Kingdom Rush – Riss in der Zeit

In allen Ecken und Winkeln eines imaginären Landes öffnen sich Portale, und nichts Gutes ist von ihnen zu erwarten. Beinahe unendliche Monsterströme ergießen sich in die friedlichen Lande, und plötzlich stehen die alten Helden einem Feind gegenüber, den sie schon lange besiegt hatten. Es ist Zeit, neue Türme zu errichten und die Pfeilspitzen zu schärfen.

von KaiM

Der böse Vez’nan schickte einst seine Truppen, um Linirea zu erobern. In zahlreichen Schlachten wurden tausende von Monstern auf die Menschen losgelassen, um das Königreich zu erobern. Nur den tapferen Helden und mächtigen Verteidigungstürmen war es zu verdanken, dass der Dämon abgewehrt werden konnte. Doch damit nicht genug. Der General beschloss die Höllenhorden zu verfolgen und den heimtückischen Eroberer schließlich zu stellen, um ihn ein für alle Mal zu vernichten. So geschah es dann auch und vorerst kehrte Ruhe ein. Doch war diese nicht von Dauer und noch viele weitere Gefahren mussten abgewehrt werden, bis alles Böse schließlich besiegt zu sein schien.

Doch manchmal ist die Zeit selbst der Feind. Denn nachdem nun über lange Jahre nur Frieden herrschte, konnte sich die nächste böse Macht emporarbeiten und beginnt nun die Monster aus der Vergangenheit zu holen. Überall in der Welt entstehen Portale und aus ihnen strömen, wie damals, unendlich viele Schrecklichkeiten. Doch die Magier und Ingenieure des Reichs sind nicht weniger begabt als früher. Sie können die Verteidigungsanlagen mit ihrer Kraft und Technik nun überall dort einsetzen, wo sie gebraucht werden. Linirea kann es also vielleicht schaffen, sich zu verteidigen, obwohl viel weniger Türme zur Verfügung stehen als früher. Zum Glück sind die Helden ebenfalls noch immer da und werden auch wieder kämpfen, um die Zeitmagierin, den neuen Feind, zu stoppen.

Dieses Spiel bedient sich der Vorlage von „Kingdom Rush”, einem sehr erfolgreichen Smartphonespiel aus dem Hause „Ironhide”. Der Brettspielverlag „Lucky Duck Games”, der schon viele digitale Hits als Brettspiel adaptiert hat, brachte das Spiel heraus, dessen deutsche Lokalisierung im letzten Jahr in einer Kampagne der Spieleschmiede von vielen Fans vorfinanziert wurde. Seit Anfang 2021 wird das Spiel nun ausgeliefert und ist auch direkt beim Verlag verfügbar.



Das Spiel verspricht eine Kampagne mit zehn Missionen, verschiedenen Schwierigkeitsgraden und zusätzlichen Herausforderungen. Nach und nach kommen Regelergänzungen und zusätzliche Materialien ins Spiel, um die Abwechslung zu erhalten. Außerdem bietet der Modus „Portalsturm” noch Herausforderungen, wenn die Kampagne bereits abgeschlossen wurde.

Das Spiel ist mit 1 bis 4 Spielern ab 14 Jahren und in 60 bis 90 Minuten spielbar. Aufgrund des voll kooperativen Charakters des Spiels sind auch jüngere Kinder am Tisch nicht überfordert, und auch wenn jedes Spiel ja irgendwie eine Schlacht und ein Gemetzel darstellt, ist dies doch alles abstrakt und niedlich genug, um auch mit Acht- oder Zehnjährigen zu funktionieren. Eine Spielzeit von 90 Minuten geht vielleicht gerade so noch in Ordnung, aber insbesondere mit Auf- und Abbau kommt man damit bei Weitem nicht hin. Zwei Stunden sollte man für eine Partie schon einplanen, selbst wenn man regelfest ist.   

Das Material

Davon gibt es wirklich jede Menge.

Da in diesem Kampagnenspiel jedes Szenario anders aussieht, wird der Plan aus 18 verschiedenen, beidseitig bedruckten Spielplanteilen zusammengefügt. Die Heerscharen des Bösen werden aus 91 Horden- und Portalkarten individuell zusammengestellt. 18 transparente Karten markieren die Bauplätze der Türme, worauf die Spieler einige der 44 Turmkarten platzieren können, die neben dem Spielplan ausgelegt werden. Für die verschiedenen Bosse gibt es jeweils zusätzliches Material, wie Karten und Miniaturen, das nur im entsprechenden Szenario zum Einsatz kommt.



Nun haben wir uns aber genug um die Gegner gekümmert, jetzt sind die Helden dran, von denen insgesamt fünf zur Verfügung stehen. Schöne Nebensache: Ein Held darf gar nicht von Anfang an genutzt werden, sondern wird erst im Rahmen der Kampagne freigeschaltet. Jeder Spieler bekommt die sehr schöne Miniatur seines Helden und ein Heldentableau. Dieses zeigt nicht nur alle vordefinierten, einzigartigen Fähigkeiten, es hilft auch, den Rest des Materials zu verwalten. Zu jedem Helden gehört schließlich auch noch eine Heldenkarte, vier der 20 Spezialfertigkeitsplättchen, eine Spielhilfe, ein Marker für die Spielerfarbe und natürlich einige der insgesamt 176 Schadensplättchen.

Und als wäre das noch nicht genug, gibt eine Landkarte, die die verschiedenen Level der Kampagne abbilden und dazugehörige Stickerbögen, mit denen man den eigenen Grad des Erfolgs festhalten kann (denn jeder Level kann auf 5 verschiedenen Schwierigkeitsgraden gespielt werden). Außerdem gibt es auch noch Material für den „Portalsturm”.

Man merkt schon an dieser Auflistung, mit welcher Flut an Dingen der Spieler zu tun hat. Alleine der Aufbau des Spiels ist eine Wissenschaft für sich. Zwar ist das Inlay an sich gut organisiert, aber damit allein ist es eben nicht getan. Der Aufbau nimmt dennoch einige Zeit in Anspruch.

Intermezzo – Die Regelbücher

Für den Spielaufbau benötigt man das Szenarienheft. Jeder Level hat seinen eigenen Aufbau, einen kleinen, stimmungsvollen Einleitungstext und gegebenenfalls Sonderregeln. Alles ist stimmig, übersichtlich und gut gemacht, aber man muss eben ein wenig Zeit mitbringen, bevor man wirklich loslegen kann. Bestenfalls hat sich einer der Teilnehmer schon ein wenig vorbereitet und kann die anderen Spieler durch den Aufbau und die Sonderregeln leiten.



Das gilt im Übrigen für die gesamten Regeln, denn diese sind zwar verständlich geschrieben, aber teilweise ein wenig unübersichtlich strukturiert. Um Spoiler zu vermeiden, sind bei den Grundregeln keine der Zusätze zu finden, die im Laufe der Kampagne ergänzend hinzu kommen. So weit, so gut. Ist man aber auf der Suche nach Details, findet man die Regeln nicht immer dort, wo man sie vermuten würde. Daher hat es ein paar Partien gedauert, bis wir fehlerfrei durch die Level gekommen sind. Positiv hervorzuheben sind die gut gestalteten Beispiele zur Veranschaulichung sowie das Glossar und die Übersicht über die Spezialfertigkeiten am Ende des Regelbuches, wo man einiges bei Bedarf direkt nachschlagen kann.

Im Spielablauf helfen die aufgedruckten Zusammenfassungen auf den Spielertableaus und den extra Spielhilfekarten.

Das Material – Reprise

Ansonsten ist am Material nicht viel auszusetzen, ganz im Gegenteil. Das Problem der zu bewegenden Puzzleteile auf dem Spielbrett wurde durch Trägerplatten gut gelöst, mit denen man die Monsterkarten und alle darauf befindlichen weiteren Plättchen über das Spielfeld schiebt. Alles machten einen stabilen und wertigen Eindruck. Besonders grandios ist die konsequente Umsetzung der digitalen Variante in Sachen Grafik und Design. Von den schlichten, aber sehr schönen Miniaturen über die Charakter-, Boss- und Monstergrafiken bis hin zu den Puzzleteilen sieht alles wunderschön aus und ist sehr stimmig umgesetzt. Natürlich sind eben diese Puzzleteile ein wenig fummelig in der Handhabung, aber in unseren Spielrunden sind wir damit gut klar gekommen.  Die Tischpräsenz* des Spiels ist super, hätte aber auch nicht viel epischer ausfallen dürfen.

Das Thema Präsenz führt mich dann auch zum letzten Punkt in Sachen Material, denn die Präsenz im Spieleschrank ist ebenfalls nicht von schlechten Eltern. Die quadratische Basis ist immerhin noch in den in denselben Standardmaßen wie ein „Dominion” oder „Catan”. Aber man benötigt fast drei dieser Boxen, um auf dieselbe Höhe zu kommen. Das mag erstmal nicht verwundern, wenn man die weiter oben aufgezählte Materialschlacht bedenkt. Aber leider ist die Box alles andere als optimiert. Man wundert sich nicht schlecht, wenn man die Box das erste ?al öffnet und feststellen muss, dass darin ein Abstandhalter aus Pappe eingelegt hat, der satte 30% der Box mit Luft ausfüllt. Ich kann diese Entscheidung gewissermaßen nachvollziehen, denn die im Rahmen der Kickstarterkampagne kaufbaren Deluxekomponenten oder auch die zahlreichen Erweiterungen sollen ja schließlich auch noch Platz finden. Das Problem einer überdimensionierten Box wurde schon sehr häufig diskutiert und in den meisten Fällen neige ich dazu, die Verlage in Schutz zu nehmen. Aber hier wurde der Bogen doch etwas überspannt.    
 
*Wie ich finde ist Tischpräsenz ein wunderbares Wort, das mir schon seit einiger Zeit vollkommen natürlich vorkommt. Ich musste nun feststellen, dass dieser Begriff anscheinend fast nur in der Brettspielszene und manchmal im Bridge auf andere Art und Weise verwendet wird. Aber er ist nunmal ein wunderbares Wort dafür, wie ein Spiel im aufgebauten Zustand auf die Spieler wirkt.
 
Das Spiel – Die App – Die Unterschiede

Jedes Tower-Defense-Spiel lebt davon, dass Heerscharen von Monstern, Kreaturen, Aliens, Soldaten, Bakterien oder was auch immer auf das Spielfeld strömen, einem mehr oder weniger festen Pfad folgen und niedergemacht werden müssen, bevor sie das Feld wieder verlassen können. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass sich der Leser mit dem Spielprinzip grundsätzlich auskennt, denn die App-Vorlage „Kingdom Rush“ unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen Apps dieser Art, und es würde zu weit führen, die App an dieser Stelle auch noch im Detail vorzustellen.


 
Hat man sich eine Weile mit der App auf dem Smartphone oder Tablet beschäftigt, ist man gewohnt, alles im Auge zu behalten. Viele Dinge passieren gleichzeitig, und vernachlässigt man einen Teil des Spielfeldes, wird das schnell und schmerzhaft bestraft. Ständig muss man seinen Helden in eine geeignete Position bringen, mit den Turmaufwertungen auf neue Monsterströme reagieren oder Soldaten neu platzieren. Hektische Klickerei ist dabei an der Tagesordnung und die Partien, die durchaus 20 bis 30 Minuten dauern können, sind manchmal beinahe anstrengend.

Wer sich dieses Spielerlebnis von der Brettspieladaption erhofft, den muss ich leider enttäuschen. Denn anders als die App handelt es sich hier um ein waschechtes Puzzlespiel. Die Monster strömen zwar auch auf den Spielplan, aber eben rundenbasiert, und die Spieler haben die Gelegenheit, sich in aller Ruhe zu überlegen, mit welchen Aktionen die Flut in den Griff zu bekommen sein könnte. Kooperativ, ohne Kommunikationsbeschränkungen und ohne feste Zugreihenfolge können alle gemeinsam versuchen, das Puzzle zu lösen und sich optimal auf den nächsten Zustrom der widerlichen Hordenmassen vorzubereiten. Das macht Spaß und ist wunderbar kommunikativ, fördert aber auch das Alphaspielerproblem. Es gibt keinerlei versteckte Informationen, und somit kann ein einzelner Spieler für alle die Planung erledigen, die dann zu Ausführenden degradiert werden.

Ansonsten sind aber die asymmetrischen Charakterfähigkeiten, die Monster mit ihren eigenen Eigenschaften und auch die unterschiedlichen Türme und sogar ihre Spezialisieruingen sehr schön von der App in das Brettspiel überführt worden.      

Das Spiel – Wie funktioniert es denn nun?


Jeder Spieler übernimmt einen Helden. Dieser bewegt sich über die Felder und kann Monster angreifen, indem er sich auf den Feinden platziert. Diese werden wiederum in Form von Karten auf dem Spielfeld platziert und jede Runde, sofern die Monster auf einer Karte nicht vollständig ausgelöscht werden, ein Stück in Richtung Ausgang verschoben, wo sie keinesfalls ankommen sollten. Denn jedes Monster fügt unserem Königreich Schaden zu, wobei wir verlieren, sobald wir zu viel Schaden erhalten haben. Somit ist es unsere Hauptaufgabe, die vorrückenden Monster zu stoppen. Jede Karte kann dabei bis zu mehreren dutzend Monster mit sich bringen, sodass ein Held alleine nicht ausreicht, um die Gefahr abzuwenden.

Für bessere Monsterabwehr hat jeder Recke nicht nur Spezialfertigkeiten, die im Laufe der Kampagne immer mehr werden, sondern vor allem auch Bauplätze unter seiner Kontrolle. Diese kann er mit Türmen verschiedener Art bebauen, die ihm jede Runde zur Verfügung stehen. Die Grundmechanik erinnert dabei stark an andere Spiele, wie „Patchwork”, „Ein Fest für Odin” oder auch das neue, populäre „Insel der Katzen”, denn wir legen an „Tetris” erinnernde Teile auf die Monsterkarten, die einzelne Kreaturen überdecken und somit besiegen. Sind alle Kreaturen einer Karte von einem Teil oder einer Heldenfigur bedeckt, gilt die Karte als besiegt, kommt aus dem Spiel und gibt eine Belohnung, die man in weitere Abwehrtürme investieren kann.



In diesem Sinne kommt das Brettspiel dem Original sehr nahe, denn die Türme und die Helden haben alle verschiedene Fertigkeiten, die es optimal zu nutzen gilt. Im Verlauf einer Partie bekommt man auch die Möglichkeit, seine Türme aufzuwerten und mächtiger zu machen. Dabei sind nicht nur die Turmarten sondern auch deren Upgrades und die möglichen Spezialisierungen wirklich gut umgesetzt. Jeder Turm hat sein Vorzüge, und die Entscheidungen, die es dabei zu treffen gibt, machen eine Menge Spaß. Besonders schön finde ich, dass man eine Aufwertung für einen Turm bekommt, wenn man ihn in einer Runde nicht einsetzt. So ist man ständig in der Überlegung, ob man lieber in die Zukunft investiert oder aktuelle Gefahren abwehren möchte.

Etwas schwierig empfinde ich, wie der Einsatz der Türme gelöst wurde. Denn diese werden jede Runde gebaut und am Ende wieder abgerissen, damit man sie in der folgenden Runde wieder neu aufbauen kann. Das macht spielerisch eine Menge Sinn und auch thematisch hat man sich an einer Erklärung versucht. Das hat mich allerdings wenig überzeugt und ich musste diesen Widerspruch erst einmal überwinden.

Fazit: Ein einziges Fazit zu ziehen, scheint mir nicht genug zu sein. Denn einem Fan der App, ohne Affinität zu Brettspielen, würde ich zur Vorsicht raten. Zu groß ist der Unterschied zwischen App und Brett in Sachen Tempo. Einem versierten Brettspieler mit einer gewissen Affinität zu digitalen Spielvergnügen hingegen würde ich das Spiel durchaus ans Herz legen. Bleibt noch die Gruppe der erfahrenen Familienspieler. Ihnen würde ich raten, die Regeln vielleicht nicht zu genau zu nehmen und lieber mal etwas falsch zu machen, als sich im Regelstudium zu verlieren und die ohnehin ordentliche Spieldauer noch weiter zu verlängern. Wenn man sich einfach an der Kampagne und den schönen Kombos im Spiel erfreut, kann man hier jede Menge Spaß haben.

Kingdom Rush
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 12 Jahren
Jessey Wright, Helana Hope, Sen-Foong Lim
Lucky Duck Games / Spieleschmiede 2021
EAN: 7108448558954
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 59,99

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