Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Im Cyberspace ist die Zeit für das jüngste Gericht gekommen. Tad Williams setzt seiner „Otherland“-Tetralogie ein fulminantes Ende, in dem es einige Offenbarungen gibt, die den Leser verblüffen werden …

von Andreas Loos

Tad Williams setzt nahtlos da an, wo er in Band drei, „Berg aus schwarzem Glas“, aufgehört hat: dem Ende der Gralsbruderschaft. Im Moment des vermeintlich größten Triumphs, dem Übergang in ein neues Leben digitaler Unsterblichkeit, werden die Schöpfer des Otherland-Netzwerks nicht nur von Renie Sulawejo und ihren Gefährten gestört, sondern auch von Dread, dem wahnsinnigen Psychopathen und abtrünnigen Helfershelfer des obersten Gralsherren Felix Jongleur, der mit seinen angeborenen Fähigkeiten das mysteriöse Betriebssystem, den Anderen, teilweise unter seine Kontrolle gebracht hat. Die Zeremonie endet dementsprechend in einem absoluten Fiasko, das die Gralsbruderschaft, teils durch ihre eigene Hand, dezimiert.

In der Folge sprengt Williams die Gruppe – mal wieder – auseinander. So finden sich der Buschmann !Xabbu und Sam Fredericks zusammen in einer Zweckgemeinschaft mit Felix Jongleur. Renie wandert allein durch eine unwirkliche Nebellandschaft, die dem Herzen des Betriebssystems am nächsten zu sein scheint. Paul Jonas und die anderen werden zurück in andere Simulationen geschleudert und dienen Williams dazu, dem Leser zu demonstrieren, wie pervers Dread, der neue Herr des Netzwerks, wirklich ist.

Was in den ersten drei Büchern an Brutalität in Bezug auf Dread dargestellt wurde, wird hier noch um etliche Male übertroffen. Dank Dread ist in der virtuellen Welt die Apokalypse ausgebrochen, und jeder der vier Reiter trägt sein Gesicht. Dread ist kein Heiland, und die Guten und die Bösen sind ihm egal, solange er seine perversen Gelüste befriedigen kann. Sei es nun das Römische Reich oder Dodge City, jede Welt bekommt es zu spüren, wer jetzt der Herr im Haus ist. Meiner Meinung nach hätte Williams diesen Part etwas kürzer gestalten können. So sehr ich den Detailreichtum seines Schreibstiels zu schätzen weis, manches blutige Detail erscheint mir schlicht unnötig und abgeschmackt.

Richtig abgehoben ist die (wahre) Geschichte von Herrn Sellars, die manches Wunder im Netzwerk wie billiges Machwerk erscheinen lässt. An Fantasie mangelt es Williams jedenfalls nicht. Sellars bekommt im vierten Teil eine zentrale Rolle, da er praktisch ständig an allen (virtuellen) Fronten kämpft.

In der realen Welt sehen sich die Protagonisten, Long Joseph Sulaweyo und seine Wegefährten, die neben den VR-Tanks von Renie und !Xabbu wachen, immer mehr von den Schergen der Bruderschaft bedrängt, die versuchen, in den Bunker einzudringen, in dem sie sich versteckt haben.

Olga Pirofsky dringt derweil als Reinigungskraft unter mithilfe von Beezel, Catur Ramsey und Sellars in das Allerheiligste von Felix Jongleurs Konzernzentrale ein, wo der reale, verfallene Körper des Gralsherren in einem Tank mit Nährlösung darauf wartet, von diesem wieder beseelt zu werden.

Detective Skouros findet eine heiße Spur, die sie direkt zu Dread führt, ohne dass sie sich bewusst ist, wen sie wirklich jagt. Dulcy Anwin schließlich, die Hackerin im Gefolge Dreads, stellt eigene Anforschungen über ihren Auftraggeber an und findet zu spät heraus, mit wem sie sich eingelassen hat.
 
Williams löst fast alle seine Erzählfäden in einer fulminanten Folge von Höhepunkten auf. Sowohl im Netz als auch in der realen Welt brennt Williams solch ein Feuerwerk an überraschenden Wendungen ab, dass einem schwindlig werden kann. Er verfährt dabei nach der Devise suum cuique, und so bekommt auch jeder, was ihm zusteht. Den meisten Protagonisten gönnt man ihr Schicksal.

Um alle Handlungsstränge abzuschließen, benötigt Williams gut 150 Seiten. Schon während des Finales werden etliche der verbliebenen Rätsel offenbart, der Rest wird danach aufgelöst. Des Pudels Kern ist dabei manchmal absurder, als die wildesten Spekulationen, die ich während der Lektüre angestellt habe, und erschien mir stellenweise einfach zu irrational. Über die Erklärung, welche Rolle den Kindern zukommt, die anscheinend durch das Betreiben der Gralsbruderschaft ins Koma gefallen sind, habe ich mich sogar ein wenig geärgert.

Die Bösewichte fand ich in Band vier eher schlecht dargestellt. Lediglich Jongleur und Dread bekommen den nötigen Tiefgang. Robert Wells ist anscheinend ziemlich durchgeknallt und fristet sein Dasein als folternder Pausenclown in Dreads Diensten, und der Rest der Gralsbruderschaft ist größtenteils bereits in Band drei abgetreten.

Dank der Erzählstränge, die fast gradlinig auf den Showdown zurasen, kommt Spannung auf, aber eine wirkliche Steigerung zu Band drei konnte ich jetzt nicht feststellen. Das liegt allerdings vor allem daran, dass Williams bereits im letzten Band alle Register gezogen hat, um das Zusammentreffen mit der Gralsbruderschaft mit Spannung zu versehen.  So muss es sich der Leser dann auch gefallen lassen, das Williams zu seinem beliebtesten Mittel greift, um Spannung zu erzeugen: Protagonisten in alle vier Winde zerstreuen und von neuem auf den Höhepunkt zusteuern lassen. Was in Band eins und zwei noch gut bei mir ankam, war in Band vier nur noch schwer zu ertragen. Andererseits hat es dann doch wieder funktioniert: Den letzten Band bin ich in Rekordzeit durchgegangen, da ich endlich die Auflösung wissen wollte.

Wie bereits bei „Fluss aus blauem Feuer“ und „Berg aus schwarzem Glas“ rate ich Gelegenheitslesern und Quereinsteigern ab, sich erst mit Band vier zu beschäftigen. Zu komplex ist der Aufbau der epischen Reise durch virtuelle Welten, zu sehr sind die Erzählstränge ineinander verzahnt.   

Fazit: „Meer des silbernen Lichts“ ist der spannende und teilweise mit einigen Absurditäten gespickte Abschluss zu Tad Williams „Otherland“-Tetralogie. Fast alle Fragen und Rätsel werden aufgelöst, und jeder bekommt, was er verdient. Ein sehr versöhnlicher Schluss, dem eine wahre Höllenfahrt vorausgeht. Gelegenheitsleser sollten sich den Kauf allerdings zweimal überlegen und Quereinsteiger sollten auf jeden Fall zuerst die anderen Bücher lesen.


Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Science-Fiction-Roman
Tad Williams
Heyne 2007
ISBN: 978-3-453-53218-2
1215 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,95

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