No Longer Human

Ein Mensch, der von sich behauptet, kein Mensch zu sein, ist entweder verrückt oder durchlebt eine Krise, weil er sich nirgends zugehörig und nicht verstanden fühlt. Dass sich der japanische Schriftsteller Osamu Dazai selbst als fremd unter Menschen gefühlt haben muss, entnimmt man seinem Roman „Ningen Shikkaku“ (deutsche Übersetzung: „Gezeichnet“, englische Übersetzung: „No Longer Human“), die er im Jahre 1948 kurz vor seinem Tod vollendete. Ein Leben, wie in einem Fiebertraum, das den Mangaka Junji Ito zur Manga-Adaption inspirierte. Ein Werk, das nachwirkt.

von Daniel Pabst

Osamu Dazai, der mit echtem Namen Tsushima Shuji hieß, lebte von 1909 bis 1948 in Japan. Ihn faszinierte die Literatur, und er verschrieb sich früh der Welt der Bücher, die seine Freunde wurden. Doch die frühkindliche Faszination führte nicht zum Glück, sondern auf Irrwege, die geprägt waren von Versuchen, sich das Leben zu nehmen. An dieser Stelle erfolgt der Hinweis, dass dieses Werk und seine (nun in der deutschen Übersetzung erhältliche) Manga-Adaption Thematiken behandelt, welche sich an ein erwachsenes Publikum richten. Auf der Rückseite des Mangas prangt der rote Aufkleber: „Empfohlen ab 18“. Denn nicht nur der Freitod wird immer wieder darin angesprochen und bebildert, sondern auch explizite Liebesszenen sind zu sehen. Diese Freizügigkeit ist selbst für den Junji Ito untypisch – widmet er sich ansonsten dem Horror! Wie dieser Spagat zwischen Romanadaption und Gruselzeichnungen gelungen ist, soll Inhalt dieser Rezension sein. Vorab kann schon gesagt werden: Dieser Manga fällt aus der Junji-Ito-Reihe, die bei Carlsen Manga seit 2019 erscheint (und längst nicht abgeschlossen ist), eindeutig heraus.

Kennt man die furchtbaren und absurden Zeichnungen von Junji Ito aus Werken wie „Uzumaki“ oder aus den Kurzgeschichtenbänden wie „Shiver“, fallen direkt seine Handschrift und seine Pinselstriche auf. Die Gesichter der Figuren, mit ihren dunklen Augen, sind einem sonderbar vertraut und auch die Schocker lassen nicht lange auf sich warten. Was diesmal so völlig anders ist, ist die Tatsache, dass die Geschichte nicht rein fiktiv ist, sondern auf dem autobiographisch-durchdrungenen Roman von Osamu Dazai basiert. Wenn der Protagonist aus „No Longer Human“ sich in dem luxuriösen Haus in seiner Kindheit nicht besonders wohl fühlt, Streit mit seinem Vater hat und von Personen des Haushalts verletzt und sexuell ausgebeutet wird, so wird der eine oder die andere an dieser Stelle das Buch schnell sinken lassen, oder sich fragen, ob Osamu Dazai das selbst erleben musste. Nicht grundlos wird das Werk in der japanischen Literaturwissenschaft weiterhin analysiert und interpretiert. Die Suche nach der Verquickung des realen Lebens und der Fiktion scheint endlos. Einen „kleinen“ Abriss hierzu bietet der Wikipedia-Artikel.

Um sich jedoch nicht in dieser Fülle an Interpretationen zu verlieren – und da es ja primär um die Rezension des Mangas „No Longer Human“ gehen soll –, stellt sich die Frage, wie gut Junji Ito die Adaption gelungen ist? Dass eine an sich normal erscheinende (Lebens-)Situation urplötzlich in den Horror abgleiten kann, das hat Junji Ito bereits in seinen Werken eindrucksvoll gezeigt. Auch an Romanadaptionen hat er sich bereits zum Beispiel mit dem Manga „Frankenstein“ versucht. Doch dieses Mal ist es eben etwas krasseres. Aufgeteilt ist der 624-seitige Manga in 24 Kapitel. Die ersten sowie einige wenige Seiten am Ende des Mangas sind in bunt abgedruckt worden, was den Einstieg für Manga-Neulinge erleichtert. Die Szene, die sich danach zeigt, könnte dunkler nicht sein: Ein Liebespaar sitzt an einem Fluss und beschließt „zu gehen“ – also im Fluss zu versinken. Diese Szene nennt als Datum den 13. Juni 1948 am Tamagawa-Kanal, bei dem es sich um das Sterbedatum und den Ort des Todes von Osamu Dazai handelt. Sodann folgt der legendäre Satz aus dem Roman: „Ich habe ein schändliches Leben geführt.“

Darauf folgt die Lebens- und Leidensgeschichte des Protagonisten Yozo Oba, der den Lesenden früh mitteilt, dass er die Menschen nicht verstanden und deswegen den Clown gemimt habe. Er versteht die einfachsten Dinge nicht und fragt sich, warum die Menschen in seiner Umgebung in ständigem Misstrauen zueinander leben und man dreimal am Tag Nahrung zu sich nehmen muss? Er verabscheut Rituale und erfreut sich stattdessen an der Kunst. Nachdem er Harold Lloyd im Film „Safety Last!“ von Hal Roach (1923) gesehen hat, macht er es dem Schauspieler gleich und versucht an einer Wand hochzuklettern, was jedoch misslingt und ihm den ersten Krankenhausaufenthalt beschert. Bereits da wird er von seiner Familie als verrückt und überaus leichtsinnig betitelt. Doch offenbart Junji Ito (beziehungsweise Osamu Dazai) die Gedankenwelt des Protagonisten, die da lautet: „Ich atmete innerlich auf.“ Es scheint also, dass er im Krankenhaus die Ruhe und Abgeschiedenheit seiner Mitmenschen sucht, findet und sich dort nicht mehr als Fremder fühlt. Dass es nicht der letzte Aufenthalt in einem Krankenhaus oder einer Klink des Protagonisten sein wird, wird angedeutet.

Ab dem Moment wird auch sehr deutlich, dass Yozo Oba (oder sollte man eher „Osamu Dazai“ sagen?) die Frauen magisch anzieht. Während seines Krankenhausaufenthalts versuchen sich seine beiden Cousinen daran, ihn für sich zu gewinnen. Eine anfängliche Naivität gerät zum Konkurrenzkampf, bei der sich Yozo Oba zwischen zwei Fronten sieht und der tödlich enden wird. Nachdem Junji Ito den Lesenden bereits im ersten Kapitel bei der Vergewaltigungsszene des jungen Yoto Oba durch die Dienstmagd nicht viel ausgespart hat, werden die Zeichnungen zunehmend expliziter. Spätestens ab der Lebensphase, in der der Protagonist den Kontakt zu Prostituierten sucht, hält Junji Ito kaum noch etwas zurück. Diese Fülle hat man bei Junji Ito so noch nicht gesehen. Ein gewagtes Experiment. Der Stil und die Art, den Roman zu adaptieren, wird für Kontroversen bei den Fans sorgen. Doch wie anders hätte man den Roman von Osamu Dazai darstellen können?

Natürlich hat Junji Ito auch seine surrealen (Horror-)Momente eingebaut und so die Geschichte in gewisser Weise ergänzt und wo Osamu Dazai sprachlos blieb, weitererzählt. In einem Interview hierzu sagte Junji Ito: „Yozo Obas Persönlichkeit ist eine pathologische Angst vor Menschen. Ich persönlich verstehe ihn sehr und sympathisiere mit ihm. Das war es, was mich am meisten motiviert hat, „No Longer Human“ zu machen.“ Weiter erklärt er, seine Herangehensweise und die Art, wie er seine Elemente einbaute: „Weil ich ein Horror-Mangaka bin, wollte ich ein Horror-Thema machen. Obwohl „No Longer Human“ ein literarisches Werk ist, erzählt es eine Geschichte über die menschliche Angst. Ich fühlte, dass es möglich war, das in Horror umzuwandeln.(…) Ich denke, „No Longer Human“ ist eine Horrorgeschichte. Ich möchte, dass die Lesenden begreifen, dass dieses Meisterwerk eigentlich eine Horrorgeschichte ist.“ (Vollständiges Interview)

Erschreckend ist der (Ver-)Fall von Yozo Oba, der einer Selbstzerstörung gleichkommt. Vom anfänglichen Spaß und der Freude, wie etwa am Alkohol, Drogen oder dem Liebesleben, entwickelt sich eine Sucht, die auch den Schriftsteller Osama Dazai geplagt hat. Einen besonderen Einfall hat Junji Ito am Ende der Geschichte, da er den Protagonisten auf einen ihm ähnelnden Mann treffen lässt, der sich als Osamu Dazai vorstellt. Hier verbeugt sich Junji Ito vor dem Schriftsteller und lässt den letzten Zweifel verstreichen, dass zwischen diesen beiden Personen ein und dieselbe Identität besteht. Trotz aller Tragik, Trauer, Melancholie und Depression, die in diesem Manga verarbeitet werden, enthält er einprägsame Sätze und Szenen, die nachwirken. Vor allem das Motiv des nach Erfolg strebenden, doch an der Realität scheiternden Künstlers ist eines, das bis heute wiederkehrt. Die Figur des alkoholsüchtigen Autors, Musikers, oder Schauspielers, der seine Kreativität und Inspiration im Rausch und Wahn erlangen kann, ist beliebt und vernachlässigt, dass auch hinter den Kunstschaffenden Menschen stehen, die mit den Folgen ihrer Ängste und Süchte kämpfen.

Aber da wäre man bereits bei einer der vielen Interpretationen des Romans „Gezeichnet“. Neben diesem Motiv sind da zum Beispiel noch die Schuld, die Kriminalität, die Strafe, die Gesellschaft, der Vater-Sohn-Konflikt, die Suche nach Erlösung, der Traum einer heilen Familienidylle, des (persönlichen) Glücks, die Begierde, der Sterblichkeit sowie der Kritik an der japanischen Gesellschaft und des Kollektivs. Wollte Osamu Dazai mit seinem Roman auch ausdrücken, was der Philosoph Jean-Paul Sartre bereits im Jahre 1944 in dem Werk „Geschlossene Gesellschaft“ provokant formulierte: „Die Hölle, das sind die anderen“? Egal, wie man es dreht und wendet: Der Manga „No Longer Human“ ist – wie das Werk von Osamu Dazai – eine Herausforderung. Will man diesen Höllenritt miterleben? Die Antwort hierauf wird sich nicht von selbst beantworten. Wer den Roman von Osamu Dazai gelesen hat, oder kennt, der erhält die Gelegenheit, die eigenen Bilder mit denen von Junji Ito abzugleichen. Für Fans von Junji Ito wird sich wahrscheinlich auch dieses Werk in die Sammlung einreihen – und gemischte Reaktionen hervorrufen. Alle anderen wird mit diesem Manga etwas zugemutet…

Die Zeichnungen von Junji Ito enthalten viele klassische Elemente seiner anderen Werke. Besonders eindrucksvoll ist eine Doppelseite, die einen Glücksmoment einfängt, nur um dann direkt beim Umblättern durch einen Schockmoment wieder ins Gegenteil verkehrt zu werden. So nah beieinander stehen sich Glück und Unglück also! Bei der Ausgestaltung dieses Mangas wurde passend zur Reihe erneut das Hardcover-Format gewählt. Einzig der sehr hell gewählte Buchrücken lässt diesen Band etwas aus der Reihe tanzen. Mit 624 Seiten fällt dieser Band besonders üppig aus und benötigt daher seine Zeit.

Leseprobe

Fazit: Der neueste – bei Carlsen Manga – erschienene Band von Junji Ito bringt einen Roman des japanischen Schriftstellers Osamu Dazai aus dem Jahre 1948 einem (neuen) Publikum näher. Verstörend, brutal und explizit sind die Zeichnungen, bei denen Junji Ito seinen Horror auf ein anderes Level katapultiert hat. Das mag selbst für ihn eine Herausforderung und ein Grenzgang gewesen sein! Wer mitleiden und (vergeblich) mithoffen möchte, sowie interessiert daran ist, warum das japanische Ursprungswerk von 1948 noch heute so populär wie kontrovers ist, dem kann „No Longer Human“ ans Herz gelegt werden. Sonst lässt man besser die Finger davon. Eine befremdliche Leseerfahrung, bei der man Menschen – allen voran dem Protagonisten – beim Leiden, Lieben und Scheitern zusieht.   

No Longer Human
Manga
Osamu Dazai, Junji Ito
Carlsen Manga 2024
ISBN: 978-3-551-80125-8
624 S., Hardcover, deutsch
Preis: 32,00 EUR

bei amazon.de bestellen