Otherland 2: Fluss aus blauem Feuer

Tad Williams setzt mit „Fluss aus blauem Feuer“ seine Tetralogie rund um das virtuelle Otherland-Netzwerk fort. Dabei versteht er es, den Leser auf einen komplexen, aberwitzigen Trip zu schicken, der zwar wegen seiner Komplexität nur unterschwellig Spannung aufbauen kann, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb zum ständigen Weiterlesen animiert.

von Andreas Loos

Mit „Fluss aus blauem Feuer“ setzt Tad Williams seinen vierteiligen Zyklus um das Otherland-Netzwerk fort, den er mit „Stadt der goldenen Schatten“ angefangen hat. Williams knüpft unmittelbar an das Vorangegangene an und führt die Erzählstränge nahtlos fort. Diejenigen, die sich daran machen, „Fluss aus blauem Feuer“ zu lesen, ohne den ersten Band zu kennen, werden trotz der an den Anfang des Buches gestellten, ausführlichen Zusammenfassung einige Schwierigkeiten haben, sich in die für Williams typische, komplexe Erzählstruktur einzufinden. Die Vorgeschichte der meisten Protagonisten und deren Motivationen finden sich im ersten Band und werden hier größtenteils nur noch beiläufig erwähnt.

Zum Inhalt
 
Die bunt zusammen gewürfelte Gruppe, bestehend aus der Südafrikanerin Renie Sulaweyo, einer Dozentin für virtuelle Realitäten, und ihrem Buschmann-Schüler !Xabbu, dem todkranken Jungen Orlando Gardiner und seinem Freund Sam Fredericks, der eigentlich Salome heißt und ein Mädchen ist, der blinden Netzrechercheurin Martine Desroubins, dem mysteriösen Sweet William, der greisen Quan Li, dem großmäuligen Teenager/Androiden T4b und der abweisenden deutschen Ärztin Florimel, ist auf der Suche nach Antworten auf eine seltsame Krankheit, die weltweit Kinder ins Koma fallen lässt und die irgendwie im Zusammenhang mit dem gigantischen virtuellen Otherland-Netzwerk zu stehen scheint, selbst in das Netzwerk eingedrungen. Zuletzt traf sie dort in der Simulation des schwerreichen Südamerikaners Atasco auf den undurchschaubaren Herrn Sellars, der sie in das Netzwerk gelockt hatte, um mit beider Hilfe das Rätsel um das Otherland-Netzwerk und die Gralsbruderschaft, eine Gruppe ungeheuer reicher und mächtiger Leute, die das Netzwerk bauen ließen, zu lösen. Das Netzwerk selbst birgt jede Menge Überraschungen: So können die Protagonisten das Netzwerk nicht verlassen und in die Realität zurückkehren.

Während ihres Treffens bei Atasco wird dieser in der Realität getötet und Dread, der psychopatische veranlagte Handlanger von Felix Jongleur, dem Vorsitzenden der Gralsbruderschaft, der den Mord in dessen Auftrag beging, mischt sich unerkannt unter die Gruppe um Renie Sulaweyo, um diese zu begleiten. Dread hofft, auf diese Weise selbst hinter die Geheimnisse des Netzwerkes zu kommen und seinen Auftraggeber vom Thron zu stoßen.

Die Gruppe wechselt in die Insektenwelt des Asiaten Kunohara und wird dort schon bald wieder getrennt. Williams nimmt dabei weitgehend seine alten Erzählfäden wieder auf, so werden Orlando und Fredericks in eine Cartoonküche versetzt, in der sie mit lebendigen Küchenutensilien und vitalem Gemüse konfrontiert werden. Renie und !Xabbu finden sich dagegen in einer verkorksten Simulation wieder, einer Mischung aus einem ländlichen  Kansas und einem postapokalyptischen Zauberland Oz. Die anderen Mitglieder der Gruppe erfahren im weiteren Verlauf des zweiten Bandes nur wenig weitere Zuwendung. Lediglich die von Martine als Tagebucheinträge eingeschobenen Kapitel geben Auskunft über den Werdegang der restlichen Gruppe und vor allem Martines persönlichem Hintergrund.

Ein weiterer Protagonist, Paul Jonas, der ehemalige Gefangene der Gralsbruderschaft, setzt derweil seine eigene, einsame Odyssee durch das Netzwerk fort und streift durch weitere, fantastische Welten. So stattet er zum Beispiel einer Simulation von Xanadu einen Besuch ab, um dann in ein Venedig der Renaissance zu gelangen, in dem derzeit der Karneval stattfindet.

Williams bedient sich bei den Vorlagen für die Simulationen in seiner Erzählung mit Vorliebe bekannten Klassikern, die er nach Belieben regelrecht pervertiert – so wandert Paul Jonas auch durch ein von Marsianern besetztes London frei nach dem Roman „Krieg der Welten“ von H. G. Wells. Auch absolute Klassiker, wie die „Odyssee“ aus der Feder von Homer, finden in der Gestalt einer Simulation des sagenhaften Ithakas, der Heimat von Odysseus, Eingang in Williams Roman.

Der Schwerpunkt liegt bei „Fluss aus blauem Feuer“ eindeutig auf den Geschehnissen im virtuellen Netzwerk. Die Realität tritt weitgehend in den Hintergrund. Dennoch widmet Williams einige seiner Erzählfäden den Ereignissen außerhalb des Netzes. So wird Decatur Ramsey, ein Rechtsanwalt, von den Eltern von Fredericks beauftragt, den Hintergründen des Zustands ihrer Tochter nachzugehen, und lernt dabei Beezle Bug kennen, Orlandos Netz-Agenten, eine Art Künstliche Intelligenz, sowie Olga Pirofski, die für die Kindersendung Onkel Jingle (in etwa vergleichbar mit Barney dem Dinosaurier – also das nackte Grauen aller Eltern von Kindern im Vorschulalter) arbeitet. Diese leidet an Kopfschmerzen und glaubt, dass dies mit dem Netz zu tun hat.

Das kleine Mädchen Christabel hingegen hat Angst um Herrn Sellars, der sich in den Tunneln des Armeestützpunktes versteckt, und zu dessen Flucht sie in „Stadt der goldenen Schatten“ beigetragen hat, außerdem fürchtet sie sich vor ChoCho, einem Straßenjungen, der bei Herrn Sellars untergetaucht ist. In Südafrika verlässt der Vater von Renie Sulaweyo indes eigenmächtig den aufgegebenen Militärstützpunkt, in dem sich der Körper seiner Tochter befindet, und macht sich auf, seinen kranken Sohn Stephen zu besuchen. Am Krankenhaus angekommen wird er von Unbekannten entführt.

Innerhalb der Gralsbruderschaft sieht sich Felix Jongleur, der älteste und reichste Mann der Welt und Vorsitzende dieser Gruppierung, weiteren Intrigen der anderen Gralsbruderschaftsmitglieder ausgesetzt. Zum Abschluss widmet Williams den beiden australischen Polizisten Calliope Skourops und Stanley Chan einen Handlungsstrang, die einem alten Mordfall auf der Spur sind.

Damit ist der Inhalt zumindest ansatzweise abgedeckt, ohne wirklich etwas zu verraten. Verwirrend nicht wahr?

Genau diesen Eindruck hatte ich auch, und jeder, der versucht quereinzusteigen oder der das Buch nicht binnen kurzer Zeit liest, wird sich sehr schwer tun, die Handlung mitzuverfolgen.

Besonderen Spaß hat es mir gemacht, zu raten, hinter wem sich der irre Killer Dread verbirgt. Allerdings macht es der Autor mit seinem ausgeprägten Faible für dramatische (und vor allem sehr plötzliche), überraschende Wendungen nicht leicht. So tappte ich wie auch die Protagonisten bis zum Ende des Buches im Dunkeln, um dann doch meinen ersten Verdacht bestätigt zu bekommen.

Der Autor erhebt für seinen gesamten Romanzyklus den Anspruch, den „Der Herr der Ringe“-Zyklus des 21. Jahrhunderts geschrieben zu haben. Was das Ausmaß der erzählten Geschichte, die an Umfang und Ausgefeiltheit kaum zu überbieten ist, angeht, so kann er sich durchaus mit Tolkien messen. Williams geht bei „Otherland“ jedoch noch einen Schritt weiter, indem er den Antagonisten, seien es nun die Mitglieder der Gralsbruderschaft oder auch Dread, Gesichter, Motivationen, Hintergründe und vor allem eigene Ängste gibt.

Eindrucksvoll lässt Williams den Leser einen Blick in die Gedankenwelt und die persönliche Geschichte von Felix Jongleur werfen. Die Ängste und Sorgen von jemanden, dessen physischer Körper bei aller ärztlicher Kunst sich im Zustand fortschreitender Auflösung befindet, sind schon sehr interessant. Auch ansonsten verdüstert sich die Grundstimmung im Vergleich zum ersten Band zusehends. Heitere Momente, werden zunehmend seltener. Tad Williams hat definitiv nicht den „Herrn der Ringe“ des 21. Jahrhunderts geschrieben, denn dieser verläuft im Gegenzug zu dem „Otherland“-Zyklus geradezu gradlinig.

Die Komplexität schadet dann zuletzt auch etwas dem Spannungsbogen, da Williams zwar jedes einzelne Kapitel mit einem Cliffhänger abschließt, die Handlung aber erst einige Kapitel später wieder aufnimmt. Bis dahin ist die aufgebaute Spannung bereits größtenteils verpufft. So bleibt nur eine Art Grundspannung übrig. An seinem opulenten Sprachgebrauch hat sich ebenfalls nichts geändert. Wie auch schon im ersten Band, finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels so genannte Netfeeds, Meldungen und Nachrichten, die dem Leser einen Blick auf das Leben im 21. Jahrhundert gewähren. Einige dieser Netfeeds geben dann auch die Wirkungen der Ereignisse im Netzwerk im echten Leben wieder.

Fazit: Tad Williams setzt mit „Fluss aus blauem Feuer“ seine Tetralogie rund um das virtuelle Otherland-Netzwerk fort. Dabei versteht er es, den Leser auf einen komplexen, aberwitzigen Trip zu schicken, der zwar wegen seiner vielen Handlungsstränge nur unterschwellig Spannung aufbauen kann, aber dennoch zum Weiterlesen animiert. Für Williams-Fans und Freunde komplexer Romanuniversen ein absolutes Muss, (besonders zu dem Preis), Gelegenheitsleser sollten sich vorher fragen, ob sie den Mut und das Durchhaltevermögen für dieses Mammutwerk haben.


Otherland 2: Fluss aus blauem Feuer
Science-Fiction-Roman
Tad Williams
Heyne 2006
ISBN: 3453532163
861 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,95

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