Namenlose Nacht – Orgien in den Thermen

Zur Jahreswende versteckt sich jeder gottesfürchtige Mensch in seinem Haus und hofft auf das schnelle Vorübergehen der Namenlosen Tage, an denen der Dreizehnte Gott, der keinen Namen trägt, seine größte Macht hat. Doch schon seit Jahren feiern die Garether Patrizier in den unheiligen Tagen eine Orgie in der Bardo-Therme und gehen Gelüsten nach, die besser vor der Götter Augen verdeckt bleiben. Als eine fromme Jungfrau verschwindet, führt es die Helden auf ihrer Suche genau in diesen Sündenpfuhl, in dem sie sich nicht nur der erwarteten Gefahr der hemmungslosen Lust stellen müssen.

von Ansgar Imme


Wenn zwei der beliebtesten „DAS“-Autoren auf dem Abenteuerband stehen, kann man bedenkenlos zugreifen. Oder? Anton Weste und Thomas Finn stellen nach dem bereits kürzlich erschienenen „Steinerne Schwingen“ gleich das nächste Abenteuer in der Kaiserstadt Gareth zur Verfügung – wenn auch die Handlung auf einem sehr beschränkten Raum der Hauptstadt spielt. Das Abenteuer beruht auf einem bereits mehr als fünf Jahre alten Plot, der ursprünglich unter den Titeln „Orgien in den Thermen“ und „Jugendsünden“ firmierte und im Jubiläumsband „Die Rache des Schwarzen Keilers“ im Rahmen des 25-jährigen „DSA“-Bestehens veröffentlicht werden sollte (der Band entfiel allerdings komplett). Fünf Jahre später ist das Kurzabenteuer nun wesentlich erweitert worden und erscheint zum 30-jährigen Jubiläum des bekannten deutschen Rollenspiels.

Die beiden Autoren haben viele beliebte und beachtete Abenteuer und Spielhilfen veröffentlicht (Anton Weste war beispielsweise zuletzt für die grandiose „Gareth“-Box verantwortlich) und gehörten lange der Redaktion des „Schwarzen Auges“ an. Thomas Finn ist zusätzlich seit einigen Jahren als Fantasy-Autor aktiv und hat sehr beliebte Romane wie die Reihen „Chroniken der Nebelkriege“ und „Die Wächter von Astaria“ veröffentlicht.

Ein wirklich kurzer Handlungsüberblick

Im Gegensatz zu den Veröffentlichungen der letzten Jahre wird auf ein Vorwort verzichtet, obwohl man hier durchaus einige nette Anekdoten zum Entstehen des Bandes hätte vermerken können. Auch in diesem Band kennzeichnet man, wie in vorgehenden Abenteuern, durch Symbole besondere Stellen, wobei sie hier einen der vier Handlungsstränge aufzeigen. Zu jedem dieser Stränge findet sich entsprechend auch eine Zusammenfassung der Vorgeschichte und betroffenen Personen. Ergänzend finden sich Informationen zum möglichen Handlungsverlauf, Ort, Zeit und passenden Helden.

Und ohne lange Vorreden, Personenbeschreibungen oder Örtlichkeiten geht es dann direkt in die Handlung wie in alten Abenteuerbänden. Die Helden hat es zu Anfang der namenlosen Tage nach Gareth verschlagen und sie werden durch die eine oder andere Art in den Dienst des Hoteliers Travian Korninger genommen, dessen Tochter seit vier Tagen verschwunden ist. Gegen ein Lösegeld soll er diese zur Jahreswendfeier in der Bardo-Therme zurück bekommen. Nach einigen ersten Ermittlungen in der Stadt und im Umfeld des Hotels machen sich die Helden schließlich auf zur Therme. Doch zu dieser Orgie gehört es sich, verkleidet zu kommen, und der erzkonservative Vater Korninger wagt es nicht, allein dorthin zu gehen. Und so müssen sich die Helden in ungewohnter Verkleidung an einen vermutlich ungewohnten Ort begeben und am Eingang auch noch die gesamte Ausrüstung zurücklassen.

Doch der Ort hält neben Dekadenz, Wollust und Prasserei auch etliche Gefahren im Halbdunkel bereit. Und während die Helden – ungewohnt wenig bekleidet, nahezu nackt – die Therme erkunden und nach der Tochter Selinde suchen, geraten sie zwischen die Mühlen verschiedener Parteien, die alle ihre eigenen, oft düsteren Pläne verfolgen. Und ein längst verschollen geglaubter Potentat will in seinem Wahnsinn die Gäste für seine Ziele opfern. Die Verwicklungen führen gegen Mitternacht schließlich zur Katastrophe, als etwas Schreckliches alle Gäste der Orgie heimsucht und gleichzeitig keiner von ihnen die Therme verlassen kann. Und wenn sich niemand dem Grauen entgegenstellt, verbleiben am Morgen danach nur wenige Überlebende, die für immer gezeichnet sind.

Was eine Orgie so mit einem macht – die Kritik

Der Verlag wollte sich bei diesem Band anscheinend ein wenig im Marketing versuchen, denn ein echtes Cover bekam man vorab nicht zu sehen, sondern aufgrund der angeblichen Altersvorgabe (aufgrund Szenen mit Nacktheit, Erotik, Gewalt und schwarzem Humor) von mindestens 18 Jahren blieb es bei einer schwarzen Außenhülle. Erst darunter erblickte man beim Kauf eine Orgienszene in der Therme, bei der verschiedene Sexszenen in aller Nacktheit zu sehen sind. Eins hatte der Verlag erreicht: Es wurde vorab – und nicht wenig – darüber gesprochen. Im Internet fanden sich etliche Kommentare, die von belustig bis peinlich berührt gingen. So oder so – auf jeden Fall bekommt der Käufer und Leser etwas Abwechslung vom üblichen Rollenspieleinerlei bei Veröffentlichungen. Das Cover selbst ist farblich und von den Details (und man möge es nicht falsch verstehen) gelungen, bietet aber auch keine spektakuläre Umsetzung an.

An Stil und Layout hat Ulisses ansonsten nichts geändert: Symbole unterstützen den Spielleiter als Hinweis auf die Handlungsstränge, graue Kästen liefern zusätzliche Hintergrundinformationen. Die Illustrationen sind zudem ausgesprochen gut gelungen und alle auf einem hohen Niveau (vor allem etliche Charakterportraits), wenn auch natürlich oft etwas freizügiger als sonst.

Inhaltlich haben es Anton Weste und Thomas Finn wieder mal geschafft, ein altes Geheimnis beziehungsweise einen offenen Handlungsstrang herauszugreifen und mit Leben zu erwecken. Allein dafür gebührt schon ein großes Lob, dass sie nicht irgendetwas Neues nur erfinden, ohne auf bestehende Setzungen Rücksicht zu nehmen, sondern stattdessen eben bestehende Figuren oder offene Enden weiterführen. Gleichzeitig schaffen sie es aber, trotzdem eine spannende und irgendwie andere Geschichte zu präsentieren. Sowohl den Ort kannte man bisher nicht als Abenteuerschauplatz und auch die gesamte Szenerie um die Orgie mit allen Einflüssen ist etwas komplett Eigenes.

Trotzdem haben sie noch weitere Handlungsstränge eingeflochten, die die Handlung verdichten und für die Spieler zu weiteren Herausforderungen werden. Diese sind zwar durchaus schon einmal in ähnlicher Art und Weise dagewesen, sind in der Verknüpfung aber eine tolle Idee. Einer der wenigen Kritikpunkte des Abenteuers muss aber auch hier ansetzen: In der Kürze der durch das Abenteuer vorgegebenen Zeit sind die Handlungsstränge nicht oder kaum zu bewältigen oder werden von den Spielern vielleicht nicht einmal erkannt. Da sie aber sehr gut ausgearbeitet sind (siehe auch unten), wäre es schade, wenn sie nicht einmal angespielt würden. Für den Spielleiter steht hier die Überlegung und Herausforderung, gegebenenfalls die Zeit des Abenteuers etwas zu strecken oder die Figuren früher eintreffen zu lassen, damit sie als Spieler vom Abenteuer so viel wie möglich haben und selbst so intensiv agieren können, wie es der Schauplatz explizit zulässt und wünscht.

In diesem Zusammenhang ist es auch schade, dass ein mächtiger Gegner nahezu im Vorbeigehen dahingerafft wird, sofern die Helden nicht sehr frühzeitig selbst aktiv werden. Eine Einschränkung ergibt sich zudem für Spieler, die mit Orgien, Sex und Freizügigkeit nichts anfangen können oder sich dadurch sogar in ihrem Schamgefühl verletzt sehen. Wer aber mit ein wenig Augenzwinkern herangeht, wird auf jeden Fall seinen Spaß haben (und muss vermutlich eher aufpassen, dass es auch nicht ins Alberne abgleitet). Gleichzeitig mag man dies dem Abenteuer aber auch vorwerfen: Der gesamte Komplex um die Orgie wird vor allem mit Humor durch die Autoren aufbereitet. Für Spieler, die es lieber düster haben, muss der Spielleiter ein wenig Arbeit für eine morbide und gefährlichere Situation hineinstecken.

Trotz eines sehr genauen roten Fadens mit bestimmten Ereignissen bietet das „Closed-Room“-Abenteuer sehr viele Freiheiten, die zudem für den Spielleiter exzellent unterstützt werden. Neben gewissen Schlüsselereignissen steht es den Spielern und Helden komplett frei, was sie innerhalb der Zeit machen und wie sie vorgehen. Handlungsstränge können dadurch früher gelöst werden oder auch gar nicht auffallen. Es bleibt den Spielern überlassen, welchen Verdächtigen sie mehr oder weniger folgen und auch was sie mit den Bösewichten machen (denn der größte Teil ist für die Spielwelt nicht weiter relevant, sofern es der Spielleiter nicht möchte).

Spätestens ab Mitternacht sorgt ein Ereignis dafür, dass die Spieler auch nicht mehr herumtrödeln können, sondern durch äußere Zwänge getrieben werden, zielgerichtet aktiv zu werden – wobei ihnen Mittel und Wege immer noch vollkommen frei stehen. Die Freiheiten der Handlungsführung werden dabei durch allerlei Unterstützung ermöglicht. Es gibt so umfassende Personenbeschreibungen mit Motivation, Auftreten, Aussehen etc., dass es schon einen erfahrenen Spielleiter benötigt, der hier nichts aus den Augen verliert. Als Hilfestellung wird gleichzeitig auch eine Liste sehr vieler Personen und den Seiten, auf denen sie auftauchen, sowie (sehr lobenswert) das Kostümverzeichnis der Personen mit Kostüm und echter Person dahinter geliefert. Alle Räume und Orte werden erläutert und mit Plänen versehen sowie Änderungen zu bestimmten Zeitpunkten vermerkt (ist Person X anwesend, findet sich ein Gegenstand Y usw.). Im Gegensatz zu anderen Abenteuern kann man sich von daher ebenso wenig über fehlende Karten beschweren. Da die Helden zudem ihre Ausrüstung am Beginn der Orgie abgeben, haben die Autoren auch bedacht, zu erwähnen, wo es echte Waffen gibt und wie sie in deren Besitz gelangen können. Es werden auch alle möglichen improvisierten Waffen erwähnt und mit Werten zu versehen (von der Seife bis zum Bratspieß). Ingesamt wird für nahezu jede Eventualität eine Lösung beziehungsweise Hinweis präsentiert.

Fazit: Ein ungewöhnliches Abenteuer an einem ungewöhnlichen Ort unter Zeitdruck mit trotzdem vielen Freiheiten. Die Autoren haben dazu eine optimale Aufbereitung für den Spielleiter geschaffen, der dadurch auf nahezu fast jede Eventualität vorbereitet ist. Eine Kaufempfehlung für fast alle Spieler!


Namenlose Nacht - Orgien in den Thermen
Abenteuerband
Anton Weste, Thomas Finn
Ulisses Spiele 2014
ISBN: n.a.
152 S., PDF, deutsch
Preis: EUR 20,00

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