Nemesis 1 & 2: Die Zeit vor Mitternacht / Geisterstunde

Deutschlands Fantasy-Ikone Wolfgang Hohlbein hat ein Burgfest ausgerichtet: Auf der Festung Crailsfelden versammelt er ein bunt zusammengewürfeltes Grüppchen, das seine Personenstärke allerdings nicht lange beibehalten wird. Denn das alte Gemäuer kann mit einer schaurigen Historie aufwarten. Hohlbeins Fortsetzungsroman „Nemesis“ besteht aus sechs Bänden. Die ersten beiden Teile wurden in gekürzter Fassung von Johannes Steck eingesprochen und vom Verlag Hörbuch Hamburg zusammen in einem Set unter dem Label Silberfisch veröffentlicht.

von Simon Ofenloch

 

Jeder Mensch weiß, dass das nicht gut enden kann. Zumindest jeder, der sich einigermaßen in der Unterhaltungsliteratur oder mit artverwandten Filmen auskennt. Eine Anwaltskanzlei hat sechs Fremde zur Testamentseröffnung geladen. Es geht um das Erbe eines ihnen unbekannten, mysteriösen Multimillionärs. Und alles steht im Zusammenhang mit einem düsteren Burggemäuer. Spätestens, als der erste Repräsentant der Kanzlei plötzlich und völlig unerwartet tot umfällt, müssten alle Alarmglocken ringen. Und jedem wäre klar, dass man jetzt besser das Weite sucht.

Nicht so Frank, Eduard, genannt „Ed“, Stefan, Judith, Maria und Ellen. Diese sechs könnten unterschiedlicher kaum sein. Beide Geschlechter sind vertreten, und nahezu sämtliche Verhaltensformen, von schüchterner Zurückhaltung über besonnene Rationalität bis hin zu überheblicher Arroganz und egozentrischer Aggressivität. Was sie offenbar alle eint, ist ihre Naivität oder ihre Gier nach dem Geld aus der Erbschaft. Denn alle machen sich auf zur finsteren Burg, begleitet vom Gastwirt Carl, der ihnen als Fahrer dient.

Und kaum sind die sieben Personen in der Burg angekommen, ereignen sich rätselhafte Dinge. Mit lebensbedrohlichen, wenn nicht gar tödlichen Folgen. Zu spät erkennt die unfreiwillige Zweckgemeinschaft, dass die Festung auch eine Falle sein kann.

Und was hat es mit den seltsamen Sinnestäuschungen auf sich, die den Ich-Erzähler Frank plötzlich plagen? Was bedeuten die Visionen, in denen er ein Mädchen namens Miriam sieht, das er vor Verfolgern retten muss? Und warum kommen ihm manche Dinge so vertraut vor? Und nicht nur ihm? Und scheint es nicht, als schüre die Burg die Gewaltbereitschaft aller Anwesenden?

Wolfgang Hohlbein weiß, wie man Mysterymären mit Schauplätzen in deutschen Landen konstruiert. Alte Burgen sind immer gut. Und die deutsche Geschichte ist reich an schauerlichen Abartigkeiten, insbesondere die Zeit des Dritten Reichs. Man denke da nur an die Eliteschulen der Nationalsozialisten, die „Napola“ genannten Einrichtungen. Oder an Heinrich Himmlers irrsinniges bevölkerungspolitisches Projekt „Lebensborn“. Vermischt mit einigen Elementen aus dem Standardrepertoire, wie einer Gruppe Menschen, die seltsam miteinander verbunden zu sein scheinen, einer verlockende Erbschaft mit weniger verlockenden Auflagen und Gerüchten um einen sagenhaften Schatz, entsteht das Grundgerüst einer Geschichte. Und siedelt man diese in der bedeutungsschwangeren Zeit zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen an, so erhält man „Nemesis“.

Viele Situationen und Ereignisse erscheinen bekannt. Vieles hat man auch woanders schon gelesen, gehört oder gesehen. Die Ausgangssituation der Geschichte erinnert an Shirley Jacksons Klassiker „Spuk in Hill House“ („The Haunting of Hill House“), der als „Bis das Blut gefriert“ und „Das Geisterschloß“ verfilmt wurde und auch Stephen King als Inspirationsquelle für die TV-Miniserie „Rose Red“ diente, und mehr noch an den Film „Das Haus auf dem Geisterhügel“ und sein Remake „Haunted Hill“.

Dennoch gelingt es Hohlbein, in der Melange etwas gänzlich Neues zu erschaffen. Und trotz einiger langatmiger Passagen bleibt es spannend. Erstaunlich, dass Hohlbein es offensichtlich geschafft hat, aus einem sehr begrenzten Setting eine Geschichte zu spinnen, die als Fortsetzungsroman über sechs Bücher trägt. Die ersten beiden Abschnitte sind jedenfalls unterhaltsam und offenbaren stets neue Enthüllungen immer dann, wenn es droht, langweilig zu werden.

Nach den ersten beiden Teilen des großen Handlungsbogens sind einige lose Enden übrig, die es in den folgenden Episoden zu verknüpfen gilt. Was steckt hinter den seltsamen Verstrickungen in die abstrusen Experimente der Nationalsozialisten? Und welcher tiefere Sinn steckt vor allem hinter dem Gesamttitel „Nemesis“, welcher der griechischen Mythologie entliehen ist und in diesem Zusammenhang auf den Themenkomplex der Rache, der Vergeltung verweist? Und ist es von Bedeutung, dass der Ort Crailsfelden, oder „Krailsfelden“, und seine Burg auch noch in anderen Erzählungen von Wolfgang Hohlbein auftauchen?

Bezüglich der Umsetzung als Hörbuch, ist mit einfachsten Mitteln das Beste erreicht worden. Die Klangqualität und der Sprecher sind auf höchstem Niveau. Johannes Steck versteht es vortrefflich, die Geschichte überzeugend vorzutragen. Seine Stimme erinnert oft an die von Starsprecher Joachim Kerzel, die man als „grau“ bezeichnen möchte, müsste man ihr eine Farbe zuordnen. Doch mehr noch als Kerzel, so scheint es, gelingt es Steck, zu variieren, Stimmungen zu transportieren und einzelnen Akteuren auf der Tonebene eigene Charakteristiken zu verleihen.

Einen groben Schnitzer hat sich der Verlag bei der Gestaltung der CD-Hülle geleistet, indem er den mysteriösen Erblasser in der auf der Rückseite abgedruckten Inhaltsangabe fälschlicherweise „Thun“ genannt hat. Im Prinzip handelt es sich dabei sogar um zwei Fehler. Denn in der Geschichte taucht nur ein Herr von Thun auf, und das ist einer der Vertreter der zuständigen Kanzlei. Der verstorbene Multimillionär heißt tatsächlich Sänger.

„Die Zeit vor Mitternacht“ und „Geisterstunde“ wurden bereits in den Jahren 2006 und 2007 in Ausgaben mit jeweils 2 CDs vom Verlag Hörbuch Hamburg veröffentlicht. Der dritte und der vierte Teil folgten ebenfalls in Einzelerscheinungen. Das letzte Drittel steht noch aus. Es bleibt abzuwarten und zu hoffen, dass die Reihe unter dem Label Silberfisch zum fulminanten Abschluss gebracht wird.

Fazit: Wolfgang Hohlbeins Mehrteiler „Nemesis“ überzeugt inhaltlich auf zwei Ebenen. Er bietet die Spannung eines packenden Thrillers und das Rätselhafte, Geheimnisvolle einer interessanten Mystery-Geschichte. Die Umsetzung als Hörbuch ist geglückt. Johannes Steck hört man gerne zu.


Nemesis 1 & 2: Die Zeit vor Mitternacht / Geisterstunde
Gekürzte Lesung nach Teilen des Fortsetzungsromans von Wolfgang Hohlbein
Johannes Steck
Silberfisch / Hörbuch Hamburg 2008
ISBN: 978-3-86742-813-2
4 CDs, ca. 302 min., deutsch
Preis: EUR 14,95

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