Lateinamerika in den Schatten (SR3)

Es geht um Südamerika und Mittelamerika, auch Lateinamerika genannt. Also Atzlan und Amazonien, werden die meisten Shadowrunner denken, die in Seattle oder in der ADL agieren. Wer aber genauer hinsieht, entdeckt hier noch einiges mehr – und vor allem viele Jobmöglichkeiten hinter und zwischen den Grenzen dieser Giganten des Südens und ihrer kleineren Nachbarländer, die es hier ebenfalls gibt. Jedenfalls im Jahr 2064 noch.

von Adaon

Bevor die 6. Edition erscheint und die Zukunft von „Shadowrun“ weiterschreibt, werfen wir mit dieser Rezension einen Blick zurück in die Vergangenheit, in die Zeiten der 3. Edition und in das „Shadowrun“-Jahr 2064: 1998 erschien die 3. Edition von „Shadowrun“, welche bis 2005 Gültigkeit hatte. Die 3. Edition leitete damals das Jahr 2060 ein und brachte uns die Nachwirkungen des Renraku-Arkologie-Shutdowns, den Aufstieg der KI Deus, das Jahr des Kometen, den Terror-Angriff Winternights mit dem 2. Matrix-Crash und zum Ende der Dekade die kabellose Matrix.

Lange ist das her, sowohl im Spiel als auch in unserer Zeit. Doch nicht so lange, als das es keine Bedeutung mehr für die Charaktere in der 6. Welt oder uns Spieler hätte. Besonders für einige Fans gab es in dieser Zeit ein Projekt, das sie in eigener Arbeit voranbrachten: Den Quellenband „Lateinamerika in den Schatten“, ein Quellenband über Mittel- und Südamerika also. Dieser Band sollte 2005 auf Englisch erscheinen, sah jedoch nie das Licht der Welt, und die Arbeit daran wurde 2010 vom Verlag offiziell eingestellt.

Doch damit war die Arbeit jener Autoren, die Kapitel und Beiträge für dieses Quellenbuch verfasst hatten, nicht verloren. Die Autoren gaben die Texte, die sie geschrieben hatten, im Internet frei, und durch die Arbeit von Fans wurde daraus ein zusammenhängendes Buch erschaffen – und Ende 2018 wurde dieses Buch, hauptsächlich dank Tobias Grunow und Nadja Sommerfeld, auf ihrer Seite Spaceneedle.de vollständig übersetzt als deutsches PDF kostenlos zur Verfügung gestellt.

Vielen Dank, Leute!

Betrachten wir also die Schatten Lateinamerikas. Auch dieser nicht-offizielle Quellenband ist natürlich in Kapitel aufgeteilt, und das erste, „Die unsichtbare Zone“, beschreibt zunächst das oft übersehene Gebiet zwischen den Mächten Atzlan und Amazonien. Die ansässigen großen Konzerne – also ja, auch Atzlan – werden zusammengefasst. Und was ist eigentlich aus den ganzen Drogenkartellen in diesen Ländern geworden? Nun, die sind sozusagen gestorben und als die „Geisterkartelle“ (und wie manche sagen, als Werkeuge Amazoniens gegen Atzlan) wieder auferstanden. Auch der tödliche Dschungel, der schon vor dem Erwachen als „El Infierno Verde“, die Grüne Hölle, bekannt war, wird in einem Reisebericht vorgestellt.

Die nächsten Kapitel gehen auf die Länder dieses Kontinentes ein. Den Anfang macht „Amazonien“, das Land, an das die meisten Metamenschen in der sechsten Welt denken würde, wenn von Südamerika die Rede ist. Das ehemalige Brasilien, Urugay, Guyana und Suriname sowie große Teile Venezuelas und Kolumbiens bilden diese Republik die von einem Großen Drachen erschaffen wurde. Als „Erwachter Staat“ ist Amazonien sowohl Heimat sehr vieler magisch aktiver Metamenschen als auch zahlreicher Wesen, die anderswo keine Nische fanden  – wie Gestaltwandler, freie Geister, Nagas und Zentauren. Natürlich leben einige bekannte Drachen in diesem Gebiet, und trotz – oder gerade wegen – der starken Haltung zum Umweltschutz sind alle Megakonzerne in Amazonien vertreten, bis auf Atztechnology natürlich. Die Forschung in den Bereichen Umweltschutz, verschiedener Formen der Biotechnologie und alternativer Energiegewinnung gehört zur Weltspitze.

Danach geht es um „Argentinien“, jenes Land, das Amazonien erfolgreich Widerstand leistete. Gegen einen übermächtigen magischen Feind hielt die argentinische Armee unter hohen Verlusten stand, bis sich Amazonien zurückzog … so sagen es die Geschichtsbücher. Welche Vereinbarungen die Regierung eingehen musste und was sie aufgab, um Hilfe gegen Amazonien zu erhalten, wird dagegen nur geflüstert, auch aus Angst vor der staatlichen Geheimpolizei. Doch bekannt ist, das alle Megakonzerne im Land starke Vertretungen haben und es so gut wie keine Unternehmen im Land gibt, die nicht in ihrer Hand sind.

Weltweit bekannt, zumindest scheinbar, ist dagegen „Atzlan“. Wo hört das Land auf, und wo fängt der Megakonzern Atztechnology an? Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Beide sind identisch. Das Militär Atzlans arbeitet mit der Konzernsicherheit Atztechnologys zusammen, beide ausgerüstet durch Unternehmen, die hundertprozentige Tochtergesellschaften sind. Der Präsident des Landes ist zugleich im Aufsichtsrat – und er ist der höchste Priester des Pfades der Sonne, der offiziellen Staatsreligion. Nach außen hin wird mit einer Kultur ehrenvoller Opferung geworben, um das Leben zu würdigen, doch es ist ein offenes Geheimnis, das unerwünschte Personen in Atzlan oftmals an religiösen Zeremonien „teilnehmen“ – meist nur einmal. Ob nach Texas oder Richtung Amazonien: Atzlan wird sich ausbreiten. Einige schließen sich freiwillig an, der Rest wird überzeugt – mit verschiedenen Mitteln. Mag der Megakonzern Atztechnology auch weltweit beliebt sein, die Nachbarländer Atzlans wissen, was auf sie zukommt. Die Frage ist, ob sie es aufhalten können.

Etwas weniger lebensbedrohlich geht es in „Bolivien“ weiter. Zumindest scheint es so. Das seit der Revolution von 2050 durch die mächtigste (und einzige) Partei MOB regierte Land gibt sich als kommunistisches Arbeiterparadies. Die Religion, die Traditionen – alles wird auf Parteilinie gebracht, die sich zufällig mit der Aymara-Volksgruppe deckt. Pech für diejenigen, die einer anderen Religion oder einem anderen Stammeshintergrund angehören. Dadurch allerdings gewinnt die Neo-Inka-Bewegung immer mehr Zulauf. Und ebenso durch die regierungsgestützte, offiziell nicht stattfindende Zusammenarbeit mit zahlreichen Konzernen, um die Bodenschätze des Landes zu nutzen – natürlich im Namen des Volkes.

Im Nachbarland „Chile“ dagegen wird nicht im Verborgenen mit den Konzernen zusammengearbeitet – hier werden sie offen eingeladen und bevorzugt behandelt. Das beginnt schon an den Grenzübergängen: Wer mit einem Konzernpass anreist, wird einfach durchgewunken. Die Landfläche ist groß, und fast die gesamte Bevölkerung wohnt in den Städten. Das lässt den Konzernen genug Raum, um mit gewaltigen Tagebaubergwerken die Landschaft im wahrsten Sinne des Wortes „umzugraben“. Großflächige toxische Gebiete sind normal, als Arbeitskräfte werden gerne Strafgefangene „beschäftigt“, deren Verlust niemanden sonderlich stört. Die Bevölkerung selbst hat sich nach dem Zusammenbruch Indiens und Chinas auf Outsourcing für die Konzerne als Arbeitsquelle spezialisiert, was Chile zu einem Schwerpunkt Südamerikas in der Matrix macht.

Danach geht es rüber nach „Ecuador“. Unter dem mächtigen Nachbarn Amazonien gelegen, hat das kleinere Land zwischen Ozean und Anden die fragwürdige Ehre, den Kartellen ein schönes Zuhause zu sein. Die Kartelle und die von ihnen beförderte Korruption hatten die Regierung seit Jahrzehnten fest im Griff, bis zur Präsidentschaftswahl von 2062. Eine Zusammenarbeit der katholischen Kirche, der Eingeborenenverbände und des größten Teils der Bevölkerung, die sich faire Wahlen und eine Regierung wünschten, die wirklich die Interessen des Landes vertritt, sorgte dafür, dass der charismatische Ork Fernando Monasterios an die Macht kam. Seit drei Jahren wird in Politik, Militär, Polizei und Bürokratie aufgeräumt, und niemand weiß, wie lange sich die Syndikate das noch gefallen lassen werden – oder warum es noch zu keinem Unterweltkrieg mit den Behörden kam.

Die „Karibische Liga“, in die es danach geht, klingt zwar nach Sonnenschein und Palmen, ist allerdings ein Verband von Piraten. Oder, wie es offiziell heißt, von den Regierungen der karibischen Inseln. Da diese Regierungen jedoch von jenen gestellt werden, die die Macht haben, sie sich zu nehmen, und da keine der angeschlossenen Inseln verpflichtet ist, die auf der Versammlung beschlossenen Gesetze umzusetzen … nun, ihr versteht schon. Der Vorteil eines Gebietes, das von Kriminellen verwaltet wird, ist die Möglichkeit, sich vor der Polizei anderer Länder zu verstecken – selbst Interpol ist in der karibischen Liga nicht vertreten. Allerdings sind die Machthaber dafür auch nicht gerade zimperlich, wenn ihnen jemand in die Quere kommt – und sie kennen alle guten Verstecke. Vorgestellt werden auch die wichtigeren beziehungsweise größeren Inseln: die Bahamas, Borinquên, Kuba, die Dominikanischen Territorien, Haiti, Jamaika, Südflorida und Trinidad.

Der nächste Halt führt uns nach „Peru“. Das Land ist politisch entzweit: Auf der einen Seite herrscht die Zentralregierung in Lima über die Ballungszentren, allerdings nur mit Hilfe der Armee und ihrer Megakonzern-Herren aus Japan. Auf der anderen Seite stehen der „Leuchtende Pfad“, eine Neo-Komunistische paramilitärische Gruppe, die mit Waffengewalt Teile des Landes kontrolliert, und die „Andes Ahora“, eine politische Partei, die die großen Berggebiete und die Bevölkerung dort gegen die Zentralregierung eint. Lange wurde die Zentralregierung von Truppen aus Japan unterstützt, die nach dem „Jahr des Feuers“ jedoch zurückgezogen wurden, um beim Wiederaufbau Japans zu helfen. Auch in Peru richteten die Erdbeben Verwüstungen an, und die aktuelle Schwäche der Regierung bringt die Revolution von allen Seiten und auf alle Arten voran.

Zum Abschluss des Bandes werden „Ecken und Winkel“ des Kontinents, die noch nicht näher betrachtet wurden, genauer vorgestellt. Als da wären: Caracas, das nach dem Zusammenbruch Venezuelas nun eine freie Stadt voller Flüchtlinge in der Hand von Verbrecherfamilien und Genforschungs-Laboren der Konzerne ist. Französisch-Guayana, eine Enklave Frankreichs – und damit Europas – in Südamerika, mit den Weltraumbahnhöfen Cayenne und Kourou. Die Panamalkanalzone, dessen Gebiet und Handelsaufkommen von den Konzernen kontrolliert wird, nachdem sie Atzechnology zwangen, das Gebiet wieder abzugeben. Paraguay, das massiv auf umweltfreundliche Technologien, nachwachsende Rohstoffe und alternative Energiegewinnung setzt und damit ein natürlicher Verbündeter Amazoniens ist – und ein Testgebiet für neue Technologien der Konzerne aus dem Umweltbereich. Der Autonome Staat Yucatan, der nach dem Unterzeichnen des Friedensvertrags zwischen Atzlan und den Rebellen langsam im Chaos versinkt, da der „Geisterkrieg“ zwischen toxischen und Naturgeistern den Dschungel beherrscht, und Unternehmen aus Atzlan beim Wiederaufbau der Städte helfen – nicht unbedingt zur Begeisterung der Bevölkerung.

Der Quellenband endet mit dem Kapitel „Spielleiterinformationen“. Hier werden Critter, Pflanzen, Substanzen und (2064) aktuelle Metaplots vorgestellt, Abenteuer- und Kampagnen-Ideen geliefert und die einzelnen Länder aus Spielleitersicht für die Darstellung am Spieltisch und mögliche Auswirkungen auf die Runner kurz beleuchtet, wie Grenzeinrichtungen, Modifikationen auf Fähigkeiten und Würfelproben der Charaktere durch Höhenluft, Umweltverschmutzung und ähnliches.

Das Lesen dieses Quellenbandes ist sehr unterhaltsam. Spielleiter, die die hier vorliegenden Informationen nutzen wollen, müssen sich allerdings vergegenwärtigen, dass die geschilderten Ereignisse, Machtgruppen und Personen in der aktuellen Spielwelt 16 Jahre und einen Matrixcrash zurückliegen, ehe sie am Spieltisch eingebracht werden. Selbst die Orte beziehungsweise ihre Zugehörigkeiten haben sich in dieser Zeit teilweise geändert. Das sollte allerdings niemanden davon abhalten, einen Blick in die Vergangenheit und auf einen Kontinent zu werfen, der im Moment – außer in kurzen Nachrichten – wenig Aufmerksamkeit erfährt. Abseits also der in der deutschsprachigen Rollenspielszene, auch und gerade durch die entsprechend verorteten Publikationen, hauptsächlich betrachteten Runner-Hotspots Nordamerika/Seattle und Europa/ADL gibt es hier ein neues, großes Gebiet zu entdecken und zu bespielen. Auch die Bilder, Zeichnungen und Kommentare der Runner im Text passen perfekt zum Shadowrun-in-Lateinamerika-Hintergrund und machen es leicht, sich auf dieses „neue“ Gebiet einzulassen.

Fazit: „Shadowrun“ lebt. In den Köpfen derjenigen, die diese Welt bespielen und beschreiben, trifft das sicherlich zu. Und die kostenfreie Veröffentlichung eines Quellenbandes, dessen Material erstmals 2011 offiziell freigegeben wurde und nach jahrelanger Arbeit nun als Fanprojekt in professioneller deutscher Übersetzung vorliegt, beweist das wieder einmal. Es gibt nichts zu verlieren; werft also einen Blick auf „Lateinamerika in den Schatten“.

Lateinamerika in den Schatten (Fanprojekt)
Quellenbuch
Peter Taylor, Tobias Grunow (Hrsg.), Nadja Sommerfeld (übers.)
Selbstverlag 2018
ISBN: n.a.
162 S., PDF, deutsch
Preis: EUR 0,00

Zu finden unter: spaceneedle.de/lateinamerika-in-den-schatten/