Reiter der schwarzen Sonne

Seit „Reiter der schwarzen Sonne“ im Jahr 2012 erschienen ist, überschütten es die Kritiker mit Lobeshymnen. Das Werk konnte sogar – was für Spielbücher ungewöhnlich ist – den Deutschen Rollenspielpreis für das beste Regelwerk im Jahr 2014 gewinnen. Zeit und Grund genug für den Ringboten, sich das Spielbuch näher anzuschauen und kritisch zu hinterfragen.

von Morgath

Das Werk stammt aus der Feder von Swen Harder. Swen ist beruflich Spieletester bei Nintendo und privat natürlich Fantasy-Fan und Rollenspieler. Bei „Reiter der schwarzen Sonne“ handelt sich um sein Erstlingswerk! Beachtlich ist, dass es mit über 750 Seiten und über 1.350 Abschnitten das umfangreichste Spielbuch auf dem Markt sein dürfte. Wie er dazu kam? Nun, er hatte Lust, es zu schreiben, die Ausdauer, es zu beenden und die Hartnäckigkeit, einen Verlag zu finden. Als er vorzeigbare Ergebnisse hatte, bot er es dem Mantikore-Verlag an – dem derzeit renommiertesten Verlag für Spielbücher, bei dem u. a. die bekannte Serie „Einsamer Wolf“ erscheint – und wurde prompt genommen.

Vom ersten Federstrich bis zur endgültigen Publikation sind dann aber doch über vier Jahre ins Land gegangen. Die 1. Auflage bekam gute Kritiken und verkaufte sich schnell. Für die 2. Auflage wurde das Cover neu gestaltet und das Layout verfeinert. Inzwischen liegt schon die 3. Auflage vor und Gerüchten zufolge wird das Werk gerade ins Englische übersetzt. Man darf gespannt sein, wie die englischen Spielbuchfreunde es annehmen. Mir liegt die 2. Auflage als Sonderedition vor, die im Schuber erhältlich ist und zusätzlich ein „Making-of“-Heft (inkl. Rätselhilfen), eine CD mit 12 Tracks, 2 Lesezeichen und eine Weltkarte als Bonusmaterial beinhaltet.

Die Technik des Spielbuches


Wer schon einmal ein Spielbuch gespielt hat, der weiß, was ihn erwartet. Und trotzdem lohnt es sich, beim „Reiter der schwarzen Sonne“ ein paar Worte über die Spieltechnik zu verlieren: Aufgrund seines mächtigen Umfangs ist das Werk in mehrere Kapitel eingeteilt, die 50 bis 200 Abschnitte umfassen. Ein Kapitel umfasst eine in sich geschlossene Handlung der Gesamt-Geschichte. Das ist praktisch, da wohl die wenigsten Leser das Spielbuch am Stück durchspielen werden und so eine gute Hilfestellung gegeben wird, wo man eine inhaltliche Lese-Pause einlegen kann. Ein weiterer Vorteil daran ist, dass man im Fall des Ablebens nicht ganz von vorne beginnen muss, sondern einfach beim aktuellen Kapitel wieder einsteigen kann. Zudem motiviert diese Aufteilung, da man sich etappenhaft dem Ziel nähert.

Eine weitere Besonderheit, die ich bisher aus keinem anderen Spielbuch kannte, sind die sogenannten Schicksalspunkte, von denen man in jedem Kapitel ein bis drei finden kann. Dabei handelt es sich um besonders wichtige Ereignisse, die für die Gesamt-Geschichte wichtig, aber nicht unentbehrlich sind. Sie geben eine zusätzlich Motivation und gleichzeitig eine Kontrolle, ob der Spieler auch alle wichtigen Elemente gefunden hat. So erhöht sich auch der Wiederspielwert eines Kapitels, denn selbstverständlich will man erst dann mit dem nächsten Kapitel fortsetzen, wenn man alle Schicksalspunkt im aktuellen Kapitel gefunden hat.

Originell ist auch der Einstieg. Der Leser beginnt sofort mit dem Lesen des Buches, ohne dass er sich zuvor irgendwelche Regeln aneignen muss. Die Regeln – die es selbstverständlich gibt – werden Häppchenweise zwischen den Kapiteln dem Leser näher gebracht. Man muss sich also nur mit den Regeln befassen, die im nächsten Kapitel benötigt werden. Dadurch ist die Einstiegshürde gerade für Anfänger ausgesprochen niedrig, obwohl die Regeln im Laufe des Lesens durchaus einen gewissen Umfang erreichen. Natürlich sind sie farblich hervorgehoben, sodass man sie leicht findet, wenn man mal etwas nachschlagen möchte.

Im Wesentlichen gibt es die Spielwerte Stärke und Geschick, aus denen sich der Angriffs- und Verteidigungswert bestimmen. Zunächst starten beide Werte bei 5, wobei sie im Laufe des Abenteuers bis zum Wert von 15 gesteigert werden können. Proben können mit dem Würfel abgelegt werden oder – und das bietet sich an – indem man das Buch irgendwo aufschlägt, denn auf jede Seite finden sich Würfelergebnisse. Später werden auch Karma- und Wut-Punkte eingeführt, die Auswirkungen auf Proben haben. Auch erhält man die Möglichkeit, Fertigkeiten zu erlernen, wie beispielsweise Kriegskunst oder Diplomatie. Der Spielbogen ist nützlich und bietet zudem Platz für Ausrüstungsgegenstände.

Insgesamt sind die Regeln einfach und zweckdienlich. Etwas lästig fand ich aber, dass man im Laufe des Abenteuers Gegenstände findet oder Fertigkeiten erhält, die Sonderregeln benötigen. Auch wenn diese nicht wirklich kompliziert sind, so musste man doch immer wieder kurz überlegen, was den Spielfluss hemmt. Verstärkt wird dies durch die Tatsache, dass man genau Buch führen muss, da sich einige Gegenstände im Lauf des Spiels verändern.

Der vielleicht großartigste Aspekt des Buches sind die vielen Spielereien, mit denen der Autor den Leser unterhält: Zahlen-Rätsel, Bilder-Rätsel, Wort-Rätsel, Spiele, Daumenkino oder Logik-Aufgaben. Es finden sich reichlich knifflige Aufgaben, die der Leser lösen darf. Sie haben ein gutes Niveau, sind nicht zu schwer und nicht zu einfach. Einige davon beziehen sogar die Illustrationen mit ein und sind ausgesprochen originell! Dem Leser möchte ich hier einen Tipp mit auf dem Weg geben: Die Aufgaben sind oft nur out-of-play zu lösen, das heißt die Spielerfigur könnte sie nicht lösen. Nur der Leser kann es.

Zwischenfazit: „Reiter der schwarzen Sonne“ erfindet zwar das Spielbuch nicht neu, es schöpft aber spieltechnisch alle Möglichkeiten aus, die ein Spielbuch bieten kann und setzt damit einen Standard, an dem sich zukünftig alle Spielbücher zu messen haben.

Das Abenteuer

„Reiter der schwarzen Sonne“ bietet eine eigene Welt. Die Welt wird dominiert von der Sonnengöttin Kar und dem Mondgott Ugar. Beide sind kosmische Widersacher. Ihre Meinungsverschiedenheit wird irdisch unter ihren Anhängern fortgesetzt. Das Ugar-gläubige Empire und das Kar-gläubige Goldene Reich Rhenus führten in der Vergangenheit schon zahlreiche Kriege gegeneinander. Auch das Abenteuer dreht sich um einen gerade ausgebrochenen Krieg und – wie könnte es anders sein – natürlich ist die Spielerfigur das Zünglein an der Waage, das diesen Konflikt entscheiden wird.

Sehr originell ist zunächst der Einstieg: Der Held erlitt einen Gedächtnisverlust. Als er erwacht, befindet er sich in einem edlen Gemach, vor ihm liegt ein toter Priester, an seiner Hand klebt Blut und vor der Türe hört man Schritte. Das Abenteuer beginnt in medias res. Man befindet sich in einer kritischen Situation. Man muss sofort handeln und es stellen sich einem gleich einige Fragen. Durch diesen Trick wird der Held auf den Wissenstand des Lesers gesetzt. Nach und nach offenbart sich ihm seine Vergangenheit. Er entdeckt die ihm bekannte Welt neu und kann so die Konflikte zwischen Kar und Ugar aus einer anderen Sicht sehen.

Das erste Kapitel ist ein Flucht-Szenario. Dem folgt ein Kapitel, in dem der Held ausgebildet wird und wertvolle Informationen über den bevorstehenden Krieg erhält. Solche Ausbildungs-Szenarien finde ich persönlich sehr schön und auch die ersten Spielbücher (z. B. das „Troja“-Spielbuch) machten davon zu Recht ausgiebig Gebrauch. Es folgt ein Kapitel, bei dem man eine Seeschlacht miterleben kann und einen Sonderauftrag erledigen soll, bei dem ein Stausee ein wichtige Rolle spielt. Anschließend begibt man sich zu einem Heiligtum in den Bergen und einem in der Wüste, wo man knifflige Rätsel lösen muss, um zum Schluss wertvolle Informationen über die göttliche Ordnung und die eigene Rolle innerhalb dieser zu erfahren. Nebenbei gibt es spannende Luftkämpfe zu bestreiten oder taktische Möglichkeiten zu finden, wie man eine Stadt am sinnvollsten angreift. Natürlich gibt es zum Schluss den großen Endkampf, eh man das Buch hoffentlich zufrieden bei Seite legen kann.

Bewertung

Bei einem so umfangreichen Buch kann man natürlich an zahlreichen Stellen ansetzen, um Kritik zu üben. Beispielweise wünscht man sich in einigen Sektionen sinnvollere Entscheidungen, andere Passagen sind undeutlich formuliert, sodass man sie missversteht oder die Spielfigur reagiert so, wie man selber nicht reagieren würde. Doch dies liegt in der Natur des Spielbuchs und ist kaum zu vermeiden, da man es bekanntlich nicht allen recht machen kann. Ich beschränke mich daher auf die gravierenden Kritikpunkte:

1. Die Spielerfigur macht im Laufe des Abenteuers eine Entwicklung durch, die rückblickend in sich schlüssig und glaubhaft ist (das ist gut). Als Leser kann man zunächst noch nicht erkennen, in welche Richtung die Entwicklung führen wird (was ebenfalls gut ist). Trotzdem wird man in einem Kapitel dazu genötigt, eine bestimmte Seite zu unterstützen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt gute (ich meine sogar bessere) Gründe gibt, um die andere Seite zu wählen. Sieht der Leser das ebenso wie ich, dann nimmt das Abenteuer an dieser Stelle einen seltsamen Verlauf. Vereinfacht gesagt wird man dazu gedrängt, ein Objekt zu zerstören oder zu retten, das man aber gerade nicht zerstören oder retten will. Alle Möglichkeiten, die der Autor einem von nun an anbietet, widersprechen logischerweise den eigenen Zielen. Hinzu kommt noch, dass ich die militärische Ausgangslage und das strategische Vorgehen der Armee in dieser Situation wenig überzeugend finde. Ich kritisiere diese Stelle, weil sie einen nicht unerheblichen Teil in einem Kapitel ausmacht und sich in ihr Dinge ereignen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Teilt man hingegen die Sichtweise des Autors und findet die Entwicklung der Ereignisse schlüssig, dann ist das natürlich keine Schwäche.

2. Verwirrend oder vielleicht besser ausgedrückt „gewöhnungsbedürftig“ ist die Tatsache, dass der Autor mit den (ungeschriebenen) Gesetzen des Spielbuches spielt und bewusst gegen sie verstößt. Auch dies ist an sich eine gute Idee, jedoch nicht so, wie sie hier teilweise durchgeführt wird. So ist es beispielsweise bei Spielbüchern Usus, dass man von einem Gegenstand, den man mühsam erlangt hat, später einen Vorteil hat. Nicht so bei „Reiter der schwarzen Sonne“. Die krasseste Stelle ist folgende: Man löst ein hartes Rätsel und bekommt dafür einen Gegenstand. Später wird man gefragt, ob man den Gegenstand einsetzen möchte, wobei es absolut sinnvoll klingt, ihn einzusetzen. Tut man dies jedoch, dann stirbt man! Ich empfand das als Stimmungskiller und das Gegenargument, dass sich dadurch der Reiz, das Buch nochmals zu spielen, erhöht, kann ich nicht teilen. Der eigentliche Kritikpunk daran ist, dass der Autor den Leser ohne Orientierungshilfe zurücklässt. Es gibt für ihn keine Anhaltspunkte, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das Abenteuer gestaltet sich somit an einigen Stellen als reines Zufallsprodukt. Man merkt dies auch bei einigen Schicksalspunkten. So kann man beispielsweise einen nur finden, wenn man unlogisch handelt, einen anderen, wenn man unvorsichtig handelt und den letzten, wenn man weniger ehrenhaft handelt als die angebotene Alternative.

Kommen wir nun zu den positiven Punkten. Vieles wurde bereits angesprochen, sodass ich mich auf Stichpunkte beschränke:

1. Das wichtigste vorweg: Es hat Riesen-Spaß gemacht, das Spielbuch zu spielen! So viel Spaß hat mir schon lange kein Spielbuch mehr bereitet (und ich habe fast alle gespielt, die jemals auf Deutsch erschienen sind).

2. Es sind keine technischen Fehler drin. Ich habe zumindest keine fehlerhafte Verweisung gefunden.

3. Es sind viele originelle Ideen drin, sowohl inhaltlicher (z. B. der Gedächtnisverlust) als auch spieltechnischer Art (z. B. die Aufteilung in Kapitel).

4. Es wird eine eigene und neue Welt geboten, die man als Leser entdecken kann. Die Rasse der Ugarith ist besonders gut gelungen.

5. Die Geschichte ist spannend und wenn man von Kritikpunk Nr. 1 absieht in sich logisch und stimmig.

6. Die Schicksalspunkte geben einen Anreiz zum Lesen und erhöhen den Wiederspielwert eines Kapitels.

7. Es sind viele tolle Rätsel und Aufgaben drin, die genau das richtige Herausforderungsniveau haben.

8. Es ist einsteigerfreundlich.

9. Es stammt von einem deutschen Autor.

10. Das Lösungsheft ist eine echte Bereicherung und macht für dieses Buch absolut Sinn, denn man wird vermutlich nicht jedes Rätsel lösen können. Zudem erfährt man in dem Lösungsheft noch einiges Wissenswertes über die Entstehung des Werkes.

11. Gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Für gerade mal 20 EUR erhält man allerhand Material und, was ich für das Wichtigste halte, viele Stunden Spielspaß! Das Buch ist schön gestaltet, liegt angenehm in der Hand und lässt keine Wünsche offen.

12. Stimmungsvolle Zeichnungen von Fufu Frauenwahl (was für ein Name!).

Fazit: „Reiter der schwarzen Sonne“ ist das bemerkenswerteste Spielbuch der letzten Jahre. Es hat zwar einige Schwächen, jedoch viele Stärken. Es setzt spieltechnisch neue Maßstäbe und bietet inhaltlich ein spannendes Abenteuer, an dem man viel Stunden Spaß haben wird. Jeder Spielbuch-Fan sollte es in seinem Regal stehen haben. Aber auch Neulingen sei es empfohlen, da es durch seinen geschickten Aufbau sehr einsteigerfreundlich ist.


Reiter der Schwarzen Sonne
Abenteuer-Spielbuch
Swen Harder, Fufu Frauenwahl
Mantikore Verlag 2012
ISBN: 978-3-939212-40-9
756 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 19,95

bei amazon.de bestellen