Lycidas

Christoph Marzi entführt den Leser auf eine fesselnde Reise durch London – oder besser gesagt gleich durch mehrere Londons: das London von heute, eines der Vergangenheit und ein verborgenes, mystisches, phantastisches: die „uralte Metropole“. Marzi – in der Gestalt des Erzählers Mortimer Wittgenstein – dient dabei als Reiseführer (und Lehrer und Beschützer) der Hauptperson Emily Laing, die plötzlich in einen intrigenreichen Machtkampf um die uralte Metropole, einen Ort voller mystischer Wesen, verwickelt wird… doch „Zufälle gibt es nicht“.

von Roland Kasper

 

Zum Inhalt (Achtung Spoiler! – jedoch nur eine grobe Zusammenfassung der Haupthandlung):

Buch I: Lycidas

Emily Laing ist 12 Jahre alt, lebt im Waisenhaus von Reverend Dombey in Rotherhithe und hat ein Glasauge. Eines Tages spricht eine Ratte namens Lord Hyronimus Brewster zu ihr und trägt ihr auf, auf ein neu ins Waisenhaus gekommenes Kind namens Mara aufzupassen. Kurz darauf wird dieses Kind von einem Werwolf entführt und Emily flieht aus dem Waisenhaus ins nächtliche London, wo sie wiederum von der Ratte in die Obhut des Alchimisten Mortimer Wittgenstein gegeben wird. Dieser klärt sie darüber auf, dass sie eine Halbelfe ist (offensichtlich von einer elfischen Mutter und einem menschlichen Vater, was durch leicht spitze Ohren auffallen würde, im Gegensatz zu ihm, dessen schmale Augen ein Zeichen dafür seien, dass der Vater Elf und die Mutter Mensch war). Weiterhin erfährt sie, dass sie eine Trickster ist und die Gabe hat, in ein anderes Bewusstsein zu blicken und mit der nötigen Ausbildung dieses gar verändern kann.

Zusammen mit dem ewig weiß gekleideten Elfen Maurice Micklewhite (Bibliothekar in der Nationalbibliothek des Britischen Museums) und ihrer – durch eben jenen – aus Rotherhithe befreiten Freundin Aurora Fitzrovia sowie dem als Pfadfinder angeheuerten, nur in einem unverständlichen Manchesterdialekt sprechenden Irrlicht Winston Dinsdale machen sie sich auf die Suche nach der entführen Mara Mushroom und weiterer in ganz London verschwundener Kinder. Diese führt sie in die uralte Metropole – einem London unterhalb von London, bevölkert von mystischen Gestalten: Elfen, Werwölfen, Arachniden, Restefressern, Händlern, Tunnelstreichern, Torwächtern, steinernen, Brücken bewachenden Rittern, vergessenen Göttern und arbeitslosen Engeln. Unterteilt ist diese Welt in konkurrierende Reiche, doch im Großen und Ganzen herrscht dank der Heirat zwischen Martin Mushroom und Mia Manderley, den Erben der beiden großen Elfenhäuser, ein brüchiger. Dieser scheint durch die Entführung Mara Mushrooms, der Tochter der beiden, nun gefährdet.

Weiterhin scheint sich eine neue Macht im Tower von London eingenistet zu haben: Master Lycidas, dessen Gefolgsmann, der Lordkanzler von Kensington – niemand anderes als der vergessene Totengott Anubis – durch die ihm hörigen Werwölfe Kinder entführen lässt, um sie Lycidas zukommen zu lassen. Nach einem Abstecher in den neunten (sehr zugefrorenen) Kreis der Hölle (Einstieg durch die uralte Metropole möglich), die durch in unzähligen Jahrhunderten entführte und ihrer Seelen beraubte Kinder erweitert wird, ereilt Lycidas ein gerechtes Schicksal und für die Kinder gibt es ein Happy-End.

Buch II: Lilith

Ein Jahr später: Emily und Aurora leben sich in ihr neues Leben ein, tagsüber besuchen sie die „Whitehall Schule für Höhere Töchter und Söhne“ von Miss Monflathers, die ebenfalls Verbindungen zur uralten Metropole hat, nachmittags wird Emily von Wittgenstein in ihren Fähigkeiten als Trickster und als Alchimistin ausgebildet, Aurora lernt von Micklewhite viel über die uralte Metropole. In eben dieser scheint sich neues Ungemach breit zu machen, Rattlinge, böse gewalttätige Kreuzungen aus Ratten und Echsen, werden gesichtet und irgendetwas begeht Morde, die an die Verbrechen von Jack the Ripper erinnern. So machen sich Emily und Wittgenstein in die uralte Metropole auf und finden in der „Region“, einer begrabenen römischen Ruinenstadt, einen Abgrund in die tiefsten Tiefen und einen Golem, bewacht von gefährlichen Hymenopteras. Diesen können sie gerade so entkommen, wobei sie getrennt werden. Emily lernt dabei den charmanten Dorian Steerforth kennen, in den sie sich verliebt. Es zeigt sich auch, dass der Sieg über Lycidas ein zweifelhafter war, denn nur dieser hat in den vergangenen Jahrhunderten einem unglaublich mächtigen, dunklen Wesen, dem Ophar Nyx Einhalt in dessen Bestrebung geboten, London zu erobern. Die Rattlinge sind Vorboten dieses Wesens, das nun ungehindert daran gehen kann, die Macht an sich zu reißen, wenn Lycidas nicht zurückkehrt. So machen sich Wittgenstein, Micklewhite, Monflathers und der Engel Rahel auf, zu tun, was getan werden muss. Emily verrät derweil, manipuliert durch Dorian Steerforth, ihre Freundschaft zu Aurora.

Buch III: Licht

Verzweifelt sucht Emily Manderley Manor auf und erfährt dort einiges über ihre Familiengeschichte. Während sie dort ist, wird Mara erneut entführt, dieses mal von Dorian Steerforth, der sie nach Blackheath zum Stammsitz der Familie Mushroom bringt. Wittgenstein und Emily werden zu Anubis gebracht, der mit ihnen in das Totenreich hinabsteigt, wo Emily ihr Augenlicht gegen Aurora eintauscht. Lycidas wird befreit und klärt alle über einige der vergangenen Geschehnisse und die laufenden Intrigen und Bündnisse auf, die dazu führen sollen, dass der Ophar Nyx die Stadt erobert. Und dann kommt es zum großen Kampf um die uralte Metropole.

Was gibt es noch zu sagen?

Marzi webt eine spannende, verwickelte Geschichte voller Intrigen und Abenteuer in einer farbenfroh grauen Welt. Farbenfroh aufgrund der Vielfalt und der Lebendigkeit der Beschreibungen; so tummeln sich unzählige Wesen an Dutzenden detailliert beschriebenen Orten und man hat regelrecht Anteil an einer „existierenden“ Stadt. Grau aufgrund der vorherrschenden Stimmung, für die das neblige London mit seinen anonymen Menschenmassen eine passende Kulisse bildet.

Es ist keine Geschichte von Gut gegen Böse, denn letzten Endes sind doch alle grau und jeder folgt eigenen Motiven. Gerade das macht die Geschichte nur noch spannender, denn unerwartete Wendungen lauern in jedem Kapitel, da man nicht weiß, wer Verbündeter und wer Feind ist.

Marzis Schreibstil ist etwas gewöhnungsbedürftig, da er häufig kurze, abgehackte Sätze verwendet, die die Gedanken Wittgensteins darstellen. Weiterhin ist die Geschichte nicht linear erzählt, vieles erfährt man erst in Rückblenden in späteren Kapiteln (oder sogar erst im nachfolgenden Buch), was der Spannung jedoch keinen Abbruch tut und bemerkenswerterweise auch niemals unübersichtlich wird.

Fazit: „Lycidas“ ist alles in allem ein durchgängig spannendes Buch in einer faszinierenden Kulisse, mit „lebendigen“ Charakteren, jenseits von üblichen Klischees. Dieser Roman macht Lust auf mehr und so erwarte ich voller Spannung eine Fortsetzung der Geschichte von Emily Laing, Mortimer Wittgenstein und allen anderen. Denn diese ist sicherlich noch lange nicht zu Ende erzählt, dazu sind London und die uralte Metropole zu groß (und zu viele Nebenbemerkungen warten noch auf Antworten).


Lycidas
Fantasy-Roman
Christoph Marzi
Heyne 2005
ISBN: 3-453-53006-3
861 S., Paperback, deutsch
Preis: EUR 14,00

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