Nomads

Eigentlich sind Vampire Stadtmenschen – je größer die Stadt, desto besser. Diese Ballungen menschlicher Zivilisation weisen zahlreiche Vorzüge auf: dunkle Gassen zum Jagen, gesellschaftliche Randgruppen als Beute, Häuser, Keller, Kanalisationen zum Schlafen und ein komplexes Sozialgeflecht der Kainskinder, das für Kurzweil im scheinbar endlosen Requiem sorgt. Doch es gibt Blutsauger, die hinaus in die Wildnis gehen, in das gefährliche ‚Niemandsland‘ zwischen den Metropolen. Ihre Gründe sind unterschiedlich, alles, was man über sie wissen sollte, findet man im Quellenbuch „Nomads“.

von Frank Stein

 

On the Road Again...

„Nomads“ ist ein 128 Seiten zählender Hardcover-Quellenband zum Campaign Setting „Vampire: The Requiem“ der neuen „World of Darkness“. Die äußeren Werte überzeugen auf Anhieb. Das von Brom gezeichnete Cover mit dem leichenblassen ‚Hell’s Angel‘ bestimmt von Anfang an die Atmosphäre des Bandes – wobei der Typus des einsamen Highway-Riders selbst für Vampire, deren Chronik von der Wanderlust gekennzeichnet ist, als ungewöhnlich gilt. Ein wahnsinniger Gangrel also, kein Zweifel!

Im Inneren setzt sich das gelungene Layout fort. Vor allem der „Prologue: Rock and a Hard Place“ ist ein großartiges Beispiel für ein Layout ohne Restriktionen. Natürlich kann man so ein wildes Durcheinander nur über ein paar Seiten durchhalten – wer in diesem Chaos voller Schriftartwechsel, Spaltensprüngen und Collage-Design spielrelevante Informationen unterbringen würde, müsste sich darauf gefasst machen, von erbosten Spielleitern gepflöckt zu werden. So ist auch der Rest des Buches im klassischen „WoD“-Design, zweispaltig, viel Text, mit wechselnden Überschriftstypen, dezenten Zierleisten und überwiegend sehr stimmungsvollen Bildern.

Das Buch ist in Einleitung, vier Kapitel und Anhang unterteilt.

Die „Introduction“ fasst sich wie immer kurz und gibt einen Überblick über den Inhalt des Buches, wobei Themen und Stimmung gesondert betrachtet werden.

„Chapter One: The Call of the Road“ widmet sich im Detail den fünf Covenants und den fünf Clans und führt für alle jeweils die Gründe auf, die deren Mitglieder zu einem zeitweisen oder dauerhaften Leben auf der Straße zwingen oder verführen mögen. Es werden mannigfaltige Motivationen angeführt: Die Flucht vor Bestrafung oder Vergeltung mag ebenso dazu zählen wie das absichtsvolle Annehmen der Herausforderung der Wildnis (etwa für Gangrel), die Verbreitung des Glaubens (für Mitglieder der Lancea Sanctum) oder das Entdecken und Verteidigen mystischer Orte (für Streiter des Ordo Dracul). Auch das Überbringen wichtiger Botschaften, das Bereisen des eigenen Einflussgebiets oder die Jagd nach flüchtigen Verbrechern mag Kainskinder dazu bringen, ihre geschützten Hochburgen aus Stahl, Glas und Beton zu verlassen. Neben der wortreichen Ausführungen der unterschiedlichen Gründe werden dabei jeweils die Schwächen und Fähigkeiten der einzelnen Covenants und Clans in der Wildnis beleuchtet sowie mögliche Rollen ihrer Mitglieder in nomadischen Coteries angedacht.

„Chapter Two: Those Who Wander“ stellt eine ganze Reihe denkbarer Archetypen vor, die ein wandernder Vampir annehmen kann. Dazu gehören ‚normale‘ Broterwerbe wie „Courier“ oder „Hunter“, ideologische Ansätze wie „Evangelist“ oder „Political Idealist“, krankhafte Lebensphilosophien wie „Thrill-Seeker“ oder „Madman“ und erzwungene Existenzen wie „Heretic“ oder „Outcast“. Jeder Eintrag setzt sich aus einer kurzen Beschreibung, der Art, wie sich der Charakter anderen präsentiert, allgemeinen Ratschlägen zur Erschaffung des besagten Archetyps sowie konkreten Tipps zur Wahl von Disciplines zusammen. Am Ende des Kapitels finden sich zudem einige Ideen für Road Coteries (von „Blood Gang“ bis „Troubadours“) und welche sozialen Probleme es hinsichtlich des Zusammenhalts und Überlebens einer Vampirgemeinschaft in der Wildnis geben kann.

„Chapter Three: Surviving the Wild“ ist das vielleicht interessanteste Kapitel, denn es setzt sich konkret mit den Schwierigkeiten eines Lebens auf der Straße auseinander. Wo bekomme ich meine tägliche Dosis Blut her? Was tun, wenn man sich mitten auf der Landstraße befindet und plötzlich geht die Sonne auf? Wie sinnvoll ist es, sich mit menschlichen Dienern zu umgeben? Welche Transportmittel eignen sich besonders für reisende Vampire? (Motorräder beispielsweise gar nicht!) Diese und andere Fragen werden im Detail diskutiert und zu teilweise wirklich überraschenden Ergebnissen geführt! (Um es vorweg zu nehmen: Wohnmobile gehören zu den Vehikeln der Wahl und am Grunde eines Sees schläft es sich zur Not zwar feucht aber sicher.)

Hilfreich für Spielleiter zum raschen Nachschlagen präsentiert sich im Anschluss daran der Überblick über die verschiedenen Umgebungen, durch die sich unsere Untoten auf der Wanderschaft bewegen mögen. Nach einer kurzen Beschreibung werden die drei Punkte „General Hazards“, „Feeding“ und „Shelter“ mit allen anzuwendenden Regeln abgehandelt. Stadtgebiet, Kleinstadt, Wildnis, Wüste und Eis gehören zum Angebot, wobei ‚Wildnis‘ als etwas schwammiger Oberbegriff für jede normale Landschaft, vom Waldgebiet übers Kornfeld bis hin zum südamerikanischen Dschungel dient.

Für ein Leben auf der Straße wahrscheinliche Derangements, hilfreiche Crúac- und Theban-Sorcery-Rituale sowie eine Reihe Devotions, die speziell von wandernden Kainskindern angewandt werden können, schließen das Kapitel ab.

„Chapter Four: Notable Nomads“ porträtiert die obligatorischen NSCs, die durch ihr Leben jenseits von Heim und Herd zu zweifelhafter Berühmtheit gekommen sind. Neben einer Beschreibung gibt es jeweils ein Bild, ein paar Spielleiter-Hinweise sowie die kompletten Spieldaten. Die Sammlung ist eine gute Mischung aus interessanten, Furcht einflößenden und schlichtweg geheimnisvollen Gestalten, allerdings möchte man mit keinem wirklich für längere Zeit im gleichen Wohnmobil sitzen.

„Appendix: Route 666“ ist ein gradliniges Einsteigerabenteuer, das die Gruppe als Eskorte eines hochrangigen Mitgliedes der Lancea Sanctum von New Orleans nach Chicago reisen lässt. Natürlich ist die Reise nicht ohne Hindernisse und unter der Oberfläche brodelt sogar noch einiges mehr als es zunächst den Anschein hat. Der Reiz des Abenteuers liegt einerseits darin, dass die Charaktere auf der Straße in ihren Entscheidungen völlig auf sich allein gestellt sind – und entsprechend auch mit den Konsequenzen leben müssen –, andererseits bietet es dem Spielleiter einen Ausgangspunkt für komplexere Verstrickungen, die sogar gleich zwei Städte mit einbeziehen (es sei denn, die Spieler entscheiden am Ende, ihr Heil in einer nomadischen Existenz zu suchen...).

Fazit: „Nomads“ ist als Quellenbuch eine Erweiterung des eigentlichen „Vampire“-Rollenspiels im besten Wortsinne. Gruppen, deren Charaktere reisefreudige Artgenossen sind, finden hier zahllose Anregungen und Hilfestellungen zum Leben zwischen den Städten. Urbanen Chroniken indes entgeht nichts wirklich Wichtiges, wenn der Spielleiter das Buch nicht im Regal stehen hat. Diese Optionalität des Materials finde ich sehr gut.

Eine Schwäche, die je nach persönlicher Vorliebe zu bewerten ist, liegt im unglaublichen Wortreichtum des Buches. Die Autoren tanzen in teils epischer Länge immer wieder um die gleichen Fragen herum, was positiv gesehen das Verständnis der Kerninformationen erleichtert, negativ gesehen ein bisschen nach Seitenschinderei aussieht – zumal man den Platz für zusätzliche Spielleiterinfos hätte nutzen können, etwa typische (menschliche) Straßen-NSCs, Fahrzeugwerte, Kartenmaterial von Motels, Truckstops und derlei. Allerdings muss man hinzufügen, dass sich das Storytellersystem von White Wolf insgesamt bisher selten um so ‚reglementierte‘ Aspekte des Rollenspiels wie Preislisten und Gebäudepläne geschert hat. Auch hier keine Ausnahme.


Nomads
Quellenbuch
Brian Campbell, Patrick O'Duffy, Greg Stolze
White Wolf 2004
ISBN: 1-58846-252-8
128 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 24,99

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