Postnomicon

Bereits vor drei Jahren erschien beim Truant Verlag die deutsche Ausgabe des vom spanischen Verlag Nosolorol verlegten Rollenspiels „Unaussprechliche Kulte“. Nun legt der Verlag endlich den ersten Abenteuerband nach. Lohnt sich die Anschaffung?

von André Frenzer

„Unaussprechliche Kulte“ dreht den Spieß zahlreicher cthuloider Rollenspiele einmal um: als Kultisten wollen wir den Großen Alten ein Tor in unsere Welt öffnen. Ich erinnere mich, dass ich dem Grundregelwerk eine hohe Qualität attestierte, ich mich jedoch schwer damit tat, dem Rollenspiel eine Kampagnentauglichkeit zuzugestehen. Immerhin spielen wir hier einmal die wirklich bösen Jungs – wie lange kann das tragfähig sein? Nun, zumindest fünf Autoren fanden hier genug Inspiration, um ebenso viele Abenteuer niederzuschreiben. Während die kleine Printauflage rasch ausverkauft war, liegt „Postnomicon“ immerhin noch als PDF vor.

Die Szenarien

Eröffnet wird der Band mit einem sehr lovecraftigen Titel: „Träume im Hexenhaus“. Auf gerade einmal zwölf Seiten folgen wir hier den Spuren eines seltsamen Selbstmordes. Diese führen zu einem finsteren Gegenspieler, welcher über die Traumlande in der Lage ist, in der realen Welt schreckliche Dinge anzurichten. Etwas ausführlicher wird das zweite Szenario, „Zu groß zum Scheitern“. Hier schlüpfen die Spieler in die Rolle von skrupellosen Bankangestellten, denen die eigene Karriere wichtiger ist als das Leben ihrer Mitmenschen. Und tatsächlich dürfen sie alsbald nicht nur faule Kredite zu überzogenen Zinsen anbieten, sondern ganz besondere Geschäfte. Denn der Kult hinter der Bank verfügt über Mythoskontakte und kann so Macht und Einfluss verkaufen – zu einem gewissen Preis, versteht sich.

Als drittes folgt „Vermiester Frühling“. Bei diesem Szenario handelt es sich um eine Schnitzeljagd, welche die Charaktere an verschiedene Orte der Stadt führen wird. Denn auf der Suche nach einer digitalen Mythos-Datenbank stoßen sie nicht nur auf zwei unbedarfte Hackerinnen, die sich an zu Großes herangewagt haben, sondern auch auf einen Kult, der mit dem Wissen der Datenbank ein finsteres Ritual plant. Auch „Der Teufel kommt nachts“ ähnelt einer Schnitzeljagd. Dieses Mal geht es allerdings ins Drogenmilieu, denn ein lokaler Untergrundboss schleust eine neuartige Droge in die Klubs der Stadt ein. Den Mythoskundigen werden alsbald Verbindungen zu einer großen Sache klar, und es wäre doch gelacht, wenn der Kult der Spielercharaktere kein Stück vom Kuchen ergattern könnte.

Abgeschlossen wird der Band mit dem Abenteuer „Ein Ritual, ganz wie bestellt“. Hier begeben sich die Spielercharaktere auf die Spuren eines Serienmörders – und zwar in dessen eigenen Auftrag. Harvey Werth-Miller ist nämlich inhaftiert worden, bevor er seine Mordserie – und damit ein Ritual zu Ehren seines Gottes – vollenden konnte. Es gilt nun das letzte Mordopfer zu finden und im Namen Harveys zu opfern, damit die Charaktere in den Besitz von Harveys okkulter Bibliothek gelangen.

Kritik

Wenden wir uns zunächst den technischen Aspekten des Bandes zu. Die Abenteuer sind teilweise nämlich wirklich krude aufbereitet und lassen eine Menge Arbeit für den Spielleiter übrig. Das liegt zum einen daran, dass beschreibende Texte und offensichtlich als Vorlesetexte gedachte Abschnitte ohne optische Trennung fließend ineinander übergehen. Beim Durcharbeiten hat man so oft ein „Deja-vu“-Gefühl, während man zunächst die doppelte Textmenge überblicken muss, später im Spiel aber die Vorlesetexte nicht wiederfindet. Dazu ist der generelle Aufbau der Abenteuer nicht gerade sehr modern, denn die einleitende Zusammenfassung ist dünn und nicht aussagekräftig, sodass man auch als Spielleiter oft bis zum Ende im Dunkeln tappt, was hier eigentlich vor sich geht. Und gerade das erste Szenario besteht eher aus einer Ideensammlung für Szenen, welche die Spielleitung noch irgendwie zu einer Szenarienhandlung zusammenbringen muss.

Neben diesen Schwächen in der Aufarbeitung komme ich aber nicht umhin, den Szenarien Qualität zu attestieren. Sie sind innovativ und kreativ, abwechslungsreich und warten mit einigen wirklich schrägen Ideen auf. Allerdings – und das sollte man von einem Spiel, in dem man in die Rolle von Mythoskultisten schlüpft vielleicht auch erwarten können – sie sind allesamt nichts für zarte Nerven. Hier prügeln Drogenjunkies mit Baseballschlägern aufeinander ein, hier werden Schriftzeichen mit Blut und Gedärmen an die Wand geschmiert, hier werden Menschen zu Kannibalen, hier sterben Kinder. Hilflose werden zu Opfern, nicht zu Geretteten. Die Schrecken des Mythos sind zwar allgegenwärtig, doch sind es die Menschen unter seinem Einfluss, welche für die wirklich verstörenden Dinge in diesem Band verantwortlich sind. Es gibt kaum „gute“ Charaktere, alles verschwimmt in unterschiedlich-dunklen Schattierungen zwischen dunkelgrau und schwarz.

Wie auch schon bei der generellen Kritik am Grundregelwerk gilt hier fast noch mehr: Die Dosis macht den Spielspaß. Als Ausflug auf die „andere Seite“ des lovecraftschen Rollenspielspektrums und als Anschauungsmaterial, wie „Unaussprechliche Kulte“ funktionieren kann, sind die Szenarien tadellos geeignet. Ob ich alle fünf hintereinander konsumieren möchte, hängt dann wohl sehr am eigenen Geschmack – für mich wäre das ehrlicherweise zu viel des Guten. Denn es gibt wenig Humor und noch weniger Lichtblicke, sondern fast ausschließlich grausige Abgründe.

Aufmachung

Genau wie „Unaussprechliche Kulte“ ist „Postnomicon“ vollfarbig gehalten. Die knapp 112 Seiten sind wiederum auf einem hohen Niveau bebildert. Die verwendete Seitenhintergrundgrafik, die Schriften und die Bebilderung transportieren gut die angestrebte Stimmung. Gut gefallen haben mir insbesondere die großzügigen NSC-Porträts. In der deutschen Übersetzung sind mir keine groben Fehler aufgefallen. In dieser Hinsicht kann ich damit eine gute Note vergeben.

Fazit: Für Fans und Spieler des Grundregelwerks sowie alle Neugierigen, die einmal einen Blick auf die andere Seite des Mythos werfen wollen, ist „Postnomicon“ – trotz einiger Schwächen in der Aufbereitung der Szenarien – fast schon ein Pflichtkauf. Aber Achtung: Es ist nichts für Zartbesaitete, sondern bietet die volle Bandbreite mythoslastiger Abartigkeiten.

Postnomicon
Abenteuerband
Juan Sixto, Antonio Ortiz u. a.
Truant Spiele 2023
112 S., PDF-Datei, deutsch
Preis: 19,95 EUR

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