Intruders – Encounters with the Abyss

Es ist die „Abyss“, die die gefallene Welt von der übernatürlichen Welt trennt. Es ist die „Abyss“, die das Wirken vulgärer Magie riskant und unüberlegt werden lässt, denn jedes Paradox vergrößert dieses dunkle Reich. Und an den Orten, an denen der „Gaunlet“ besonders schwach ist oder geschwächt wurde, schaffen es manchmal Manifestationen, in unsere Realität zu dringen und ein Stück unserer Wirklichkeit für sich zu beanspruchen. „Intruders – Encounters with the Abyss“ ist ein Begegnungsband ganz besonderer Qualität und ein Quellenband für „Mage“, der Freude beim Lesen bereitet.

von Nicolas Hohmann

 

Äußerlich hervorragend gearbeitet, wurden dem 224 Seiten starken Quellbuch ein schönes Cover und ein stabiler Einband gegönnt. Die Innenabbildungen sind, wie ich zur Abwechslung vermelden kann, von guter bis sehr guter Qualität; man hat sich hier enorm gesteigert. Das verwendete Papier ist stabil und griffig. Handwerklich stimmt die gebotene Leistung.

Inhaltlich beginnt das Buch wie gewohnt mit einer einführenden Kurzgeschichte, die zehn Seiten umfasst. Sie nennt sich „The Storyteller“ und handelt von einem Magus namens Fox, welcher in Gestalt eines Fuchses einem kleinen Jungen Fabeln und Märchen erzählt, die allesamt recht seltsam sind. Zwischendurch bekommt man immer mal wieder mit, dass etwas mit den Eltern und der Stadt des Jungen nicht stimmt. Am Ende erfährt man dann, dass die Geschichten im Geist des Jungen als Waffe gegen eine Manifestation der Abyss gedacht sind – ungewöhnlich, aber für den gesamten Band den Ton angebend, denn hier erhält man einige ungewöhnliche Geschichten präsentiert.

Es folgt die Doppelseite „Einführung“ welche uns auf den Sinn und Zweck des Buches hinweist sowie einige Quellen und weiterführende Literatur angibt. Hier findet man auch die Regeln zur Recherche über die übernatürlichen Phänomene und Manifestationen aus der Abyss.

Es schließt sich ein 30-seitiges Kapitel namens „Otherworldly Dread“ an, welches Spielleitertipps anbietet, wie man als Erzähler nun eine solche Chronik, die sich um eine spezielle Manifestation dreht, erschaffen und leiten kann. Dabei werden einem zunächst Tipps gegeben, was den Aufbau einer Chronik angeht: also erst ein paar Abende lang die Prodromalphase spielen, in der sich leichte Hinweise ergeben, dass etwas nicht stimmt, bis hin dann zur Konfrontation mit der Manifestation selbst. Dann folgen Ratschläge wie man die Atmosphäre in einer solchen Abyss-zentrierten Chronik aufbauen kann. Insgesamt ist das Kapitel natürlich recht allgemein gehalten – spezieller wird es im folgenden Abschnitt –, aber durchaus nützlich.

Warum geschieht dies? Wie ist die Reaktion von involvierten Normalsterblichen? Welche Bedeutung hat die Abyss im metaphysischen Überbau von „Mage: The Awakening“ und welche Rolle spielt sie unter den Magi? Wie viel Wissen ist überhaupt allgemein zugänglich, wer hat Geheimwissen? Dies alles sind Fragen, die man sich zumindest durch den Kopf gehen lassen sollte. Und mit seinen 30 Seiten wird es auch nicht ausufernd, bis man dann zum Kern des Bandes vordringt, nämlich einer Beschreibung von 24 verschiedenen Manifestationen der Abyss auf jeweils fünf bis zehn Seiten.

Jede Beschreibung einer Entität aus der Abyss wird zunächst mit einem kleinen stimmungsvollen Inplay-Text eingeleitet. Es folgt die Form, die das Wesen beziehungsweise Phänomen in unserer Welt annimmt und die Regeln, nach denen es in unsere Welt eindringen kann. Denn natürlich ist nur unter bestimmten Umständen und bei bestimmten Taten der Weg aus der Abyss in die Gefallene Welt geebnet. Die Art und Weise wie das Phänomen sich entwickelt respektive die Kreatur sich verhält wird ebenso beschrieben wie die Möglichkeiten, die man als Magus oder auch als Sterblicher hat, dieses Wesen zu bannen.

Am Ende eines jeden Kapitels finden sich unter „Story Hooks“ noch drei kurze Vorschläge, wie man aus der Kreatur/dem Phänomen ein Abenteuer macht. Je nachdem worum es sich gerade handelt, weicht man natürlich flexibel von der gegebenen Struktur ab, manchmal werden Sonderregeln präsentiert, auch wenn das Buch angenehm regelfrei ist. Weiterhin ist zu erwähnen, dass jede Entität aus der Abyss eine Sonderspalte „Researching...“ hat, in der gestaffelt nach der Anzahl der Erfolge aufgeführt ist, welche genauen Informationen ein recherchierender Magus erhält – sehr praktisch. Um näher zu illustrieren, wie man sich solche Abyss-Phänomene vorzustellen hat, möchte ich auf drei der 24 beschriebenen Wesenheiten etwas näher eingehen.

Da wäre beispielsweise der „Abyssal Assistant“, ein kleines praktisches Werkzeug oder Utensil, das sich bei Erfindern, Wissenschaftlern und Ingenieuren manifestiert, die so weit in ihrer Arbeit aufgehen, dass sie zur Obsession wird. Das Gerät erlaubt dem Opfer die Erschaffung wirklicher technischer Wunderwerke, bei denen allerdings der Mechanismus nicht nachgebaut werden kann, da er irgendwie unverständlich bleibt – es gibt also meist nur einen Prototypen oder eine Kleinserie der entwickelten Geräte. Umso mehr Geräte unter dem Einfluss des „Abyssal Assistants“ gebaut werden, desto mehr beginnt er sich von der Obsession des Wissenschaftlers und seiner Lebenskraft zu ernähren. Ist das Phänomen vollständig ausgeprägt, beginnen sogar die Menschen um die erschaffenen Geräte herum die Auswirkungen zu verspüren.

Eine weitere solche Erscheinung ist die „Harper Family“ – eine weit verbreitete Sippe, die ihre Wurzeln in der Town of Harper hat, wo sie fast alles besitzt. Die Familienmitglieder sind sehr tüchtig und darüber hinaus von einem gewissen unheiligen Glück gesegnet, sodass die meisten ihrer Unternehmungen und Investitionen gelingen. Einige Kinder der Familie Harper sind besonders, nicht alle, nicht mal die meisten, aber so einige in jeder Generation. Sie haben pechschwarzes Haar, werden mit Milchzähnen geboren und haben alle ein anderes körperliches oder seelisches Gebrechen. Man sagt sie haben das Blut des Eides des Verderbens und laut Gerüchten soll Furchtbares geschehen, wenn eines Tages sich genug verfluchte Mitglieder der Familie an einem Ort treffen.

Eine weitere Erscheinung aus der Abyss wäre der „Temple of Zhanak Khan“ – ein geisterhaftes Phänomen in Textform, geschrieben von einem Horror-Autor der 1930er Jahre, welcher nur in seinen Träumen zum Magus erwacht ist und erschienen als Kurzgeschichte im „Weird Tales Magazine“. In den Bann des Tempels bringt man sich durch verschiedene Umstände, wie dem exzessiven Konsum von Internetpornographie, dem Leben im Zölibat oder eben der Lektüre der gleichnamigen Kurzgeschichte. Alle Betroffenen beginnen von dem Tempel zu träumen, jeden Tag gelangen sie ein bisschen tiefer hinein und können weitere Räume erforschen. Der Tempel ist ein Paradies der fleischlichen Lust, jeder Wunsch wird erfüllt. Doch jeder, der sich diesen sehr real wirkenden Gelüsten hingibt, für denen verlieren die sozialen Konventionen in unserer Welt mehr und mehr an Bedeutung, sodass das Opfer langsam der Dekadenz anheimfällt und moralisch-seelisch verfällt.

Fazit: Keine der 24 Erscheinungen aus der Abyss enttäuscht, sie unterscheiden sich sehr stark und sind allesamt kreativ und interessant. Die Lektüre des Quellbandes war zu keinem Zeitpunkt langweilig und jede Seite gibt einem eine neue Idee für ein Abenteuer oder eine Szene. Die inhaltliche Qualität des Bandes ist sehr hoch, sodass ich dieses Buch neben dem Grundregelwerk und dem „Boston Unveiled“-Band zu den Essentials und Must-Haves des Spiels zähle und jedem Erzähler nur zum Kauf raten kann. White Wolf in Höchstform, also zugreifen!

Intruders – Encounters with the Abyss
Quellenbuch
Bill Bridges, Jackie Cassada, Rick Chillot u. a.
White Wolf 2007
ISBN: 1588464318
224 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 31,99

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