Ordo Dracul

Der „Ordo Dracul“ ist sicher der ominöseste Bund der Vampirgesellschaft. Gegründet von dem berüchtigten Vlad Tepes – besser bekannt als Graf Dracula –, dem Vampir der von Gott selbst mit dem Fluch des Untotendaseins geschlagen wurde, strebt der Bund nicht nach politischer oder religiöser Dominanz über die Kainskinder wie all die anderen Bünde, sondern hat sich ganz der Erforschung des geheimen Wissens verschrieben. Das vorliegende Quellenbuch weiht angehende Ordensmitglieder in die Philosophie des Drachen ein.

von Bernd Perplies

Die neue Welt der Dunkelheit kennt nicht nur fünf große Vampirclans, an die Stelle der einstigen Camarilla sind zudem fünf große Bünde (engl. Covenants) getreten: der politisch konservative Invictus und ihre progressiven Herausforderer des Carthian Movements, die christlichen Glaubenswächter des Lancea Sanctum und ihre heidnischen ‚Gegenspieler‘ des Circle of the Crone und schließlich der viktorianisch angehauchte Ordo Dracul, der einer pseudo-wissenschaftlichen Geheimgesellschaft gleich stets ein wenig abseits vom Machtgeplänkel stand und steht und sich bevorzugt für die letzten Mysterien der Welt im Allgemeinen und des Vampirdaseins im Besonderen interessiert – womit dessen Mitglieder gewissermaßen im Gebiet der Magi wildern.

Jedem dieser Bünde ist ein eigenes Quellenbuch gewidmet, das im Detail das Leben und Wirken innerhalb desselben, seine Hierarchien, Traditionen und Riten beschreibt. Der Band zum Ordo Dracul erscheint als 229-seitiger Hardcoverband. Das Coverbild zeigt einen Vampir im klassischsten Sinne, der sich über eine bleiche Schönheit hermacht. Es mag ein bisschen an Christopher Lee und die Blutsauger-B-Movies der britischen Hammer-Studios erinnern, doch meines Erachtens passt es vortrefflich zum Ordo Dracul, dessen Gründer Dracula immerhin als Urvater des popkulturellen Pulp-Geschöpfes namens Vampir gilt. Es verströmt ein herrliches Vampire-by-Gaslight-Feeling und verweist damit auch auf die vielleicht erfolgreichste (und turbulenteste) Phase der Ordensgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Inhaltlich besteht das Buch aus einer einführenden Kurzgeschichte, einer Einleitung, fünf Kapiteln und einem Anhang. Die Geschichte, die uns wie in jedem Quellenbuch in Stimmung bringen soll, erzählt von der Suche eines jungen Supplicant nach Wahrheit – und der Erfahrung, dass manche Geheimnisse einen hohen Preis haben. Die Einleitung ist diesmal etwas länger ausgefallen, was vor allem damit zu tun hat, dass neben Thema und Stimmung des Buches sowie dem in der komplexen Welt der Dunkelheit unerlässlichen Glossar einige Aufmerksamkeit dem komplizierten Titel- und Rangsystem innerhalb des Ordo Dracul geschenkt wird. Für Spieler wird es ein Grausen sein, sich Titel wie „Philosopher of the Burning Terror, Sworn of the Dying Light, Guardian of the Mountain“ merken zu müssen, die weiß Gott nicht nur Show sind, sondern wertvolle Informationen über das Gegenüber enthüllen. Aber cool ist es auf jeden Fall!

Das erste Kapitel „A History of the Ordo Dracul“ beschäftigt sich – nomen est omen – mit der globalen Geschichte des Ordens, seiner Entstehung im 15. Jahrhundert, den 300 Jahren, die durch innere Probleme ‚vergeudet‘ wurden, dann dem Aufblühen im 18. und 19. Jahrhundert unter dem Vorbild der Freimaurer und schließlich dem „Fall Bram Stoker“, der den Orden innerhalb der Vampirgesellschaft mit Macht in Erinnerung rief und mehr oder minder zu seinem heutigen Status führte. Der Überblick bleibt indes grob, geht in wenige landesspezifische Details und stellt überhaupt keine Einzelpersonen (von Dracula selbst und seinen drei Bräuten abgesehen) in den Mittelpunkt.

Danach richtet sich der Blick im zweiten Kapitel „Unlife in the Ordo Dracul“ ins Innere des Bundes. Es wird die Philosophie der Veränderung vorgestellt, die innerhalb des Ordens höchsten Stellenwert hat, wie auch die konkrete Anwendung dieser ‚Lebenseinstellung‘ dargelegt. Die vielleicht größte Veränderung, welche die Drachen anstreben, ist die Überwindung des Fluches ihrer eigenen Existenz. All ihr Streben richtet sich auf dieses Große Werk, das nicht nur eine Erlösung von vampirischen Schwächen wie dem Hunger oder Rötschreck verspricht, sondern auch spirituelles Wachstum zur Folge hat. (Unnötig zu sagen, dass noch kein Drache dieses Wunder der Transzendenz erreicht hat.) Neben besagten Aspekten widmet sich das Kapitel unter anderem ausführlich der Suche der Ordensmitglieder nach so genannten „Wyrm’s Nests“, Orten magischer Kraft, dem Konzept der „Coils of the Dragon“, der Ordenshierarchie und ihren drei Schwurgemeinschaften sowie den Beziehungen zu den anderen Bünden. Großartig im Detail erlaubt dieses Kapitel – für mich der Kern des ganzen Buches – einen tiefen Einblick in die Welt der Vampire vom Ordo Dracul.

In Kapitel drei „Ordo Dracul and the Danse Macabre“ dreht sich alles um die Entwicklung und den Aufstieg eines jungen Ordensmitglieds innerhalb der sehr hierarchischen Struktur des Bundes. Der erste Teil, die so genannten „Paths of Fate“, haben dabei ziemlich Kuriositätswert, denn es handelt sich um einen Persönlichkeitstest, der mittels Entscheidungsfragen Vice and Virtue eines Vampirs zu ermitteln sucht, die wiederum in Kombination mit einer spezifischen Tarotkarte korrespondieren, welche dem Ordensaspiranten seine Zukunft innerhalb des Ordo Dracul darlegt. Ein sehr ausgefallener ‚Spielmechanismus‘, der Charakteren ein paar interessante Einblicke in ihr Inneres gewährt (und Spielern ein besseres Gefühl für ihre Rollen geben mag). Im Anschluss daran werden die Etikette innerhalb des Ordens diskutiert, wie etwa Dispute geregelt werden und welche Rechte und Pflichten Mitglieder in verschiedenen Stufen der Hierarchie besitzen.

„Factions and Bloodlines“ stellt das vierte Kapitel vor. Als wäre die Welt der Dunkelheit nicht so schon komplex genug, existieren neben der Kernbewegung des Ordo Dracul noch zahlreiche Ableger. Zunächst jedoch werden einige „Schools of Methodology“ beschrieben, also Wege, sich innerhalb der Philosophie des Ordo Dracul dem Großen Werk zu nähern. Das können sowohl alchimistische Methoden sein als auch die moderne Wissenschaft oder Parapsychologie. An Fraktionen, die teils sehr eigene Nischen innerhalb des Systems besetzen, finden sich etwa „The Impaled“, die in einer religiös verbrämten Opfer/Täter-Verehrung ihre Weltanschauung rum um das Pfählen (ihrer selbst) aufbauen. Die „Sworn of the Ladder“ sind derweil eine geheime Untergruppierung, die sich einem extremen Moralkodex unterwerfen, um durch selbstloses Handeln Gottes Vergebung und die Aufhebung des Vampirfluches zu verdienen. (Kein Wunder, dass sie damit nicht viele Freunde innerhalb der Kindred haben.) Mehrere neue Bloodlines schließen das Kapitel ab, wobei ich persönlich die Azerkatil am coolsten finde, einst Assassinen des osmanischen Reiches, geschaffen, um die Brut Draculas als „Drachenjäger“ zu verfolgen und zu vernichten, heute ein Teil des Ordo Dracul, nachdem der Lauf der Jahrhunderte ihre Mission nach und nach hat obsolet werden lassen.

Das letzte Kapitel „Coils and Miscellanea of the Blood“ bietet eine ganze Reihe neuer Kräfte und Rituale für Anhänger des Ordo Dracul. Ganz nett sind die spezialisierten Disciplines, die Angehörige der neuen Bloodlines erlernen können, darunter der Umgang mit Geistern für die Dragolescu oder Kräfte des Kampfes und der Jagd für die Azerkatil. Viele weitere Möglichkeiten, einen Anhänger des Ordo Dracul auszuschmücken und zu boosten werden mit den nachfolgenden Devotions, Merits, Blutmagieritualen und Wyrm’s Nest Rituals angeboten (wobei die vereinzelten Rituale jedoch eher beispielhaft sind als das Thema umfassend behandeln).

Last but not least findet sich im Anhang eine Galerie unterschiedlichster „Allies and Antagonists“, die im gesamten Spektrum an Ordensmitgliedern angesiedelt sind. Witzigerweise werden am Schluss noch drei veritable Anwärter auf den Mythos Dracula vorgestellt, die sich durch ihr Auftreten und ihre Fähigkeiten so weit aus der Menge an Scharlatanen und Aufschneidern herausheben, dass man nicht mit Sicherheit zu verneinen vermag, dass einer von ihnen tatsächlich der legendäre Graf aus Transsylvanien ist. (Die Spielwerte obliegen der Fantasie des Erzählers. ;-) )

Fazit: Das Quellenbuch über den „Ordo Dracul“ ist eine hervorragende Informationsquelle für Spieler und Spielleiter, die sich näher mit den Anhängern dieses Bundes befassen wollen – sei es als Protagonisten oder Antagonisten einer Chronik. Auch wenn mir der Orden auf eine Weise kompliziert erscheint, die mich sofort in die Arme des Carthian Movements eilen lässt, halte ich den Band für das bislang beste Zusatzbuch zum Campaign Setting, und würde ich eine Einkaufsliste an WoD-Büchern zusammenstellen, es käme direkt auf Platz zwei hinter „Vampire: The Requiem“ selbst. Doch nicht nur vom Inhalt her gefällt das Buch, auch die überwiegend sehr gelungenen Zeichnungen möchte ich mal loben. Vor allem Jean-Sebastien Rossbach steuert eine Reihe genialer Charakterporträts bei und Aleki Briclot fängt wie kein Zweiter die Welt der Dunkelheit in stimmungsvoller Düsterkeit ein.


Ordo Dracul
Quellenbuch
Matt McFarland, Will Hindmarch, Christopher Kobar, Greg Stolze
White Wolf 2005
ISBN: 1-58846-257-9
229 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 31,99

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