von Roland Kasper
Zum Inhalt
Vier Jahre nach den Ereignissen in „Lycidas“ wendet sich Marzi wieder seinen Charakteren um die Uralte Metropole Londons zu. In eben dieser verschwinden immer häufiger Einwohner und als ein grässlich zugerichteter Ermordeter aufgefunden wird, zieht man Emily aufgrund ihrer besonderen Trickstergabe, die letzten Erfahrungen eines Toten spüren zu können, hinzu. Sie findet heraus, dass vampirähnliche Monster (Vinshati), zu denen wohl auch der Verlobte ihrer neuen Freundin Eliza Holland gehört, für die Morde zuständig sind.
Im weiteren Verlauf des Romans offenbart sich unseren Helden die Geschichte eines uralten vampirschaffenden Wesens, das nun nach London gekommen ist und die Uralte Metropole langsam entvölkert. In Legenden und Geschichten, die aus allen möglichen Quellen kommen (erzählt von uralten Weisen, Reiseberichte, die ihnen zugesteckt werden, etc.), können Emily & Co. die Spuren dieses Wesens und verschiedener anderer betroffener Gestalten durch die Jahrhunderte und die halbe Welt (über Indien, den Balkan und Ägypten bis ins alte Babylon) verfolgen, ohne jedoch selbst viel zu Agieren.
Im Laufe der Erzählung schälen sich mehrere beteiligte Fraktionen heraus. Eine Zuordnung der zum Teil unter mehreren verschiedenen Namen in Erscheinung tretenden „Personen“ zu diesen Gruppierungen, sowie das Durchschauen ihrer Motive, bleibt bis zum auflösenden Ende undurchsichtig.
Durch die Entführung von Emilys Mutter wird Emily gezwungen, sich auf die Suche nach der in „Lycidas“ gestorbenen Lilith zu begeben. Letzten Endes wird diese Reise sie (wieder einmal) in die Hölle (wenn auch in einer anderen Darstellung als die Eistunnel in „Lycidas“) führen, nicht ohne vorher einen Abstecher nach Paris und deren Version der Uralten Metropole unternehmen zu müssen, da die Zugänge zur Hölle in der Londoner Uralten Metropole verschlossen sind.
Bei ihren Abenteuern begegnen die „Helden“ in gewohnter Weise einem vielfältigen Spektrum mythisch-mystischer Wesen (von diversen ägyptischen Göttern, über redende Ratten, goldene Falken, Gargylen, Sphinxen und Engel bis hin zur Urmutter aller Vampire), die wie immer nicht eindeutig als „Gut“ oder „Böse“ oder gar als „Freund“ oder „Feind“ zu erkennen sind. Jedes Wesen hat seine eigenen undurchschaubaren Motive und so bleibt alles im Fluss. Sogar zum Schluss ist man sich nicht sicher, wer letzten Endes Verbündeter oder Gegner war oder auf wessen Seite die Betroffenen in Zukunft stehen werden.
Meine Beurteilung
Deutlich kürzer als der erste Roman („Lilith“ hat zwar ähnlich viele Seiten wie „Lycidas“, dafür wurde aber ein ungleich größerer Schriftgrad – Typ Anfängerlesebuch – verwendet, was den Wortumfang um etwa 1/3 reduziert) und deutlich blutiger (die Einwohner ganzer Stadtteile der Uralten Metropole und die Insassen vollbesetzter Züge müssen auf brutale Art ihr Leben lassen) liest sich der Roman stellenweise trotzdem recht träge. Dies liegt daran, dass die Hauptpersonen so gut wie nicht handeln, sondern weitestgehend nur als Augen und Ohren für den Leser dienen, indem sie etwa Geschichten erzählt bekommen oder lesen, in denen wiederum andere Geschichten erzählt werden, oder sich zufälligerweise (obwohl wir ja wissen: „Zufälle gibt es nicht“) an Orten befinden, an denen gerade etwas passiert. Aus gefährlichen Situationen können sie meist nur durch das Einschreiten anderer Wesen entkommen (im wahrsten Sinne per „Deus ex Machina“) und man hat den (vielleicht gewünschten) Eindruck, dass sie nur unselbstständige Figuren in einem Spiel höherer Mächte sind.
Durch die ständigen Ausblicke auf Ereignisse, die dann erst in späteren Kapiteln ausgeführt werden, baut Marzi trotzdem einiges an Spannung auf, die sich aber durch die häufige Wiederholungen der gleichen Geschichten (in jeweils etwas abgewandelter und „richtigerer“ Form) dann wieder etwas verliert. Leider endet die Geschichte in einem recht kurzen, unspektakulären und trotz der Ereignisse merkwürdig unemotionalen Finale.
Fazit: Ich finde „Lilith“ leider deutlich schwächer als den Vorgänger „Lycidas“ und bei mir verbleibt der Eindruck, dass dieser Roman nur ein Übergangskapitel oder eine Einleitung zu dem – vermutlich geplanten – Nachfolgeroman ist: die Bühne ist bereitet, die Figuren sind in Startposition...
Lilith
Fantasy-Roman
Christoph Marzi
Heyne 2005
ISBN: 3-453-52135-8
687 S., Paperback, deutsch
Preis: EUR 14,00
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