Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Mit „Berg aus schwarzem Glas“ legt Tad Williams den dritten Band seiner Tetralogie rund um das virtuelle Otherland-Netzwerk vor. Gekonnt schickt er den Leser auf eine komplexe, aberwitzige Reise durch virtuelle Welten, die nur allzu real erscheinen. Diesmal wird nicht nur unterschwellig Spannung aufgebaut, nein, es geht richtig zur Sache …

von Andreas Loos

Die Handlung von „Berg aus schwarzem Glas“ setzt nahtlos da ein, wo „Fluss aus blauem Feuer“ abgebrochen hat. Zur Auffrischung des Gedächtnisses sind der eigentlichen Romanhandlung recht ausführliche Inhaltsangaben der beiden ersten Romane „Stadt der goldenen Schatten“ und „Fluss aus blauem Feuer“ vorangestellt. Wer wie ich eine Auffrischung bezüglich der einzelnen Handlungsstränge benötigt, wird hier gut bedient. Quereinsteiger sollten besser die beiden vorangegangen Romane zuerst lesen. Es lohnt sich – zumindest in meinen Augen.

Williams setzt sein Gewirr aus zahlreichen und nur locker miteinander verflochtenen Handlungssträngen weiter fort. Die Protagonisten sind noch immer in den virtuellen Welten des Otherlandnetzwerks gefangen.

Paul Jonas, der in „Stadt der goldenen Schatten“ aus den Klauen der Gralsbruderschaft entkommene Gefangene, irrt durch die virtuelle Simulation von Homers Odyssee und versucht, von Ithaka nach Troja zu gelangen. Die einzelnen Stationen der Odyssee durchlebt Paul Jonas in umgekehrter Reihenfolge, dabei lässt Williams weder die Ungetiere Scylla und Charybdis, noch die Nymphe Calypso, mit der Paul ein paar schöne Tage verlebt, aus. Die Lotophagen dürfen natürlich auch nicht fehlen.

Die Teenager Orlando und Fredericks sitzen derweil in der Simulation des alten Ägyptens, die im Eigentum des Vorsitzenden der Gralsbruderschaft, Felix Jongleur, steht, fest.  Die beiden müssen etliche Kämpfe bestehen, um aus der Simulation, die sich im Moment im Aufruhr befindet, zu entkommen.

Die anderen Gefährten rund um die resolute Renie Sulaweyo versuchen unterdessen dem Mörder Dread zu folgen, der sie in einer öden und grauen Simulation zurückgelassen hat. Mit viel Glück gelangen sie in die Simulation eines endlos großen Hauses, wo sie mit noch mehr Glück den Psychopaten stellen können.

Im realen Leben geht die Geschichte natürlich auch weiter, wenn auch der Schwerpunkt auf die virtuellen Welten gelegt wird:

Long Joseph Sulaweyo, Renies Vater, hat den Bunker, in welchem die echten Körper seiner Tochter und ihres Buschmannfreundes !Xabbu liegen, verlassen, um seinen im Koma liegenden Sohn Stephen zu besuchen. Dabei wird er entführt und gelangt auf Umwegen zurück zum Bunker, an dem sich zwielichtige Gestalten zu schaffen machen. In diesem wacht Jeremiah Dako über die Tanks, in denen sich Renie und !Xabbu befinden, aber unheimlicherweise klingelt bei ihm ständig ein altmodisches Telefon, obwohl der Stützpunkt stillgelegt ist und eigentlich niemand wissen sollte, das sich hier jemand aufhält.

Decatur Ramsey, ein Rechtsanwalt, von den Eltern von Fredericks beauftragt, den Hintergründen des komatösen Zustands ihrer Tochter nachzugehen, setzt seine Nachforschungen sowohl im Netz als auch in der realen Welt mit Hilfe von Beezle Bug, Orlandos Netz-Agenten, einer Art Künstlichen Intelligenz, fort. Und tatsächlich gelingt es ihm sogar, ein paar wenige Teile zusammenzufügen.

Olga Pirofski, die für die Kindersendung Onkel Jingle gearbeitet hat, verlässt ihre Wohnung und macht sich auf die Suche nach den Kindern, deren Stimmen sie in ihrem Kopf hört. Die beiden australischen Polizisten Calliope Skouros und Stanley Chan dagegen ermitteln in einem alten Mordfall, den allem Anschein nach der Psychopath Dread auf dem Gewissen hat. Und das kleine Mädchen Christabel, ihre Eltern, der entstellte Herr Sellars und der Straßenjunge Cho Cho flüchten schließlich aus dem Armeestützpunkt, in dem ihr Vater beauftragt war, Sellars zu bewachen. Aber schon bald scheint ihre Flucht vorbei zu sein.

Die Handlungsstränge im virtuellen Raum kreuzen sich in der Simulation Trojas. Hier treffen alle Charaktere zusammen. Während um sie herum der Kampf um Troja tobt, versuchen sie das Rätsel des Netzwerks zu lösen. Williams hat sich bei der Beschreibung des epischen Konflikts sehr viel Zeit genommen und die Schlacht tobt über Dutzende Seiten hinweg. Orlando muss in der Gestalt des Achilles Hektor bezwingen. Und auch alle anderen Protagonisten müssen sich buchstäblich durchschlagen. Meines Erachtens wäre weniger vielleicht mehr gewesen, da Williams seitenweise ein nicht enden wollendes Gemetzel beschreibt. Bei all dem versuchen die Gefährten immer noch, dem Geheimnis der Gralsbruderschhaft auf die Spur zu kommen.

Im Herzen des Netzwerks bereiten sich Felix Jongleur und die anderen Mitglieder der Gralsbruderschaft unterdessen darauf vor, ihren Plan endlich zur Vollendung zu bringen. 

Williams wartet, wie in den vorangegangen zwei Bänden, mit vielschichtigen Handlungssträngen und etlichen Spannungssteigerungen auf, deren fulminanter Höhepunkt die Konfrontation zwischen der Gralsbruderschaft und den Gefährten rund um Renie Sulaweyo darstellen könnte, wenn nicht… ja wenn nicht Williams dem zu erwartenden Höhepunkt mit einer für den Leser mehr oder weniger überraschenden Wendung der Handlung eine völlig neue Richtung geben würde. Allerdings sollte der Leser in Band 3 ja eigentlich nur überrascht sein, wenn es keine überraschende Wendung  mehr geben sollte.

Williams gelingt es vor allem, endlich mehr Spannung zu erzeugen als in den vorangegangen beiden Bänden. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass der Autor fast alle Handlungsstränge in Richtung Höhepunkt ausrichtet. Dadurch hatte ich – ganz subjektiv – den Eindruck, dass die Geschichte gradliniger verläuft.

Das heißt nicht, dass der Autor dabei seinem Schema, die einzelnen Kapitel jeweils mit einem Cliffhänger abzuschließen und die Handlung erst einige Kapitel später wieder aufnehmen, abweicht. Die einzelnen Erzählstränge steigern die Grundspannung des Romans jeder für sich genommen. So war ich jedes Mal gespannt, welchen Handlungsfaden das folgende Kapitel aufnimmt, ohne mich darüber zu ärgern, dass die Handlung nicht im gleichen Strang wie im letzten Kapitel fortgeführt wird.

Das liegt vermutlich daran, dass die Akteure nicht ganz so ziellos im virtuellen wie im realen Raum herumstolpern, wie es noch in Band 1 und 2 der Fall war. Dummerweise erwecken die Protagonisten in mir allerdings auch jetzt nicht den Eindruck, dass sie wirklich wissen was sie tun. So jagen sie dem Mörder Dread hinterher, ohne zu wissen, was sie mit ihm anstellen sollen, wenn sie ihn gefunden haben.

Williams selbst bemüht den klassischen Deus ex Machina in Form einer mysteriösen Frauengestalt, die den Protagonisten immer wieder erscheint, bis zum Erbrechen. Jedes Mal, wenn die Helden in der Klemme stecken und nicht mehr weiter wissen, ist es Zeit für einen kryptischen Hinweis der Frauengestalt. Nur selten gelingt es den Personen, wirklichen Fortschritt ohne fremde Hilfe zu erreichen.

Ein wenig enttäuschend fand ich den Auftritt der Gralsbruderschaft, deren Mitglieder vor dem Erreichen ihres großen Zieles Zweifel plagen – allerdings geht es hier nicht um Moral, sondern um persönliche Sicherheit. Die Ziele der Gralsbruderschaft – dem Leser bereits bekannt seit dem Klappentext in „Stadt der Goldenen Schatten“ – werden in regelrechter Pulpmanier ausgebreitet. Dabei stellt Williams einen Großteil der Gralsbruderschaft als unwissende Ignoranten dar, die Unsummen verschleudern, ohne den Sinn oder das Wesen ihres eigenen Projektes zu erfassen. Von den Bösewichtern hätte ich mir mehr erwartet.

Die Persönlichkeiten der einzelnen Akteure werden zwar sporadisch im Lauf der Handlung vertieft, jedoch haben die vorgestellten Ausflüge in das „reale“ Leben der Personen so gut wie gar keinen Einfluss auf die Geschehnisse im Netzwerk. Und so bekommt man nur einige Hintergrundinformationen zu weniger prominenten Akteuren.

Wie auch schon in den beiden ersten Bänden sind den einzelnen Kapiteln Netfeeds, Meldungen und Nachrichten, die dem Leser einen Blick auf das Leben im 21. Jahrhundert gewähren sollen, vorangestellt. Immer häufiger spiegeln diese Netfeeds dann auch die Wirkungen der Ereignisse im Netzwerk im „echten“ Leben wieder.
 
Der Zyklus wird mit dem Slogan beworben, der „Herr der Ringe“ des 21. Jahrhunderts zu sein. Hier vergleicht man allerdings Äpfel mit Birnen: Williams braucht zwar den Vergleich mit Tolkiens Werk in Ausmaß der erzählten Geschichte und Umfang der Komplexität nicht zu scheuen. Aber mehr als ein paar rudimentäre Gemeinsamkeiten teilen die beiden Zyklen nicht. Die Sprache, der sich Tad Williams bedient, wäre indes eines Tolkien in jedem Falle würdig. Sein Sprachgebrauch ist opulent und schöpft auch in der Übersetzung aus dem Vollen.

Fazit: Tad Williams setzt mit „Berg aus schwarzem Glas“ seine Tetralogie rund um das virtuelle Otherland-Netzwerk fort. Im Vergleich zu den vorangegangenen beiden Bänden wächst er über sich hinaus und versteht es gekonnt, die Spannung kontinuierlich bis zum dramatischen Höhepunkt zu steigern, was allerdings die Frage aufwirft, ob es ihm gelingt, dies im vierten Band noch zu übertreffen. Für Williams-Fans und Freunde komplexer Romanuniversen ein absolutes Muss (besonders zu dem Preis), Gelegenheitsleser sollten sich vorher fragen, ob sie den Mut und das Durchhaltevermögen für dieses Mammutwerk haben.


Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Science-Fiction-Roman
Tad Williams
Heyne 2007
ISBN: 978-3-453-53217-5
909 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,95

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