von Frank Stein
Genau genommen ist das mit der „neusten Inkarnation“ falsch, denn „X-Men Resistance“ kam seinerzeit (im Januar 2022) als Geschwisterprodukt zu „Marvel Zombies“ zur Crowdfunding-Plattform Kickstarter. Das Doppelpack, das – ebenso wie eine Handvoll Erweiterungen – auf einer gleichnamigen Comic-Reihe von Robert Kirkman aus der Mitte der 2000er basiert, legte eine furiose Kampagne hin. Fast 29.000 Unterstützer investierten gut 9 Millionen Dollar – Pledge-Manager-Einnahmen nicht eingerechnet. Dabei war das zweigleisige Projekt ein interessantes Novum, denn erstmals konnte man nicht nur heldenhafte Überlebende (hier: Marvel-Helden) im Kampf gegen Zombies verkörpern, sondern auch zombifizierte Helden auf der Jagd nach S.H.I.E.D.-Agenten und Heldenkollegen. „Marvel Zombies“ war gewissermaßen die Innovation, „X-Men Resistance“ ist die klassischere „Zombicide“-Variante.
Denn auch wenn sich Regeln im Detail unterscheiden (wie bei allen Varianten übrigens), ist und bleibt „X-Men Resistance“ erkennbar „Zombicide“: ein kooperatives, taktisches Hack-&-Slay-Brettspiel für 1 bis 4 (optional auch 5 oder 6) Spieler, das in einem urbanen (hier Superhelden-)Setting angesiedelt ist, über das eine Zombie-Apokalypse hinweggegangen ist. Die Spieler schlüpfen in die Rollen von sechs möglichen Helden respektive Anti-Helden und müssen in 10 einzelnen Missionen – es gibt keinen Kampagnenmodus – gewisse Aufgaben erledigen und unterwegs reichlich Zombie-Fußvolk sowie zombifizierte Superhelden bekämpfen. Dabei darf keine der Spielerfiguren sterben, sonst ist eine Partie verloren. Das Spiel dauert 30 und 120 Minuten und ist ab 14 Jahren empfohlen. Von der Optik her wäre das nicht unbedingt nötig; Ekelmomente gibt es eigentlich nicht. „Zombicide“ ist aber taktisch durchaus anspruchsvoll, und eine gewisse Frustrationstoleranz sollte man auch mitbringen.
CMON-typisch sieht auch „X-Men Resistance“ mal wieder richtig gut aus. Das gilt für die 9 doppelseitig bedruckten Spielplanteile, die sich komplett dem Erdgeschoss, Ober- und Untergeschoss der X-Mansion (inklusive Cerebro und X-Jet) widmen und in comic-bunten Farben daherkommen, es gilt aber auch für die Charakterbögen, Spawnkarten, Superheldenkarten und Nebencharakterkarte, die nicht im typischen, etwas grotesken „Zombicide“-Stil daherkommen, sondern sehr Marvel-artig von Marco Checchetto und seinen Mitstreitern illustriert wurden. Ein Augenschmaus sind wieder die Miniaturen, und hier bekommt man ganze 87 davon. Der Großteil davon besteht aus 63 Zombies, die sich – man kennt das aus den anderen „Zombicide“-Spielen – in Schlurfer, Fettbrocken und Läufer unterteilen. Wie immer wurden den Einheiten verschiedene Posen spendiert, sodass für Abwechslung auf dem Spielplan gesorgt ist.
Dazu gesellen sich 12 sogenannte Nebencharaktere, also Comic-Figuren des X-Verse wie William Stryker, Senator Kelly, Bolivar Trask oder Moira MacTaggert, die unterschiedliche Funktionen innerhalb von Szenarien haben können, aber vor allem vor den Zombies gerettet werden wollen. Zuletzt sind da noch die 6 Superhelden (Wolverine, Rogue, Storm, Colossus, Magneto oder Mystique) und 6 Zombiehelden (Cyclops, Iceman, Sabretooth, Juggernaut, Psylocke und Dark Phoenix). Zombiehelden ersetzen gewissermaßen die Monstren der anderen „Zombicide“-Spiele, sind sie doch besonders knackige Gegner mit 3 bis 4 Lebenspunkten, 2 Aktionen sowie jeweils einer Spezialfähigkeit. Wobei ich ganz ehrlich sagen muss, dass es durchaus leichter ist, als Superheld einen Zombieheld umzuhauen, als es anders herum in „Marvel Zombies“ der Fall war. Warum, erkläre ich gleich.
Die Helden sind eine durchaus illustre Riege, die schöne, individuelle Fähigkeiten mitbringen. So kann Storm etwa Feinde ein Feld weit wegpusten, Colossus ignoriert mit seiner Stahlhaut einen Schaden pro Runde und Wolverine wird zur wahren Kampfsau, wenn er erst einmal verwundet wurde. Anders als bei anderen „Zombicide“-Spielen hat man hier auch bei Levelaufstieg nicht mehr die Wahl zwischen eher allgemeinen Fähigkeiten (etwa: „+1 Kampfwürfel“), sondern schaltet speziell auf den Charakter zugeschnittene Kräfte frei. Zu kritisieren wäre, dass es eher wenige Spielerfiguren gibt. Noch „Undead or Alive“ enthielt sage und schreibe 14 Überlebende, die man führen konnte. Das war eine schöne Auswahl. Dafür gab es nur ein Monstrum. Durch die 6 Zombiehelden hier wurde die Riege an Superhelden mit 6 auf das Nötigste reduziert, sodass man rasch nach Erweiterungen lechzt, um Abwechslung auf dem Spielbrett zu sehen.
Naheliegend ist hier natürlich das voll kompatible „Marvel Zombies“. An dem ist „X-Men Resistance“ auch sonst sehr orientiert. Alle Regeländerungen, die dort eingeführt wurden, gibt es auch hier. Die Aktivierung der Helden ist völlig flexibel, eine sinnvolle Modernisierung. Es gibt keinen Lärm mehr. Ausrüstung wurde völlig gestrichen. Zum Ausgleich wurden sogenannte Merkmal-Karten eingeführt, die für individuelle einmalige Kampfeffekte sorgen, wenn man sie zieht, einer Ereigniskarte ähnlich. Friendly Fire bei Angriffen in ein Feld mit befreundeten Figuren gibt es auch nicht mehr. Das ergibt Sinn, denn Superhelden schießen nicht daneben. Zuletzt wurden Monstren abgeschafft. Dafür gibt es nun die schon erwähnten Zombiehelden.
Vom Spielablauf her ist das Ganze aber eindeutig „Zombicide“, wenn man es kennt und mag. Vor einer Partie wählt man sich eine Mission aus. Diese bestimmt den Aufbau des Spielfelds, inklusive verteilter Zielplättchen, Spawnzonen und Start-Gegner. Mitunter bringt eine Mission ein bis zwei kleine Sonderregeln ins Spiel, die aber leicht verinnerlicht sind. Gespielt wird regulär mit 4 Superhelden, aber bis zu 6 sind mit dieser Box möglich, wobei einzelne Szenarien dann zusätzliche Erschwernisse ins Spiel bringen. Die Helden werden unter allen Mitspielern verteilt. Das mag im Solo-Spiel etwas einschüchternd wirken, tatsächlich aber kann man sie sehr gut managen, was nicht zuletzt daran liegt, dass alle Charakterfähigkeiten auf den Charakterkarten beschrieben sind.
Gespielt wird – wie seit dem ersten „Zombicide“ – in Runden, die in 3 Phasen aufgeteilt sind: eine Spielerphase, eine Gegnerphase und eine Endphase. In der Spielerphase muss zunächst bei allen Superhelden die Power um einen Punkt erhöht werden. Power ist eine Art Universalzahlungsmittel, das einerseits genutzt wird, um spezielle Fähigkeiten auf Merkmal-Karten oder Nebencharakterkarten auszulösen und andererseits im Kampf 1-zu-1 gegen Würfel eingetauscht werden kann, was mitunter nötig ist, denn Gegner müssen mit einem einzelnen Angriff besiegt werden – und die meisten Helden haben nur 2 bis 3 Würfel von Haus aus. Das reicht nicht, um etwa einen Zombiehelden zu bezwingen. Hier ist die Extra-Power gefragt. Diese „Power“ unterscheidet übrigens die Superhelden von den Zombiehelden in „Marvel Zombies. Diese müssen sich mit ihrem „Hunger“ herumschlagen, der wesentlich gefährlicher und schwerer in der Balance zu halten ist. Das schon mal merken fürs Fazit.
Danach dürfen alle Superhelden in beliebiger Reihenfolge aktiviert werden und 3 Aktionen ausführen. Dazu zählen: bewegen, angreifen, Tür oder Fenster zerschlagen, interagieren, einen Nebencharakter retten, Power-Up und eine Merkmal-Karte nehmen. Die Angriffswerte im Kampf werden durch den einzigartigen Helden-Angriff bestimmt (modifiziert durch Power-Würfel). Mit einer entsprechenden Anzahl Würfel muss man einen festgelegten Zielwert erreichen; jeder Erfolg ist ein Treffer, der 1 Schadenspunkt anrichtet und damit Schlurfer und Läufer sofort tötet. Also auch wenn im Spielverlauf eine Zombie-Welle über einen hinwegschwappt: Mit etwas Glück und Wolverines Adamantium-Krallen (eine Wunde und etwas Power vorausgesetzt) kann man durchaus ein halbes Dutzend der Untoten in einem Zug umhauen. Für gewöhnlich lässt man Feinde besser nicht zu nah an sich heran, aber hier ist „X-Men Resistance“ taktisch schwerer als anderer Editionen: Viele der Superhelden sind Nahkämpfer, das heißt sie müssen den Feind in ihr Feld lassen, bevor sie ihn bekämpfen können. Würfelt man dann nicht gut genug, ist der Gegenschlag vorprogrammiert. In diesem Zusammenhang ist Storm Gold wert, die mal rasch alle Feinde ein Feld weit wegbläst.
In der Gegnerphase steuert das Spiel die Zombies und Nebencharaktere. Jeder Zombie auf dem Spielplan wird aktiviert und darf entweder angreifen, wenn er sich in einer Zone mit einem Superhelden befindet, oder er bewegt sich eine Zone auf die nächstbesten Helden zu. Läufer und Zombiehelden haben dabei zwei Aktionen, ja, auch zwei Angriffe! Damit zuverlässig an der Spannungsschraube gedreht wird, erfolgt nach der Aktivierung das Spawnen, das heißt in jeder der auf dem Spielplan verteilten Spawnzonen tauchen Zombies auf. Von diesen gibt es gern 3 bis 5, an Gegnern herrscht also kein Mangel. Was genau in den Spawnzonen erscheint, entscheidet eine gezogene Spawnkarte und dann noch das farblich codierte Level der Helden. Diese erhalten für jeden besiegten Gegner Erfahrungspunkte und steigen damit bis zu dreimal auf (von Stufe blau über gelb und orange bis rot). So erhalten sie zwar neue Fähigkeiten, aber gleichzeitig werden auch die Gegner immer zahlreicher und lästiger.
In der Endphase werden Effekte ausgeführt, die sich auf die Endphase beziehen. Das wird so lang fortgesetzt, bis entweder die Siegbedingungen für die Mission erfüllt sind – oder die für eine Niederlage eintreten (meist der Tod eines Helden).
Es zeigt sich: Auch „X-Men Resistance“ ist immer noch ein „Zombicide“-Spiel, wenn auch eins, das einige Dinge anders macht. Mir gefallen die Punkte, die das Spiel beschleunigen: der Verzicht auf Lärm, die flexible Zugreihenfolge der Helden, die Fähigkeiten der Helden, die komplett auf der Charakterkarte beschrieben werden. Auch die Ausrüstung vermisst man bei Superhelden nicht. Vom Schwierigkeitsgrad her ist „X-Men Resistance“ eindeutig leichter als sein Geschwisterprodukt „Marvel Zombies“, weil die Helden kein Problem mit dem Hunger haben, das heißt auch, dass ein gewürfeltes Gebiss (eine 1) keine Auswirkungen hat. Es ist halt eine 1, in der Regel ein Misserfolg. Darüber dürften sich vor allem jene Marvel-Fans freuen, die sich eher Gelegenheitsspieler nennen würden.
Eine abschließende Sache noch: Wer sich die volle Comic-Helden-Zombie-Dröhnung geben will, der leistet sich beide Spiele: „X-Men Resistance“ und „Marvel Zombies“. Denn natürlich können alle Superhelden, Zombiehelden und Nebencharaktere sowohl für den Heldenmodus von „X-Men Resistance“ als auch Zombiemodus von „Marvel Zombies“ genutzt werden. Jeder Miniatur beide Spiele liegen jeweils 2 Charakterkarten passend dazu bei. Das verdoppelt gleich mal das Personal. Und auch die Missionszahl erhöht sich, weil in beiden Boxen jeweils auch 5 Missionen für den Spielmodus der anderen Box enthalten sind.
Fazit: „X-Men Resistance“ ist das Gegenstück zu „Marvel Zombies“. Verkörperte man dort die Zombie-(Anti)Helden, darf man hier wieder echte (Super)Helden steuern, die sich gegen hungrige Untote und infizierte Kollegen wehren. Trotz gewisser Anpassungen bleibt das Ganze erkennbar ein „Zombicide“-Spiel, also ein actionreiches und nicht selten knackiges Hack-&-Slay-Taktikspiel. Der Schwierigkeitsgrad ist dennoch moderater als bei „Marvel Zombies“. Und auch weil man hier eben Helden verkörpert, halte ich „X-Men Resistance“ für das zugänglichere der beiden Spiele. Wer also das Marvel-Universum liebt und „Zombicide“ entweder eh mag oder dem Spiel eine Chance geben will, der sollte zum Einstieg definitiv zu dieser Box greifen. „Marvel Zombies“ ist dann eher was für Kenner und Könner.
Marvel Zombies: X-Men Resistance – Ein Zombicide-Spiel
Brettspiel für 1 bis 6 Spieler ab 14 Jahren
Michael Shinall, Fábio Cury
CMON/Asmodee 2023
EAN: 4015566604827
Sprache: Deutsch
Preis: 119,99 EUR
bei amazon.de bestellen