Jenseits des Karussells

Gleich im Prolog wird klar, dass in München zur Mitte des 19. Jahrhunderts Kräfte am Werk sind, die im besten Fall unerklärlich sind. Glücklicherweise gibt es Zirkel, die um die Gefahr wissen. Und da sind auch noch die Nachfahren der Protagonisten von „Obsidianherz“, die unvermittelt Teil einer unfassbaren Realitätsalternative werden, in welcher es die Menschheit zu retten gilt.

von Lars Jeske

Im Prolog von „Jenseits des Karussells“ unterhalten sich zwei übergeordnete Wesenheiten miteinander, die ein paar Menschen, eigentlich die gesamte Menschheit, als Spielwiese betrachten. Erneut dürstet es einem dieser Wesen danach, mit und unter den Menschen Spaß zu haben. Dafür erwählt es München im Jahre 1867. In diversen Frauenzirkeln wird allenthalben diese seltsame „Verschiebung der Macht“ wahrgenommen, wenngleich diese nicht genau eingeordnet werden kann. Die Wächterinnen, welche sonst immer im Hintergrund bleiben, sind nun besonders aufmerksam und gewarnt, da sich Großes anbahnt.

Heuer konzentriert sich die Handlung somit auf die bereits bekannten Ian McMullen, Orvens und Graf Arpad, sowie die neuen Figuren Thorolf Treynstern, einem Sohn von Sophie sowie Catrin Lybratte. Vor allem Letztere bringt die aktuellen Ereignisse ins Rollen. Ihre Stiefmutter scheint ihren Vater immer mehr zu beeinflussen und hat eine beinahe magische Aura, um Catrins Leben zum Schlechteren zu wenden. Ebenso schottet sie ihren Vater vom Leben und seiner Tochter ab und betört zudem alle Männer wie eine Bienenkönigin. Als Catrin hinter das Geheimnis ihrer Stiefmutter kommt und zudem erfährt, dass ihr Vater nur als Marionette bei einer großen Verschwörung dient, will sie ihn warnen und fliehen. Auf der Flucht lernt sie eine neue Seite an ihrem Wesen kennen und wird des Risses in ihrem Realitätsverständnis gewahr. Gibt es wirklich eine Bedrohung für die gesamte Welt oder war alles nur Einbildung?

Das Buchcover von „Jenseits des Karussells“ zeigt neben einer überlebensgroßen Spinne im Hintergrund das titelgebende Karussell. Dieses ist hierbei jedoch nur figurativ als „Karussell des Lebens“ zu sehen, was der Erwartungshaltung des Lesers (vor allem mit entsprechendem Vorwissen) jedoch entgegenkommt, wenn nicht sogar entspricht. Denn „Jenseits des Karussells“ ist die lose Fortsetzung von Ju Honisch zu „Obsidianherz“ und dem Doppelband „Salzträume“. Der Klappentext weist den Roman als die Abenteuer der nächsten Generation der damaligen Handlungsträger aus. Viel mehr als diesen losen Kontakt und das ungefähre Setting gibt es dann auch nicht. Die Namen sind größtenteils neu, wenn es überhaupt welche gibt. Auf den ersten fünfzig Seiten fällt es recht schwer, den Einstieg zu finden, denn viele Dialoge werden ohne Namen und Anrede geführt. Optische Charakteristiken und menschliche Verhaltensweise werden jedoch gekonnt benutzt, um dem Leser minimale Anhaltspunkte zu geben, wer hier mit wem spricht. Es bleibt dennoch nebulös bis mysteriös, was die diversen Damenzirkel besprechen und wie sie sich in das gesamte Geschehen einmischen.

Selbst im weiteren Verlauf wäre man ohne das vorangestellte Personenregister „Personale de Dramatis“ weitgehend verloren. Erst nach und nach gibt es eine erste Einführung aller Charaktere an deren jeweiligen Handlungsorten. Somit muss der Leser nicht nur die unabhängigen Handlungsstränge – von denen es genügend gibt – am Anfang auseinanderhalten, sondern auch noch die gefühlten drei Dutzend Personen differenzieren. Dadurch ist der Einstieg bedeutend schwerer als notwendig. Erst nach 100 Seiten kommt man langsam in der Handlung an und kann die übrigen 700 Seiten genießen. Viel später wird einem klar, warum das Buch so anfangen konnte beziehungsweise sogar musste. Somit erntet die Autorin nachträglich Anerkennung für diesen klugen strukturellen Aufbau, deren indirekte Begründung man so gar nicht mehr erwartete. Mit dem Fortschreiten der Handlung werden selbstverständlich immer mehr Motive offenbart und beim Finale kann man dadurch gut mit den Protagonisten mitfiebern. Auf dem Weg dahin geht es nicht minder mystisch zu als bei den drei vorangegangenen Romanen.

Mir persönlich war das Buch etwas zu lang, ohne es konkret an etwas festmachen zu können. Die Personen müssen natürlich alle erst einmal vorgestellt und in die Handlungen eingebettet werden, was etwas Platz bedarf. Auch ergeben erst nach und nach die einzelnen Szenen ein Gesamtbild, was das Buch künstlerisch umso wertvoller werden lässt. Ein schöner Kunstgriff ist es dabei, die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, um so Handlungsstränge zu verflechten. Ebenfalls positiv auffällig ist, dass für „Jenseits des Karussells“ endlich die neue deutsche Rechtschreibung – die schon seit Jahren obligat ist – verwendet wird. Wenngleich es egal sein sollte, ist es eine Wohltat, nicht immer hin- und hergerissen zu sein und sich dadurch von der eigentlichen Handlung ablenken lassen zu müssen.

Fazit: „Jenseits des Karussells“ setzt für das bessere Verständnis etwas Wissen aus den Vorgängerbüchern voraus, hat aber von der Handlung her wenig damit zu tun. Das obligatorische Steampunksetting wird von der Idee, die Welt von außerhalb der bekannten Realität zu steuern, unterfüttert. Die Personen sind glaubwürdig und wenn man sich auf die Geschichte einlässt, bietet der Roman überaus kurzweilige Unterhaltung. Vor allem das Ende überzeugt.


Jenseits des Karussells
Urban-Fantasy-Roman
Ju Honisch
Feder&Schwert 2010
ISBN: 978-3-86762-077-2
832 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 16,95

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