Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Tad Williams erhebt den Anspruch, mit seiner „Otherland“-Tetralogie den „Herrn der Ringe“ des 21. Jahrhunderts erschaffen zu haben. Im ersten Band, „Stadt der goldenen Schatten“, bereitet er den Boden für eine phantastische Reise in virtuelle Welten, das Otherland-Netzwerk. Hier herrscht ein böser Geheimbund namens Gralsbruderschaft, dessen erklärtes Ziel hier nicht verraten wird …

von  Andreas Loos

Die Aufmachung

„Stadt der goldenen Schatten“ ist erste Buch in Tad Williams „Otherland“-Tetralogie, umfasst 990 Seiten und ist aufgeteilt in vier Teile mit insgesamt 39 Kapiteln. Der Einband ist für ein Taschenbuch typisch dünn geraten. Auf dem Einband selbst prangt die besagte goldene Stadt – eine Mischung aus Illuminatenpyramide und Fritz Langs „Metropolis“ verbunden mit einigen lateinamerikanischen Ornamenten.

Zum Inhalt

„Otherland“ spielt am Ende des 21. Jahrhunderts, hier ist die virtuelle Realität zum Alltag geworden. Otherland selbst ist das fortschrittlichste und komplexeste Virtual-Reality-Netzwerk überhaupt und im Besitz eines Geheimbundes ungeheuer mächtiger Personen, der sich Gralsbruderschaft nennt. Die wahren Ziele der Bruderschaft und der Zweck des Otherland-Netzwerks bleiben im Verborgenen, der Buchrücken gibt an, dass das letztendliche Ziel der Bruderschaft die [zensiert] ;-) sei. (Womit mir irgendwie der Spaß am Buch genommen wurde, da Tad Williams gerade das Ziel der Bruderschaft als das ganz große Geheimnis darstellt.)

Die Protagonisten werden im Verlauf der einzelnen Erzählstränge immer tiefer in Machenschaften der Gralsbruderschaft verstrickt. Durch Neugier angelockt, oder auf der Suche nach Antworten auf eine seltsame Krankheit, die Kinder ins Koma fallen lässt, schickt Williams seine Figuren in das Netzwerk mit seinen zahllosen „Spielwelten“ und Simulationen. Gegen Ende zeigt sich, dass das Otherland-Netzwerk nicht gewillt ist, sie wieder in die Realität zu entlassen, und die Protagonisten sehen sich gezwungen, auf einer Odyssee durch das Netzwerk einen Weg zurück in die Realität zu suchen.

Einer der Haupstränge dreht sich um die südafrikanische Computerspezialistin Renie Sulaweyo, die als  eine Art Ersatzmutter für ihren kleinen Bruder Stephen agieren und die Launen ihres ständig betrunkenen Vaters Long Joseph ertragen muss. Als ihr Bruder während eines Netztrips ins Koma fällt, macht sie sich gemeinsam mit ihrem begabtesten Schüler und Freund !Xabbu, einem Buschmann aus der Kalahari, daran, die Ursachen dafür zu ergründen. Sehr bald wird klar, dass einigen Leuten das Geheimnis um Stephens Zustand so wichtig ist, dass sie auch vor Mord nicht zurückschrecken. Die blinde Rechercheurin Martine Desroubins hilft den beiden auf die Spur der goldenen Stadt und in das Otherland-Netzwerk zu kommen.

Auch der Junge Orlando Gardiner fühlt sich von dem hyperrealistischen Bild der goldenen Stadt magisch angezogen, als diese ihm in einem virtuellen Rollenspiel namens „Mittland“ erscheint. In der Tat ist er so fasziniert, dass Orlandos Spielfigur, der Barbar Thargor prompt von einem Zombie erschlagen wird. Der todkranke Orlando versucht mit Hilfe seines Freundes Fredericks, der als Dieb Pithlit die Rollenspielsimulation durchstreift, und seines käferförmigen Computeragenten Beezle die goldene Stadt zu finden. Dabei müssen beide Jungen feststellen, dass sie voreinander nicht unerhebliche Geheimnisse haben.

Das Leben von Paul Jonas ist vor allem ihm selbst ein einziges Rätsel. Irgendwo in den Gräben des ersten Weltkriegs vegetiert der englische Soldat vor sich hin, zwischen wachen Augenblicken und wahnsinnigen Träumen ist sein Name das einzige, an das er sich wie ein Ertrinkender klammert. Zunehmend hat er surreale Erlebnisse, die darin gipfeln, dass er desertiert und, verfolgt von seinen einstigen Kameraden Mullet und Finch, von einem phantastischen Ort zum nächsten wandert – stets auf der Suche nach einer Antwort auf seine Existenz und die seiner phantastischen Umwelt. So findet er sich zum Beispiel auf einem Mars wieder, der ein wenig an den Hintergrund des viktorianisch angehauchten Rollenspiels „SPACE 1889“ von Frank Chadwik erinnert (der Mars wird vom britischen Empire im 19. Jahrhundert erobert und kolonialisiert).

Das kleine Mädchen Christabel hingegen plagen solche Gedanken nicht. Ihr Leben ist auf einen Militärstützpunkt und ihre Familie, Freunde und den netten Herrn Sellars beschränkt. Williams gelingt es gut sich und auch damit den Leser in das kleine Kind hineinzuversetzen, als der seltsame aber freundliche Herr Sellars, der ihr immer Märchen erzählt, sie bittet, ihm ein paar Gefallen zu tun, die dazu führen, dass die kleine Christabel dem alten im Rollstuhl sitzenden Mann bei einer waghalsigen Aktion hilft. Sie ist daraufhin sichtlich verstört, begreift jedoch nicht die Tragweite ihres Handelns.

Viel besser Bescheid wissen natürlich die Bösewichte, allen voran Felix Jongleur, ein steinalter und schwerreicher Industrie-Magnat. Als Vorsitzender der Gralsbruderschaft lässt er seine Mitverschwörer in einer Simulation erscheinen, in der er als ägyptischer Gott Osiris und seine Mitstreiter als ägyptische Götter auftreten. Dort sieht er sich den (all)täglichen Intrigen ausgesetzt, mit der jemand in seiner Position rechnen muss. Fast alle Mitglieder der Gralsbruderschaft versuchen auf die eine oder andere Weise an seinem Stuhl zu sägen.

Sein Auftragskiller Dread hingegen bekommt im Verlauf des ihm gewidmeten Handlungsstrangs mehr als genug Gelegenheiten, seinen psychophatischen Neigungen freien Lauf zulassen und seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen – Frauen zu ermorden. Jongleur lässt ihm dabei viel Spielraum, solange er bei den ihm zugewiesenen Aufgaben Resultate bringt und den „alten Mann“ nicht kompromittiert.

„Stadt der goldenen Schatten“ ist eigentlich nur die Exposition der Geschichte. Das eigentliche Abenteuer der Protagonisten beginnt im letzten Kapitel. Alles davor ist praktisch nur Vorgeschichte. Tad Williams kommt dabei leider nur sehr langsam vorwärts. Zwar gewinnen seine Personen dadurch an Tiefe, die eigentliche Handlung und der Spannungsbogen leiden allerdings darunter. Zwar enden fast alle Kapitel mit einem Cliffhänger, jedoch wird der Faden meistens erst zwei Kapitel später wieder aufgenommen, sodass einfach keine dauerhafte Spannung aufkommen will.

Es ist kein Cyberpunk, Jim

Mit seinem erklärten Ziel, den „Herrn der Ringe“ des 21. Jahrhunderts zu schreiben, hat sich Williams möglicherweise selbst ein Bein gestellt. Er setzt am Ende der neunköpfigen übermächtigen Gralsbruderschaft eine bunt zusammengemischte neunköpfige Gruppe entgegen. Beide Gruppierungen sind bemüht, Paul Jonas ausfindig zu machen, der sich im Otherland-Netzwerk verborgen hält (als lebendiger Ring sozusagen).

Wenn man an andere Romane denkt, welche im 21. Jahrhundert spielen, so bleibt meistens vor allem der Begriff Cyberpunk im Gedächtnis haften, die Personen dort haben in der Regel keine weiße Weste und sind auch ansonsten nur selten mit Skrupeln behaftet. Bei Williams ist es klar umrissen: Die Gralsbruderschaft, das sind die Bösen und es wird auch keine Gelegenheit ausgelassen, die Niederträchtigkeit und Skrupellosigkeit dieser Leute unter Beweis zu stellen. Die Guten dagegen hegen moralische Bedenken, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen. Alles läuft dabei auf eine klassische Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere hinaus.

Auch ansonsten scheint sich in der Welt nicht viel Revolutionäres getan zu haben. Die UNO spielt eine größere Rolle auf der politischen Bühne, als sie es heute tut, eine neue, hoch ansteckende Seuche sucht den schwarzen Kontinent heim – je mehr sich die Dinge ändern, um so mehr scheint alles beim Alten zu bleiben. Cyberware – bis auf die direkte Möglichkeit, sich über implantierte Verbindungen in die Virtuelle Realität einzuloggen – Fehlanzeige. Positiv fielen mir die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Nachrichten auf, die meist nichts direkt mit der Geschichte zu tun haben. Die als „Netfeed“ bezeichneten Einspielungen geben einen kleinen Einblick auf das ausgehende 21. Jahrhundert.

Williams selbst erklärtes Ziel, mit der „Otherland“-Teralogie, das Sci-Fi-Pendant zu Tolkiens „Herrn der Ringe“ zu schaffen, hätte er sich sparen können. Meiner Meinung nach erweckt er damit zum einen nur den Eindruck, auf der allgemeinen „Herr der Ringe“-Welle mitzuschwimmen, um den Absatz etwas zu steigern. Andererseits hat er es nicht nötig, sich mit dem „Herrn der Ringe“ zu messen. Es sind schließlich zwei paar Schuhe, ob man ein Fantasy-Epos oder eine phantastische Geschichte aus der nahen Zukunft liest. Dem einen haftet etwas Märchenhaftes an, dem anderen dieses unbestimmte „es-könnte-vielleicht-einmal-wirklich-so-kommen-Gefühl“, das einem zu denken gibt.

Trotz aller Kritik im Einzelnen, vor allem hinsichtlich der zeitweiligen Langatmigkeit der Geschichte, hat mir „Stadt der goldenen Schatten“ gut gefallen. Williams schreibt wortgewandt und sehr ausladend. Mir persönlich sagt dieser Stil zu, die Umgangssprache der Jugendlichen mal ausgenommen. Bei der Übersetzung der dortigen Begriffe hat Hans-Ulrich Möhring anscheinend sein Faible für Umlaute voll ausgelebt: Wie sonst ließen sich Worte wie „scännig“ oder „späcig“ erklären.

Fazit: Ein virtuelles Netzwerk  namens Otherland, gefüllt mit zahllosen phantastischen Welten, kontrolliert von einer zwielichtigen Geheimorganisation, die eine abscheuliche Intrige betriebt, ein paar „Underdogs“, die sich gegen die Bösen stellen: Das sind im Wesentlichen die Bestandteile von „Stadt der goldenen Schatten“, dem ersten Band von Tad Williams „Otherland“-Tetralogie. Es ist nicht wirklich der versprochene „Herr der Ringe des 21.Jahrhunderts“, aber ein gut gemachter Zukunftsroman, der sich vor allem durch eine komplexe Struktur mit mehreren Erzählfäden auszeichnet. Die Komplexität sorgt leider im Gegenzug dafür, dass nur selten wirklich dauerhafte Spannung aufkommt. Alles in allem ist der Roman aber in jedem Fall sein Geld wert.


Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Science-Fiction-Roman
Tad Williams
Heyne 2005
ISBN: 3-453-53075-6
992 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,95

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