My City

Im Westen die Berge, im Osten ein Wald, dazwischen eine fruchtbare Ebene, die von einem Fluss durchzogen wird – neues Land, das darauf wartet, von uns besiedelt zu werden. „My City“ aus dem Hause Kosmos ist nicht nur ein Legacy-Spiel, sondern kann mit Autor Reiner Knizia und Illustrator Michael Menzel auch eine illustre Herkunft aufweisen.

von Michael Wilhelm

Bei der diesjährigen, Corona-bedingt als Hybrid-Veranstaltung durchgeführten Verleihung zum Spiel des Jahres musste sich „My City“ jedoch dem nicht minder innovativen „Pictures“ geschlagen geben. Nach wie vor stellen die Legacy-Spiele, also Brettspiele, deren Material sich während des Spielens unwiederbringlich verändert, ein junges Genre dar. Bisher waren sie eher im erzählerischen Abenteuer- oder Entwicklungsspiele-Bereich angesiedelt. Man denke nur an die inzwischen auf drei (wie bei TV-Serien bezeichneten) Seasons angewachsene „Pandemic Legacy“-Reihe. Echte Bauspiele sind nach wie vor die Ausnahme. Das ändert sich nun mit „My City“.

„My City“ ist allerdings auch nicht das erste Mal, dass Reiner Knizia Spiele-Geschichte schreibt. Vor 20 Jahren erschien, ebenfalls bei Kosmos, „Der Herr der Ringe“, sozusagen der Prototyp der kooperativen Spiele, wo sich bis zu fünf Hobbits (die vier aus Büchern und Filmen, plus Fredegar Bolger, der eigentlich zurückblieb, um für Frodo Beutelsend zu hüten) auf den Weg nach Mordor machen, um den Ring zu zerstören. Dieses erste rein kooperative Spiel schließt auch wieder den Kreis zu „Pandemic Legacy“, den modernen Koop-Legacy-Klassikern.

Hier kam dann bei mir der erste Vorbehalt auf. Während in kooperativen Legacy-Spielen immer die Spielerinnen und Spieler gemeinsam dauerhafte Veränderungen erreichen (oder erleiden), ist das in kompetitiven Spielen definitiv anders. Die Gefahr ist groß, dass die Balance und damit auch die Langzeit-Motivation leiden, wenn man mit dauerhaften Nachteilen bestraft wird, oder die Legacy-Komponente wird völlig banal, wenn die Veränderungen keine Konsequenz für das weitere Spiel haben.



Also war ich sehr gespannt, wie das in „My City“ umgesetzt werden sollte. Um es kurz vorweg zu nehmen: Es hat geklappt. Das habe ich allerdings von dem erfahrenen Autor (und promovierten Mathematiker) Reiner Knizia auch gar nicht anders erwartet. Neben Herrn Knizia stammt der zweite wichtige Beitrag von einem der profiliertesten Illustratoren der Branche, Michael Menzel, der mit „Legenden von Andor“ auch als Autor äußerst erfolgreich ist. Die Illustrationen sind in einem Lege- und Bauspiel natürlich nicht von so großer Bedeutung wie in der „Andor“-Reihe, strotzen aber vor Details und sind gleichzeitig von großer Klarheit und Funktionalität.

Überhaupt hat das Spielmaterial die von Kosmos erwartete hohe Qualität. Neben vier Spielplänen sind das zunächst 24 Gebäudeteile in rot, gelb und blau für jeden Spieler, vier hölzerne Zählsteine und ein Set der zu den Gebäudeteilen passenden Spielkarten. Das ist natürlich noch lange nicht alles. In der Schachtel finden wir noch acht Umschläge mit zusätzlichen Materialien für die acht Kapitel der Legacy-Geschichte. Jedes Kapitel umfasst drei einzelne Partien und wartet neben zusätzlichen Legeteilen auch mit Regel- und Wertungsblättern und jeder Menge Stickern auf.

Zu Beginn geben alle Mitspieler*innen ihren Städten Namen. Außerdem sind jede Stadttafel und die zugehörigen Gebäudeteile mit einem Tier-Symbol (Adler, Bär, Wolf und Hirsch) markiert. Nachdem man sich so vorbereitet hat, geht es los.



Zu Beginn jedes (gleichzeitig durchgeführten) Zuges wird die oberste Spielkarte aufgedeckt und das zugehörige Gebäudeteil in der eigenen Stadt angelegt. Das erste Gebäude der Stadt muss am Fluss gebaut werden. Dabei legen stets alle Mitspieler*innen gleichzeitig ihre Teile an. Weitere Gebäude werden an schon liegende angelegt, sodass vom Fluss ausgehend die Stadt wächst. Die Partie geht solange, bis entweder alle 24 Karten aufgedeckt wurden oder alle Spieler*innen gepasst haben.

In den Partien des ersten Kapitels gilt es, die Gebäude möglichst passend auf die freien Flächen zu bauen, Steinfelder (die Minuspunkte geben) abzudecken und Baumfelder (die Punkte geben) freizulassen. Leere Felder bringen ebenfalls Minuspunkte. Am Ende der Partie wird abgerechnet. Wer die meisten Punkte hat, bekommt zwei Fortschrittspunkte und der oder die Zweitplatzierte einen Fortschrittspunkt. Diese Fortschrittspunkte sind nach Ende der acht Kapitel ausschlaggebend für die Schlusswertung. Wichtigste Quelle für Fortschrittspunkte ist stets die Wertung einer einzelnen Partie. Im späteren Verlauf gibt es aber auch noch andere Möglichkeiten welche zu bekommen. Das soll hier aber nicht gespoilert werden.

Um die Balance zu wahren, kommt hier noch ein schöner Kniff dazu. Wer in einer Partie den dritten oder vierten Platz gemacht hat, wird beispielsweise mit Baum-Stickern belohnt, die in weiteren Partien zusätzliche Punktgewinne ermöglichen. Die Plätze eins und zwei werden gerne mal mit einem Stein-Sticker bestraft, der im Falle des Nichtabdeckens Minus-Punkte gibt. Die Belohnungen und Strafen verändern sich, wie auch die Regeln und Wertungen im Verlauf des Spiels. Dabei verfolgt man mit jedem Kapitel die Entwicklung der Stadt von ihren simplen Anfängen (irgendwo im Mittelalter?) über Bergbau, Goldrausch, Eisenbahnbau und Industrialisierung bis in moderne Zeiten. Die anfangs noch ziemliche leere Stadttafel füllt sich mit zusätzlichen Spiel-Bereichen und auch das Baugebiet wird nach und nach, teils sogar in mehreren Schichten, überklebt, um Platz für Sägewerke und Eisenbahnen zu machen.



Interessanterweise sind die Grundregeln so simpel und logisch, dass man das Regelheft nach der Lektüre vor dem ersten Kapitel eigentlich kaum noch zur Hand nimmt, sondern sich in jedem Kapitel nur noch mit den neuen Kapitel-spezifischen Regeln auseinandersetzt. Die muss man aber immer genau lesen, denn manche Regeln werden in spätere Kapitel übertragen, andere werden durch gänzlich neue ersetzt. So bleibt zwar das Grundgerüst (Karte ziehen – Gebäude legen) immer gleich, trotzdem muss die zum Ziel führende Strategie immer neu angepasst werden. Das gelingt den Spieler*innen unterschiedlich gut, sodass das Spielglück in der Gesamtwertung, angezeigt durch die Fortschrittspunkte, immer wieder hin- und herwogt. Durch die Straf- und Belohnungssticker ist allerdings für Ausgleich gesorgt.

In unserer Gruppe war das schön zu beobachten: eine Mitspielerin sahnte in den Anfangspartien, als ein möglichst lückenloses Bauen gefordert war, richtig ab. Als in späteren Kapiteln diese Regel nicht mehr galt und andere Dinge Punkte brachten wendete sich das Geschick und andere Spieler*innen machten öfters das Rennen. Das sollte aber nicht als Nachteil angesehen werden, sondern stellt eher eine Stärke von „My City“ dar. So bleibt es stets spannend, wer in der Schlusswertung die Nase vorne hat. Voraussetzung ist allerdings, dass man mit der gleichen Gruppe spielt. Wer über Familie oder andere Mitbewohner verfügt, sollte also während der Corona-Pandemie keine Probleme haben, ein paar Abende zu füllen.



Eine wichtige Frage bei Legacy-Spielen ist: Was macht man mit Spiel, Box und Material nach der letzten Partie? Wegschmeißen kommt für passionierte Spiele-Sammler*innen wie mich eigentlich nicht in Frage. Dafür hat Reiner Knizia auch eine Lösung gefunden: das „ewige Spiel“. Auf der Rückseite der vier Stadttafeln finden wir dafür ein Standard-Spielfeld, das für weitere Spiele genutzt werden kann. Dafür wird dann einiges Spielmaterial aus späteren Kapiteln wieder raussortiert. Die Regeln entsprechen dabei ungefähr dem 4. Kapitel. Wer also auch nach der 24 Spiele umfassenden Kampagne nicht genug hat, der kann so einfach mit Einzelpartien weitermachen.

Fazit: Auf ein Spiel wie „My City“ habe ich (und viele andere sicherlich auch) gewartet: ein niedrigschwelliges Legacy-Spiel im Familienspiele-Segment, mit hochwertigem Spielmaterial, abwechslungsreichen, stets nachvollziehbaren Regeln von Großmeister Reiner Knizia und schönen Illustrationen von Michael Menzel. Bei 24 Spielen zu 30 Minuten sind das 12 Stunden gute Unterhaltung für bis zu vier Spieler*innen, die im Gedächtnis bleiben. Und wer noch mehr will, für den gibt es das „ewige Spiel“.

My City
Brettspiel für 2 bis 4 Spieler ab 10 Jahren
Reiner Knizia, Michael Menzel
Kosmos 2020
EAN: 4002051691486
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 29,95

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