Ich brauche GELB! Auch auf der Spieleschachtel.
Noch ein Gedanke: Dieses Spiel könnte hervorragend in jedem Assessment-Center eingesetzt werden. Und das ist nicht despektierlich gemeint – ganz im Gegenteil. Es versetzt die Kandidaten in eine Drucksituation, zeigt, wie sich die Kandidaten aufeinander einstellen und wie man dem anderen „zuhört“. Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Frustrationstoleranz, Konfliktfähigkeit und die kognitiven Fähigkeiten der Kandidaten bekommt der aufmerksame Beobachter serviert.
Ritual
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 10 Jahren
Tomás Tarragón
Strohmann Games 2025
EAN: 4262412340129
Sprache: Deutsch
Preis 29,90 EUR
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